# taz.de -- Kaum Krawalle in Berlin: Alles neu macht der Mai | |
> Am 1.Mai gab es so wenig Gewalt wie lange nicht mehr - der vorläufige | |
> Höhepunkt einer längeren Entwicklung. | |
Bild: In Berlin-Kreuzberg musste am Abend dann doch noch das eine oder andere F… | |
Fünf Demonstranten stehen vermummt vor einem Trupp gepanzerter | |
Bundespolizisten. Sie beschimpfen die Beamten. Aus dem Demonstrationszug | |
fliegt ein Farbbeutel auf sie, der sein Ziel nur knapp verfehlt. Ein | |
anderer Demonstrant mischt sich beschwichtigend ein: "Lasst euch doch nicht | |
von den Bullen provozieren", sagt er. Die Demonstranten ziehen weiter. | |
Obwohl die jungen Männer zumindest gegen das Vermummungsverbot verstoßen | |
haben, greifen die Polizisten nicht ein. | |
Was vor wenigen Jahren noch die berühmten Mai-Krawalle in Berlin-Kreuzberg | |
ausgelöst hätte, lässt die Einsatzkräfte inzwischen kalt. Offenbar bewertet | |
die Polizei einen solchen Vorfall als vernachlässigbar und riskiert | |
deswegen nicht, dass die Stimmung umkippt. | |
Es sei gelungen, einen weitgehend friedlichen Ersten Mai in Kreuzberg zu | |
gewährleisten, bilanzierte denn auch am Freitag Berlins Polizeisprecher | |
Bernhard Schodrowski. Und tatsächlich: Während Hamburg am Donnerstag die | |
schwersten Maikrawalle seit Jahren erlebte, blieb es in Kreuzberg friedlich | |
wie nie zuvor in den vergangenen 21 Jahren. | |
Ein Grund könnte der Polittourismus einiger Berliner Autonomer sein. Etwa | |
150 von ihnen zählte der Berliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD), die | |
zu den Protesten gegen den Neonazi-Aufmarsch in Hamburg gereist waren. | |
Einer von ihnen ist Theo*, ein Endzwanziger, der früher zu Organisatoren | |
der Kreuzberger Mai-Demo gehörte. "Das politische Anliegen der sogenannten | |
Revolutionären 1.-Mai-Demo in Kreuzberg ist mir völlig unklar", sagt er der | |
taz. In Berlin gehe es allein darum, eine "linke Einheitsfront" zu zeigen, | |
die es in Wirklichkeit gar nicht gebe, weil die politischen Differenzen | |
viel zu groß seien. In Hamburg war für ihn die Lage anders: Da habe es | |
einen klaren Gegner gegeben und einen klaren Auftrag, nämlich die Nazi-Demo | |
zu verhindern. "Da ging es um was, und man konnte nichts falsch machen." | |
Hannes*, ein anderer Berliner Antifa gleichen Alters, ergänzt: "Wenn es die | |
Antifa-Demo in Hamburg nicht gegeben hätte, hätte ich mich in Kreuzberg | |
zurückgehalten. Das ist sinnlos und gefährlich." In Hamburg hingegen sei | |
die Militanz nicht von Betrunkenen ausgegangen, sondern von organisierten | |
Gruppen, die genau wüssten, was sie täten. | |
Doch damit dürften die beiden zu einer Minderheit in der Berliner linken | |
Szene gehören. Denn in Kreuzberg waren es 10.000, die in den frühen | |
Abendstunden an der "Revolutionären 1.-Mai-Demonstration" oder den anderen | |
politischen Aufzügen an diesem Tag teilnahmen. | |
Dieser Mentalitätswechsel ist keineswegs ein neues Phänomen, sondern | |
Ergebnis eines jahrelangen Prozesses. Daran mitgewirkt haben sowohl | |
Kommunalpolitiker und Polizei als auch Anwohner und Demonstranten. "Hier | |
hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass mit Gewalt kein Blumentopf zu | |
gewinnen ist, sondern Krawalle im Gegenteil zu einer Entpolitisierung des | |
1. Mai beitragen", bewertet der linke Politologe Peter Grottian diese | |
Entwicklung. Vor sechs Jahren hatte angeregt, der alljährlichen Randale ein | |
"politisches Straßenfest" entgegenzusetzen. Die Polizei sollte im Gegenzug | |
an diesem einen Tag dem Kiez fernbleiben. | |
Doch damals waren die Beteiligten noch nicht bereit. Die Polizeileitung und | |
der von CDU und SPD geführte Senat lehnten eine Zurückhaltung der Polizei | |
ab, viele Autonome wiederum bezeichneten Grottians Vorschlag als | |
Befriedungsstrategie. Unbekannte zündeten sein Auto an. | |
Doch bereits im darauffolgenden Jahr griff die Bezirksregierung die Idee | |
auf. Mithilfe der Anwohner organisierte sie das erste "Myfest". War bei | |
vielen Kreuzbergern viele Jahre lang so etwas eine mehr oder minder | |
klammheimliche Freude bei den Krawallen zu verspüren, wurde bei den | |
Vorbereitungen des Straßenfestes klar, wie viele Anwohner doch die Nase | |
voll hatten von den brennenden Autos und Mülltonnen vor ihrer Haustür. | |
Als Erfolg verbuchen können die Veranstalter des Myfestes, die vornehmlich | |
türkischen und arabischen Kreuzberger Jugendlichen, die in den letzten | |
Jahren stets an der Randale beteiligt waren, eingebunden zu haben. Viele | |
von ihnen trugen T-Shirts, die sie als Ordner zu erkennen gaben, die | |
übrigen amüsierten sich vor allem vor den zahlreichen Bühnen, allen auf dem | |
Hiphop-Jam in der Naunynstraße. | |
Möglich gewesen wäre diese Entwicklung nicht ohne den Wechsel der | |
polizeilichen Strategie. Fast über die gesamten Neunzigerjahre hinweg hatte | |
die Polizei durch ihre Einsatzstrategie oder durch Überreaktionen | |
maßgeblich zur Eskalation beigetragen. Noch im Jahr 2001 ließ der damalige | |
CDU-Innensenator Eckart Werthebach die Mai-Demo verbieten - und erntete | |
schwere Straßenschlachten. Sein Nachfolger Körting versuchte es hingegen | |
mit Deeskalation. Immer weniger waren es bepanzerte Robocops, die das | |
Straßenbild dominierten. Stattdessen zogen sogenannte Antikonfliktteams | |
durch Kreuzberg. Nur wenn die Situation tatsächlich zu eskalieren drohte, | |
griffen sich Polizeitrupps Einzelne heraus. Die Strafen fielen umso | |
saftiger aus. | |
Den großen Wandel läuteten die Demonstranten aber selbst ein: Versuchten | |
Kreuzberger Autonome viele Jahre lang, der Randale einen wie auch immer | |
gearteten revolutionären Zweck zuzusprechen, haben sich in den vergangenen | |
Jahren offenkundig immer weniger Leute aus der linken Szene daran | |
beteiligt. Jonas Lehnert von der Antifaschistischen Linken, die | |
federführend an der Organisation der abendlichen "Revolutionären | |
1.-Mai-Demonstration" beteiligt ist, begründet die geringere Massenmilitanz | |
offiziell damit, dass ja auch die Polizei nicht mehr stundenlang auf | |
Feiernde und Demonstranten einknüppelt. Aber auch bei Berlins größter | |
Antifagruppe war in den vergangenen Jahren zu beobachten, wie sie der | |
Gewaltrituale überdrüssig wurden und es ihr kaum mehr gelang, ihre | |
politischen Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen. | |
Um einen neuen Politikstil in der linken Szene bemühen sich die Aktivisten | |
der sogenannten Mayday-Parade. Mit ihren bunt geschmückten Wagen versuchen | |
sie nicht nur, eine weniger martialische Alternative zu den traditionellen | |
Umzügen zu etablieren. Ihnen geht es darum, die Veränderungen in der | |
flexibilisierten und prekären Arbeitswelt aufzugreifen und damit neue | |
Zielgruppen anzusprechen. Die Parade war die dritte in Kreuzberg, aber | |
sicher nicht die letzte. | |
Peter Grottian sieht in den Forderungen, die auf der Mayday-Parade | |
vorgetragen wurden, durchaus ein Zeichen einer Repolitisierung des 1. Mai | |
in Berlin. Aus seiner Sicht muss sich die außerparlamentarische Bewegung | |
jedoch auch fragen, was sie noch tun kann. "Die Krawalle dürfen nicht durch | |
eine Latschdemo mit netten Parolen ersetzt werden", findet Grottian. | |
Hannes hätte nichts gegen eine Repolitisierung. Doch er ist davon | |
überzeugt, dass es dafür notwendig wäre, aus Kreuzberg herauszugehen. Denn | |
spätestens mit dem "Myfest" sei kein politischer Inhalt mehr erkennbar. | |
Und noch etwas könnte dazu beigetragen haben, dass diesmal die Randale nach | |
der Demo weitgehend ausblieb: Um zu verhindern, dass leere Bierflaschen als | |
Wurfgeschosse benutzt werden, rief die Bezirksverwaltung dazu auf, die | |
Flaschen an eigens dafür hergerichteten Stellen abzugeben. Einen Euro für | |
zehn Flaschen zahlte der Bezirk; 24.000 Flaschen wurden dem Kreuzberger | |
Bürgermeister Franz Schulz zufolge eingesammelt. So trägt auch Hartz IV zum | |
Frieden in Kreuzberg bei. | |
*Namen geändert. | |
2 May 2008 | |
## AUTOREN | |
Felix Lee | |
Deniz Yücel | |
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