# taz.de -- Charlotte Roche am Sagrotan-Pranger: Kein Griff ins Klo | |
> Kritiken hin, Kritiken her: Mit Charlotte Roche wird die Pubertät für | |
> Teenagermädchen zu einem Fest. Endlich ist Schluß mit der einengenden | |
> Hygienehysterie. | |
Bild: Feuchtes Körpermilieu: Ein skandalös gutes Umfeld für Bakterien! | |
In Deutschland an den gründlich mit Sagrotan getränkten Pranger gestellt zu | |
werden ist ganz einfach: Man schreibt ein Buch, in dem auf der ersten Seite | |
die Wörter "Hämorrhoiden", "Rosette" und "Poloch" vorkommen. | |
Charlotte Roche, Ex-Viva-Zwei-Moderatorin und Grimmepreisträgerin, schafft | |
es nebenher sogar noch, damit Platz eins auf den Bestsellerlisten zu | |
belegen. Ihr Roman "Feuchtgebiete" wird seit Wochen in den Medien | |
auseinanderklamüsert und von A wie anal bis Z wie Zellulitis Stück für | |
Stück totanalysiert. Was optisch daherkommt wie ein Teeniebuch - magere 220 | |
Seiten, große Schrift, schreiend pinkfarbenes Cover -, lässt nur durch das | |
prominent platzierte Pflaster auf dem Deckblatt auf den Inhalt schließen. | |
Der ist so deftig, dass viele Leser das Buch nach zehn Seiten angeekelt zur | |
Seite legen und es auf dem Nachttisch verstauben lassen. Spätestens bei dem | |
Satz "Ich mache schon lange Experimente mit nicht gewaschener Muschi" auf | |
Seite achtzehn geben sensible Leser kampflos auf. Schade eigentlich, denn | |
wer sich bis zum Ende durchkämpft, wird mit vielen neuen Erkenntnissen über | |
Hygiene und "richtigen Sex" belohnt. | |
Die Romanheldin Helen Memel, eine Kunstfigur, die nach Roches Angaben zu | |
siebzig Prozent aus ihr selbst besteht, verletzt bei der Intimrasur ihre | |
"blumenkohlartigen" Hämorrhoiden und liegt für den Rest des Buches im | |
Krankenhaus, von wo aus sie dem Leser Masturbation mit Avocadokernen, den | |
Umgang mit sämtlichen Körperflüssigkeiten und Fremdrasur näherzubringen | |
sucht. Ein gefundenes Fressen für die Kritiker, die Roche Theoriegebilde | |
unterstellen, von denen sie wahrscheinlich noch nicht mal geträumt hat. | |
Rainer Moritz beispielsweise kritisiert in der Welt, es gebe zu "wenige | |
Handlungsstränge", und folgert: "Ein etwas mageres Fazit." Ja, der Plot im | |
Buch macht sich wahrlich etwas rar. Trotzdem: Hallo? Merkt mal jemand was? | |
Hier geht es doch nicht um die zerrüttete Beziehung von Helen zu ihren | |
Eltern. Auch nicht darum, dass man als sogenannte Postfeministin seine | |
Popel essen soll. Das eigentliche Thema des Buchs ist der Umgang mit dem | |
Körper an sich und allem, was dazugehört. | |
Mag sein, dass "Feuchtgebiete" kein großartiges literarisches Werk ist. Die | |
Sprache sei zu "kindlich, zu platt, zu versaut", die Handlung zu | |
"schmalspurig", so die Kritiker. Das ist indes völlig irrelevant. Den | |
Anspruch, ein zweiter Michel Houellebecq zu werden, hatte Charlotte Roche | |
nie, schließlich hatte sie ihrerseits ursprünglich nur an ein Sachbuch | |
gedacht. Die minimalistische Handlung dient de facto nur der Einordnung in | |
die Gattung Roman, und ein Roman liest sich nun mal leichter - und lässt | |
sich besser unter die Leute bringen. Dass Charlotte Roche bewusst | |
provoziert und ihren Prominentenstatus nutzt, um das | |
Arsch-Sperma-Muschi-Thema zugänglich zu machen, wird aufs Heftigste | |
kritisiert. So bemängelt beispielsweise Stephan Maus auf stern.de, Roche | |
versuche, mit "ekliger Dschungelcamp-Ästhetik" Kasse zu machen.Was die | |
Kritiker aber außer Acht lassen: All das ist bitter nötig. Niemand würde | |
das Buch lesen, hätte es Max Mustermann oder der Wiener Sadomasokönig | |
Hermes Phettberg geschrieben. | |
Vermutlich sitzt Frau Roche abends auf ihrem Bett und hüpft jauchzend auf | |
und ab, weil die Medien nicht genug von ihr bekommen können. Spiel, Satz - | |
und Sieg. Das hat auch Ingeborg Harms in der Frankfurter Allgemeinen | |
Sonntagszeitung erkannt: "Wie schon die Schwulenbewegung zeigte, wird das | |
Peinliche ins Selbstbewusstsein aufgenommen, sobald es formuliert ist." | |
Heißt: Wenn Roche über brisante Themen schreibt, wird darüber geredet. Das | |
ist der erste Schritt gegen die Verdrängung "ekliger" Themen - nun auch und | |
gerade im heterosexuellen Kontext. | |
Apropos eklig: Bezeichnend für unsere Gesellschaft ist eigentlich, dass um | |
ein stinknormales Buch überhaupt so viel Wirbel gemacht wird. In einem | |
Jahrhundert, in dem scheinbar alle Tabus enttabuisiert sind, "provoziert | |
Sex, der nicht ,sexy' und im gängigen Sinn ästhetisch ist. Immer noch", | |
schreibt Andrea Ritter im Stern. Dabei ist Sex doch angeblich die normalste | |
Sache der Welt. Und aus auf der Hand liegenden Gründen nicht gerade die | |
sterilste. Dass es dabei nicht immer weichgespült zugeht, sollte eigentlich | |
klar sein. Ist es aber nicht, obwohl Sex allgegenwärtig ist. Auch die | |
Kategorisierung als "Porno" ist völlig überzogen. Dass Männer beim Lesen | |
des Buches eine Erektion bekommen, wie Roche in einem Interview behauptet, | |
ist kaum vorstellbar. Wer spürt bei dem Gedanken, wie ein 18-jähriges | |
Mädchen seinen Wundschorf isst, auch nur den leisesten Hauch von sexueller | |
Erregung? Diese - vermutlich unwahre - Aussage, die so typisch | |
Charlotte-Roche-frech dahingeplaudert ist, dient wieder nur dem einen Ziel: | |
Aufmerksamkeit zu erlangen. Warum auch nicht: Je mehr Menschen | |
"Feuchtgebiete" lesen, desto eher kann der hysterische, spätkapitalistische | |
Hygienefanatismus unserer Gesellschaft gebremst werden. | |
Sicherlich erzielt "Feuchtgebiete" nicht bei jedem den gewünschten | |
Aha-Effekt. Erwachsene Frauen, die in sich gefestigt sind, die mit ihrem | |
Körper und allen dazugehörigen Flüssigkeiten Freundschaft geschlossen haben | |
- oder zumindest Waffenstillstand -, brauchen kein aufklärerisches | |
Pamphlet. Es gilt aber zu bedenken, dass diese Frauen eine Minderheit in | |
unserer Gesellschaft darstellen und dann zumeist auch noch in Schubladen | |
gesteckt werden: Frauen mit Achselhaaren (Ökos), Frauen, die nicht jeden | |
Tag duschen (Hippies), und Frauen, die schmutzigen Sex gut finden | |
(Schlampen). Der Rest schwimmt mit im Strom der duftenden, schlanken und | |
glatt rasierten Masse. Und genau diese Masse ist anfällig für die zahllosen | |
Ansprüche, die Männer, Medien und - last, but not least - die Frauen an | |
sich selbst haben. Denn was als gut propagiert wird, wird meistens ohne | |
Maulen befolgt, so lange, bis man glaubt, man habe die Entscheidung, sich | |
die Haare schmerzhaft epilieren zu lassen, selbst getroffen. Wenn man | |
überhaupt zwischen dem Gang zur nächsten Drogerie und dem Termin im | |
Fitnessstudio darüber nachdenkt. Für dieses Publikum ist "Feuchtgebiete" | |
ein Tritt in die richtige Richtung. | |
Glückselig sind die Teenager, die das Taschenbuch lesen dürfen, ohne von | |
Mutti einen Schlag auf den Hinterkopf zu bekommen. Mit Hilfe von Charlotte | |
Roche wird die Pubertät zu einem grandiosen Fest. Vorbei die Selbstzweifel, | |
die Angst, anzuecken, die Bemühungen, allen zu gefallen. Dass gerade | |
Mädchen in der Pubertät mit sich hadern, weiß jede Frau, die schon mal | |
einen Blick in ihre Tagebücher von früher geworfen hat. "Selbstbewusstsein" | |
können Jugendliche zwar buchstabieren, aber was es es wirklich bedeutet, | |
davon haben sie nur eine vage Vorstellung. Was in der Pubertät dominiert, | |
ist vor allem der Selbstzweifel. | |
Und der wird bestens genährt, wenn von jeder Plakatwand perfekte Frauen auf | |
einen herabschauen. Nicht umsonst sind es die Zwölf- bis Achtzehnjährigen, | |
die am häufigsten an einer Essstörung leiden. Und warum? Weil uns | |
Fernsehen, Zeitschriften und Werbung makellose Frauen vorgaukeln, die keine | |
Körperbehaarung haben und immer riechen, als würden sie frisch aus der | |
Dusche kommen. Die Ersten, die sich Intimwaschlotionen und einen | |
Damenrasierer kaufen, sind in logischer Konsequenz die Teenager, angeleitet | |
von ihrer gestrengen Oberlehrerin Heidi Klum: Heute, wo bereits elfjährige | |
Mädchen "Germanys Next Topmodel" schauen, wird der Druck, wie eine | |
Barbiepuppe auszusehen, noch größer. Barbiepuppen haben aber keinen Sex, | |
nur eine 90-60-90-Figur und ein perfektes Make-up. Dies weiß auch | |
Feuchtgebietsexpertin Helen: "Je mehr sie sich um all diese kleinen Stellen | |
kümmern, desto unbeweglicher werden sie." Und lästert weiter: "Ihre Haltung | |
wird steif und unsexy, weil sie sich ihre ganze Arbeit nicht kaputt machen | |
wollen." | |
Die Unterstellung, Charlotte Roche wolle mit ihrem Antirasurzwang eine | |
"vermeintliche Rückkehr zur Natur" propagieren (Hubert Spiegel in der FAZ), | |
liegt nahe, triffts aber nicht. Denn das wäre nur eine weitere | |
Einschränkung in unserer ohnehin mit Reglementierungen vollgestopften Welt. | |
Es geht vielmehr darum, selbst entscheiden zu dürfen, was einem gefällt - | |
und dies, ohne dafür öffentlich mit Hygienetüchern ausgepeitscht zu werden. | |
Auch für erwachsene Frauen ist das Buch eine Bereicherung. Wer hätte | |
gedacht, dass es nach "Sex and the City" noch Tabus gibt? In der US-Serie | |
werden die Protagonistinnen als hemmungslose Tratschtanten dargestellt, die | |
im Restaurant lautstark über Vibratoren und "flotte Dreier" diskutieren. | |
Bei der Vorstellung, wie die Roche-Protagonistin Helen Memel gebrauchte | |
Tampons im Aufzug liegen lässt, damit sich ihre Bakterien raumgreifend | |
verbreiten mögen, würden jedoch selbst die SATC-Damen erröten. Ein Tabu ist | |
ein Tabu ist ein Tabu. Und nur Charlotte Roche scheißt drauf, wörtlich. | |
Das hat "Sex and the City" nicht geschafft, dafür sind amerikanische Serien | |
in ihrer vermeintlichen Obszönität viel zu prüde. Erreicht haben sie | |
höchstens, dass das erstrebenswerte Frauenbild immer mehr einem Pin-up-Girl | |
ähnelt. Ein Umstand, den Roche im Spiegel-Interview bemängelt: "Der in der | |
Öffentlichkeit propagierte Sex ist langweiliger, flacher, spießiger und | |
unaufregender als in Wirklichkeit." Deshalb plädiert sie zu Recht für | |
"echten Sex, der riecht und schmeckt und schmutzige Geräusche macht". | |
Dass Bree Van de Kamp, die stets mit glühendem Stahl auf Haltung gebügelte, | |
ostküsten-weinkennerhaft auftretende Protagonistin von den "Desperate | |
Housewives", sich von hinten nehmen lassen würde, ist dagegen kaum | |
vorstellbar. Die backt dann doch lieber Muffins. | |
15 May 2008 | |
## AUTOREN | |
Franziska Seyboldt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |