# taz.de -- Autorin Pavón über Argentinien nach dem Crash: "Mein Platz in der… | |
> Ein Gespräch mit der argentinischen Schriftstellerin Cecilia Pavón über | |
> den kulturellen Aufbruch nach dem ökonomischen Zusammenbruch und die | |
> Digitalisierung des Marktes. | |
Bild: Von rechts nach links: Cecilia Pavón mit Washington Cucurto, einem Nachb… | |
taz: Frau Pavón, Sie kommen ursprünglich aus Mendoza und leben heute in | |
Buenos Aires. Was macht den Unterschied zwischen Hauptstadt und Provinz? | |
Cecilia Pavón: Das kulturelle Leben in einer Stadt wie Mendoza ist | |
beschränkt. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf wenige anerkannte | |
Figuren, die eher Kunsthandwerk als Kunst betreiben. Und es gibt kaum Orte | |
für jüngere Leute, was dazu führt, dass man in Argentinien fast | |
zwangsläufig nach Buenos Aires auswandert, wenn man sich für bildende | |
Kunst, Literatur oder Musik interessiert. | |
Keine Probleme mit der Größe und der Anonymität? | |
Nein. Als ich 1991 in Buenos Aires eintraf, überraschte mich zunächst, mit | |
welcher Selbstverständlichkeit wildfremde Menschen miteinander umgingen. In | |
der Provinz hat man mit Leuten zu tun, deren Background man kennt. Der Sohn | |
von …, der Bruder von … In Buenos Aires habe ich das Gefühl, immer wieder | |
neue Leute kennen lernen zu können, die sozialen Kreise zu wechseln und ein | |
komplett neues Leben beginnen zu können. Du hast die Gewissheit, dass sich | |
eine Tür öffnen und eine unbekannte Szene auftauchen wird. | |
Und was schätzen Sie an Buenos Aires weniger? | |
Die fatalistische Kultur des Tangos. Viele Einwohner haben das Gefühl, dass | |
es unmöglich sei, etwas zu ändern. Dass die Dinge sind, wie sie eben sind. | |
Der Mangel an Stadtplanung ist ebenfalls ein schwieriges Thema. In gewissen | |
Momenten hat das Chaos in Buenos Aires seinen Charme, aber es kann auch | |
erdrückend wirken. | |
Sie schreiben vorwiegend Gedichte, warum keine Prosa? | |
Manchmal versuche ich es mit Prosa, aber das sind immer sehr kurze Texte, | |
und sie gelingen mir nicht mit dieser Selbstverständlichkeit. | |
Wie würden Sie den Zustand der argentinischen Lesekultur beschreiben? | |
Das Auffälligste ist, dass Literatur keinen zentralen Ort mehr im Leben der | |
Leute aus dem Mittelstand einnimmt. In den Siebzigerjahren, als meine | |
Eltern Wirtschaft studierten, lasen auch sie die Autoren des "Boom" wie | |
etwa Cortázar. Heute ist die Literatur der Avantgarde nicht mehr | |
Bestandteil des Lebens "normaler Leute". Aber das ist sicherlich ein | |
weltweites Phänomen. | |
Auf welche südamerikanische "Avantgarde" beziehen Sie sich dabei heute? | |
Brasilianische Lyrik im Allgemeinen. Persönlich schätze ich von den | |
argentinischen Gegenwartsautoren besonders César Aira. | |
Sie waren auch schon des Öfteren in Europa, länger in Berlin. Wie | |
unterscheidet sich Buenos Aires von Berlin? | |
Das Chaos oder das Improvisierte aus Südamerika fehlten mir. Auch der sehr | |
formale Umgang untereinander erstaunte mich. Berlin erschien mir wie der | |
Ort aus einer surrealen Erzählung. Viele arbeiten mit Leidenschaft und ohne | |
institutionelle Unterstützung an ihren Projekten. | |
Ist das in Argentinien anders? | |
Die vom Staat unabhängige Szene ist sehr klein. Manches ist dennoch ähnlich | |
wie in Berlin: das rege kulturelle Leben, die vielen "Kreativen". Doch | |
Buenos Aires ist auch ein Ort der Dritten Welt, und in Argentinien haben | |
die Leute - auch aus der Kulturszene - mehrheitlich andere Sorgen, als cool | |
rüberzukommen. | |
In Buenos Aires haben Sie eine Galerie, eine Art Club mitbetrieben. Was war | |
das für ein Laden? | |
"Belleza y Felicidad" ("Schönheit und Glück") im Viertel Abasto war ein | |
Ausstellungsraum, bei dem der kommerzielle Aspekt der Werke nicht | |
entscheidend war. Nach neun Jahren schloss dieser Treffpunkt jetzt. Es | |
wurden Ausstellungen gezeigt, aber auch Bücher und Malereibedarf verkauft. | |
Und es gab Rockkonzerte oder Vorträge über Soziologie. | |
Wenn Sie Sich an die große Krise Argentiniens, den Crash der Ökonomie | |
2001/2002 erinnern: Wie war das? Was für ein Moment war das für die Kultur? | |
Zunächst war es sehr hart. Aber viele fühlten nach Jahren, in denen sie | |
sich nicht mit Politik beschäftigt hatten, dass sich auch etwas öffnete, | |
und sie engagierten sich. Das war in der Krise für viele auch eine gute | |
Erfahrung. Aber nach einigen Zeit waren gerade viele Künstler von der sich | |
immer stärker formalisierenden "Basispolitik" enttäuscht. Die Vorstellungen | |
der "Politischen" standen konträr zu einem auch ästhetischen Verständnis | |
von Raum und Freiheit, konträr zur Idee symbolischer Politik und | |
spielerischer Intervention. Rückblickend sehe ich heute, dass in einem Land | |
wie Argentinien geboren zu sein bedeutet, in permanenter Krise gelebt zu | |
haben. Als die Diktatur 1976 die Macht ergriff, war ich drei Jahre alt. | |
Auch mit dem Übergang zur Demokratie 1983 blieb die Krise in Argentinien | |
eine Konstante. | |
Wie hat diese konstante Krisenerfahrung Ihr Leben beeinflusst? | |
Die letzten Jahre der Neunziger waren am schlimmsten. Sie waren geprägt von | |
großem Pessimismus und ökonomischer Rezession. Diese Phase fiel mit dem | |
Moment zusammen, in dem ich begann, in professioneller Hinsicht meinen | |
Platz in der Welt zu suchen. Das vorherrschende Gefühl war: Die | |
Möglichkeiten, die es gibt, sind wenige, und für dich sind sie sicher | |
nicht. Das ist hart für einen jungen Menschen. | |
Woran lässt sich der Zusammenbruch des alten argentinischen Systems mit | |
seinem einst großen Mittelstand sinnbildlich beschreiben? | |
Auf einmal füllte sich die Stadt mit Armen, die bettelten oder den Müll | |
durchwühlten. Die vielen Cartoneros, Müllsammler auf der Suche nach | |
Altpapier, das war sehr eindrücklich. Dabei gab es schon vor 2001 viele | |
Menschen, die auf der Straße lebten und bettelten. Sie wurden in der Krise | |
aber sichtbarer, da sich die öffentliche Aufmerksamkeit ihnen zuwandte. | |
Und heute: Die organisierten Arbeitslosen, die Piqueteros, sind wieder | |
verschwunden und die Wirtschaft boomt? | |
Nein, die Piqueteros sind nicht verschwunden. Vielleicht sind sie als Thema | |
in den Medien verschwunden, aber es gibt viele Organisationen, die | |
weitermachen. Die Wirtschaft wächst, aber für die große Mehrheit bleiben | |
die Bedingungen der Ungerechtigkeit die gleichen. Tatsache ist, dass das | |
Gefälle zwischen Arm und Reich größer ist als in den Neunzigerjahren. | |
Der Unterschied ist, dass es mehr Arbeit gibt, aber das Mindesteinkommen | |
deckt nicht die Lebenshaltungskosten, und die Inflation führt dazu, dass | |
die Kaufkraft der Leute sehr gering ist. Es ist merkwürdig, dass die Leute | |
das Gefühl haben, die Dinge besserten sich. Zudem gibt es ein gravierendes | |
Energieproblem, das sich erst langsam abzeichnet. | |
Was ist die jetzige Präsidentin, Frau Kirchner, für ein Typ? Ist es nicht | |
merkwürdig, dass erst der Mann und dann die Ehefrau regiert? | |
Ich kann mir vorstellen, dass man sich als Ausländer darüber wundert. In | |
Argentinien scheint es jedoch eher normal. Es gibt ja auch diese ewige | |
Sehnsucht, die Argentinier für Evita empfinden. Das findet auch niemand | |
seltsam. | |
Haben die Ereignisse der Krise, die sozialen Bewegungen, Einfluss auf die | |
Ästhetik, die Themen in der Kunst? | |
Die Krise beeinflusst alles und natürlich auch die Kunst. Improvisation, | |
Notstand, Fatalismus und Scheitern - alles findest du auch in der Kunst. | |
Ich würde behaupten, die Neunzigerjahre waren sehr durch eine Ästhetik der | |
Armut, des Expliziten und der Prekarität geprägt. Zum Beispiel | |
veröffentlichte der Verlag "Belleza y Felicidad" seit 1998 kopierte und | |
geheftete kleine Bücher - für junge Poeten war es die einzige ökonomische | |
Möglichkeit, ihre Texte bekannt zu machen. Oder "Eloisa Cartonera", die | |
ihre Buchdeckel aus Karton herstellten, den sie den Cartoneros abkauften. | |
Welche Bedeutung hat ein Verlag wie Eloisa Cartonera für die jüngere Szene? | |
Ich würde sagen, dass sich in den letzten drei Jahren die Szene vor allem | |
auf digitale Medien und auf die Schaffung von Zusammenhängen im Internet | |
konzentriert hat. Es gibt das Gefühl, dass es keinen Sinn mehr macht, | |
Bücher zu veröffentlichen. Dass es andere Wege für die Poesie gibt und dass | |
die Literatur in der Immaterialität des Internets an Raum gewinnt. | |
Wie publizieren Sie Ihre Literatur? | |
Vor vier Jahren habe ich mein letztes gedrucktes Buch veröffentlicht. Es | |
ist merkwürdig, was in den letzten Jahren passiert ist. Schriftsteller | |
veröffentlichen fast keine Bücher mehr, aber fast alle haben Blogs. | |
Trotzdem gibt es unendlich viele Poesielesungen, Treffen und Festivals, | |
auch internationale, vor allem in Lateinamerika. | |
Wie ist das Verhältnis Argentiniens zu Europa, nimmt man wahr, was | |
kulturell auf der anderen Seite des Atlantiks passiert? | |
Seit der Epoche des Kolonialismus war die Beziehung zu Europa sehr wichtig. | |
Aber vielleicht wurde sie in den letzten Jahrzehnten zu keiner | |
Notwendigkeit mehr im Sinne einer Legitimation durch Europa. Im Bereich der | |
Dichtung ist die Beziehung zu anderen lateinamerikanischen Ländern sehr | |
ausgeprägt. | |
Nach dem Verfall des argentinischen Peso wurde Buenos Aires zu einem | |
außerordentlich beliebten Reiseziel - besonders bei europäischen und | |
US-amerikanische Kulturschaffenden. Wie wirkt sich das aus? | |
So wie ich es wahrnehme, wurde die Stadt und die Kultur durch das Kommen | |
und Gehen der Leute abwechslungsreicher und intensiver. In den | |
Neunzigerjahren träumte hier die ganze Welt davon, nach Europa oder New | |
York auszuwandern, weil man annahm, dass dort die interessanteren Dinge | |
passieren. Heute ist diese Vorstellung unter den Künstlern nicht mehr sehr | |
verbreitet. Es gibt nun auch in Argentinien überall Internet. Und die Leute | |
haben nicht mehr so das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn sie nicht an | |
diesem oder jenem Ort sind. INTERVIEW ANDREAS FANIZADEH UND EVA-CHRISTINA | |
MEIER | |
Dieses Gespräch ist ein gekürzter Vorabdruck aus der Literaturzeitschrift | |
Wespennest. Es erscheint dieser Tage im Buchhandel mit dem Titel | |
"Argentinien nach der Krise" (Hrsg. Eva-Christina Meier und Andreas | |
Fanizadeh) und enthält Beiträge von César Aira, Sergio Bizzio, Washington | |
Cucurto, Maristella Svampa, Dani Umpi, Raúl Escari u. a. www.wespennest.at | |
13 May 2008 | |
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Mexiko Stadt | |
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