| # taz.de -- Ex-Dissident Petr Uhl über 1968: "Europa war plötzlich das unsere" | |
| > Petr Uhl sprach kürzlich in Berlin über den Aufbruch von 68 in Osteuropa | |
| > und die Missverständnisse über den Prager Frühling im Westen. Im | |
| > Interview schildert er, warum 68 nicht nur 1968 stattfand. | |
| Bild: Prag am 21 August 1968. | |
| taz: Wie haben Sie den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag | |
| am 21. August 1968 erlebt? | |
| Petr Uhl: Am 21. August war ich in Paris und am 26. zurück in Prag. Die | |
| Stimmung war elektrisiert, die Stadt übersät mit Flugblättern, die Leute | |
| unterhielten sich mit den sowjetischen Soldaten in den Straßen. Es war auch | |
| eine starke Solidarität spürbar, man half sich gegenseitig, so gut es ging. | |
| Der 21. August war nicht, wie man das im Westen immer darstellt, der | |
| Schlusspunkt der Bewegung, viele haben erst danach einen politischen | |
| Ausdruck für ihre Situation gefunden. Beispielsweise haben sich 1970 die | |
| Roma im Verband der Romani formiert, Künstlerverbände wurden gegründet, et | |
| cetera. Es gab nicht nur die Proteste gegen die sowjetische Armee, sondern | |
| auch gegen die Normalisierung, vor allem von Studenten und Intellektuellen. | |
| Wir versuchten alles, damit das, was die Tschechoslowakei 1968 und schon | |
| vorher erreicht hatte, erhalten bliebe. In diesem Sinne war die Bewegung | |
| nicht geschlagen, im Gegenteil, es gab zunächst eine Radikalisierung, | |
| begleitet von anhaltenden großen Unruhen in Prag. Was geschlagen war, war | |
| die Idee, das politische, soziale, ökonomische System zu reformieren. Seit | |
| Mai 1969 griff dann eine neuerliche Zensur, ich bin im Dezember 1969 | |
| verhaftet worden. | |
| Sahen Sie 1968 Gemeinsamkeiten in Ost und West? | |
| Es gab gemeinsame Elemente zwischen der tschechoslowakischen | |
| Studentenbewegung und der deutschen, dem SDS beispielsweise. Und es gab | |
| Parallelen zum Pariser Mai 68 sowie zum Warschauer März 68. Wir wählten zum | |
| Teil die gleichen Formen, etwa den Okkupationsstreik, den wir in der | |
| Tschechoslowakei erst nach der Invasion, erst im November 68 und im April | |
| 69, praktizierten. Inhaltlich, wie wir über direkte Demokratie und | |
| Pluralität gesprochen haben, gab es Unterschiede. Gemeinsam war die | |
| antiautoritäre Position. Die tschechoslowakische Studentenbewegung war nur | |
| eine Strömung innerhalb der letztlich recht differenzierten | |
| gesellschaftlichen Bewegung, die zum Teil nichts gemeinsam hatte mit etwa | |
| dem französischen Arbeiterstreik im Juni. | |
| Hatten Sie direkten Kontakt zu den Protagonisten der Revolte im Westen - | |
| nach Berlin oder Paris? | |
| Ich war seit 1965 oft in Frankreich, hatte viel gelesen und Bücher mit nach | |
| Prag gebracht. 1968 war ich zweimal in Paris, im Juni und im August, mit | |
| meiner West-Berliner Freundin Sibylle Plogstedt. Sie war aus Berlin | |
| gekommen und wir sind zusammen mit ihrem VW nach Frankreich gefahren. | |
| Europa war plötzlich klein und das unsere. Seit 1963, als in der KPC die | |
| Reformer nach und nach an die Macht gekommen sind, hatte es einen | |
| wirklichen Liberalisierungsprozess gegeben, bis dann im September 1969 die | |
| Grenzen gesperrt wurden. Ich war auch mit der Studentenbewegung in Warschau | |
| und in der DDR im Kontakt. Im August 68 bin ich von Paris aus nach Brüssel | |
| zum Sekretariat der IV. Internationale gefahren und habe dafür plädiert, | |
| Dubcek zu unterstützen, kritisch zu unterstützen, begrenzte Solidarität zu | |
| bekunden. | |
| Im Dezember 1968 haben Sie im Untergrund die HRM (Bewegung der | |
| revolutionären Jugend) gegründet, weshalb Sie 1969 zu vier Jahren Haft | |
| verurteilt wurden. Wie war die politische Orientierung nach den Erfahrungen | |
| des Prager Frühlings, was waren Ihre Ziele? | |
| Die Gruppe war ein Amalgam aus Trotzkisten, Anarchisten und Maoisten. Wir | |
| waren nur 100 in unserer Organisation und jedermann war ein wenig | |
| informiert. Wir kannten die französische Zeitschrift Socialisme ou Barbarie | |
| und auch die Situationisten, deren Straßburger Pamphlet aus dem Jahre 1966 | |
| "Über das Elend im Studentenmilieu" uns beeinflusst hatte. Wir lasen und | |
| studierten Marcuse und die ganze Frankfurter Schule. Anfang des Jahres 1968 | |
| war Rudi Dutschke in Prag. Er war enttäuscht von der Diskussion mit den | |
| Studenten, unsere Gruppe hingegen hatte ihn begeistert. Unser Ziel war es | |
| noch, die Werte des Demokratisierungsprozesses zu erhalten. | |
| 1979 wurden Sie ein zweites Mal zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach | |
| 1968 verließen Zehntausende die Tschechoslowakei, vor allem Intellektuelle. | |
| Weshalb sind Sie geblieben? | |
| Ich habe mir die Frage, das Land zu verlassen, erst viel später gestellt. | |
| Von Dezember 69 bis Dezember 73 war ich im Gefängnis, das zweite Mal 1979, | |
| diesmal für fünf Jahre. In diesen fünf Jahren gab es das Angebot der | |
| Staatssicherheit, über eine Ausreise zu sprechen. Da hatte ich bereits zwei | |
| Kinder. Nach drei Briefen habe ich meine Frau entscheiden lassen, sie hat | |
| sich zum Bleiben entschieden, weil die Tätigkeit des "Komitees zur | |
| Verteidigung der zu Unrecht verfolgten Personen" weitergegangen ist. | |
| Sie haben 1977 die Charta 77 mitverfasst. Worin unterschieden sich die | |
| Ideen von denen im Jahr 1968? | |
| Wir waren zehn Leute, als wir den Text zwischen dem 10. und 20. Dezember | |
| 1977 verfasst haben. Die Charta hatte kein politisches Programm im engeren | |
| Sinne. Wir wollten keine Organisationsplattform, keine politische und | |
| gesellschaftliche Konzeption schaffen, das haben wir offen gesagt. | |
| Das war 1968 noch anders. | |
| 1968 war alles in Bewegung. Die KPC selber hatte im Februar die Vorzensur | |
| aufgehoben, man sprach über den Sozialismus mit menschlichem Antlitz oder | |
| suchte den so genannten dritten Weg zwischen Markt- und dirigistischer | |
| Ökonomie, glaubte bis hin zu den reformerischen Kräften innerhalb der | |
| Partei, das System reformieren zu können - ökonomisch, sozial und | |
| politisch. Entscheidend für die Studentenbewegung war die Idee, die | |
| Gesellschaft hin zu mehr Pluralität zu reformieren, aber wir standen in | |
| engem Kontakt zu dem Prager Parteiapparat, hatten zum Teil die gleichen | |
| Ziele. Die Charta bezog sich lediglich auf zwei internationale Pakte über | |
| die Menschenrechte, die die Tschechoslowakei im März 76 ratifiziert hatte. | |
| Wir forderten deren Einhaltung, forderten das Recht auf den Streik, wollten | |
| einen Dialog über die Verteidigung der Menschenrechte und nicht etwa | |
| darüber, ob die Partei eine führende Rolle in der Verfassung haben sollte | |
| oder nicht. Das haben wir abgelehnt. Die Hälfte derer, die die Charta als | |
| Erste unterzeichneten, waren aus der Partei Ausgeschlossene. Hinzu kam eine | |
| kleine Anzahl von Antikommunisten, aber auch Reform- und gar | |
| Altkommunisten. Zu dem Zeitpunkt war uns klar, dass wir nur weitergehen | |
| konnten, wenn wir nicht die politischen Kompromisse mit der Macht machten. | |
| Menschenrechte, Punkt, und langsam allgemeine Demokratie. | |
| Wie spricht man heute in der Tschechischen Republik über den Prager | |
| Frühling? | |
| Offiziell, unter der rechtsgerichteten Regierung, spricht man gar nicht | |
| darüber. Die staatlichen Behörden tun alles, damit man nicht darüber | |
| spricht. Es herrscht ein starker Antikommunismus vor, in dessen Blick die | |
| Jahre zwischen 1948 und 1989 zu einer einzigen schwarzen, | |
| totalitaristischen Epoche homogenisiert werden: Alles war gleich und der | |
| Prager Frühling ist auf einen parteiinternen Machtkampf reduziert. | |
| Und vor 1990? | |
| Die Schwäche der Tschechoslowakei vor 1990 war, dass in der KPC keine | |
| Reformisten mehr waren. In Polen, auch in der DDR, aber vor allem in Ungarn | |
| war das anders. Bei uns hatte die Partei keine autokritische Analyse | |
| gemacht. Sie verurteilte die Invasion und die Normalisierung, aber weiter | |
| ging sie nicht. Man hat den Liberalisierungsprozess, den es zwischen 1963 | |
| und 1968 gab, verdrängt. Für den Sozialismus wäre es positiv gewesen, | |
| darüber zu sprechen, aber dieser Reflexion war man nicht fähig. | |
| INTERVIEW: TANIA MARTINI | |
| 3 May 2008 | |
| ## TAGS | |
| 68er | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |