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# taz.de -- Bars, Bistros, Brasserien: Genf steht für stressfreien Fußball
> In Genf trifft am Eröffnungstag der Fußball-Europameisterschaft Portugal
> auf die Türkei. Während der typische Genfer lieber segeln geht oder
> Tennis spielt, genießen die Portugiesen heimlichen Heimvorteil
Bild: Straßenbahn im EM-Outfit
Das "Stade de Genève" dürfte wohl das einzige Fußballstadion Europas sein,
in dessen Umgebung wenige Wochen vor der Europameisterschaft nicht für
braune Brause oder Gerstensaft geworben wird. Dafür hängen große
Transparente der Vereinten Nationen über den Eingangsportalen. Genf ist
neben New York, Wien und Nairobi eine der vier Städte, in denen die
Vereinten Nationen ihren offiziellen Sitz haben. Fünf Minuten vom
Hauptbahnhof, hinter einem bunten Flaggenmeer, residiert die UNO im Palais
des Nations, dem Völkerbundpalast, der bis zur Auflösung des Völkerbundes
1946 Hauptsitz ebenjenes Vorläufers der Vereinten Nationen war.
Heute tagt in Genf der Menschenrechtsrat, und rund um den UN-Sitz an der
Place des Nations haben sich etliche UN-Organisationen niedergelassen, etwa
das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge, die Weltgesundheitsorganisation,
die Weltorganisation für intellektuelles Eigentum und die
Welthandelsorganisation (WTO). Über allem thront das Internationale Komitee
vom Roten Kreuz. An seinem Hauptsitz wenige Meter oberhalb des UN-Palais
unterhält es ein Museum über die Geschichte des Roten Kreuzes. Hier in
seiner Heimatstadt hatte es 1863 Henry Dunant ins Leben gerufen.
Die beschauliche Stadt am Lac Léman, eingebettet zwischen Jura und Alpen,
wäre ohne seine "étrangers" fast eine Kleinstadt: Die amtliche Statistik
des Kantons meldet, dass von 185.855 Genfern im März 82.530 Ausländer
waren. Wenn bloß nicht die hohen Mieten und der Wohnungsmangel wären, die
die Genfer dem Zuzug wohlhabender Diplomaten und Geschäftsleute
zuschreiben. Übernachtungs- und Lebenshaltungskosten sind in Genf noch
höher als in der ohnehin teuren Schweiz. Doch etliche Flüchtlingsströme
haben schon seit der Genfer Reformation stets dafür gesorgt, dass Genf seit
vier Jahrhunderten einen Ausländeranteil von über 30 Prozent hat, angeführt
von Italienern, Spaniern und Portugiesen.
Für Portugals Mannschaft dürfte das bei zwei Spielen in der Gruppe A einen
Quasi-Heimvorteil bedeuten. Denn gerade unter den portugiesischstämmigen
Genfern sollen die größten Fußballfans der Stadt zu finden sein, behaupten
die Einheimischen. Sie selbst lässt das runde Leder angeblich kalt. Im
Informationsbüro der Stadt gesteht man offen, dass das Interesse an der EM
bisher eher verhalten sei, die freundliche Dame braucht eine Weile, bis sie
die Informationsbroschüren zur EM gefunden hat. "Die Genfer gehen eben viel
lieber segeln, spielen Tennis oder fahren im Winter Ski", sagt ein Student,
der im Parc des Bastions mit Freunden kickt. Er habe ja durchaus Spaß an
Fußball, aber mit dem heimischen Club Servette FC sei das so eine Sache.
Der traditionsreiche Verein, nach Grasshoppers Zürich mit 17 Titeln der
erfolgreichste der Schweiz, spielt zurzeit nur in der Schweizer Challenge
League, zweitklassig, nachdem ihn waghalsige Investments des damaligen
Mehrheitsaktionärs und Präsidenten Marc Roger 2005 in den Bankrott gestürzt
hatten.
Auch der Umzug in ein neues Stadion hat treue Fans verprellt. Der 30.000
Zuschauer fassende Stadionneubau von Servette, fertiggestellt 2003, war
seither nur bei der Eröffnung und bei Länderspielen ausverkauft. Der graue
Betonkoloss liegt nicht direkt in Genf, sondern zwischen Carouge und Lancy,
zwei Nachbarstädtchen der Kantonshauptstadt. Vom Genfer Hauptbahnhof Gare
Cornavin ist das Stade de Genève aber trotzdem gut in einer halben Stunde
per Bus und Bahn zu erreichen, Busse und Trams verbinden in einem langen
Korridor Stadion, "Fan Village" und Innenstadt. Auch eine Schnellstraße
führt zum Stadion, doch schon wegen der schlechten Beschilderung empfiehlt
sich Ortsunkundigen nicht gerade die Anfahrt mit dem Pkw - der
Stadionbereich ist während der EM weiträumig für Pkw gesperrt.
Zwischen Stadion und Hauptbahnhof, in der Genfer Innenstadt auf der Plaine
de Plainpalais, lassen sich alle Spiele gratis auch auf zwei 60
Quadratmeter großen Bildschirmen verfolgen - das neudeutsche "public
viewing" heißt hier übrigens "la projection des matches". Wo sonst
mittwochs und samstags Genfs beliebtester Flohmarkt stattfindet und Skater
ihre Künste in der Half-Pipe üben, soll während der EM für bis zu 80.000
Besucher die größte "Fan Zone" der Schweiz entstehen, inklusive 31
Zelt-Restaurants, in denen wahlweise Muscheln, Raclette, portugiesische
Küche oder Kebab serviert werden. Auch Tennis-Rentner Yannick Noah, in
Frankreich gefeierter Musiker und 2005 zum beliebtesten Franzosen gewählt,
tritt am Vorabend der EM mit seiner Mischung aus Pop und Weltmusik in der
Fan Zone auf.
Vom Plainpalais, wie die Genfer kurz sagen, ist es auch nicht weit in die
Genfer Altstadt. Vorbei an Bars, Bistros und Brasserien kann man im Park
der Genfer Universität vier berühmten Genfern einen Besuch abstatten. Die
vier Reformatoren schauen dort in Stein gemeißelt strengen Blickes aufs
Volk herab. Der bekannteste von ihnen, Johannes Calvin, gründete 1559 die
Genfer Akademie, Vorläuferin der Universität. Zuvor aber hatten er und
seine Mitstreiter in der Genfer Reformation den Calvinismus begründet und
sorgten für strenge protestantische Kirchenzucht in Genf - notfalls auch
mit dem Scheiterhaufen. Am Reformationsdenkmal vorbei steigt man Treppen
und Gässchen folgend zur Kathedrale Sankt Peter aus dem 12. Jahrhundert
auf, an der Calvin einst predigte. Um die Ecke befindet sich das
stadtgeschichtliche Museum mit einem beeindruckenden Reliefmodell der
Stadt, zweihundert Meter weiter das Geburtshaus von Jean-Jacques Rousseau,
das heute eine Ausstellung über den Staatstheoretiker und Philosophen aus
dem 18. Jahrhundert beherbergt.
Wer während der EM nicht gerade für Portugal, Tschechien oder die Türkei
jubeln will, sondern lieber noch Kultur- und Sportangebote jenseits des
Fußballrasens finden will, der ist in Genf gut aufgehoben. Vom
Finalschauplatz Wien ist man in Genf mit Abstand am weitesten entfernt, und
schon ab dem Viertelfinale wird man rund um den Genfer See beim Stichwort
grüner Rasen vermutlich wieder eher an Golf- und Tennisplätze denken. Dass
es offenbar selbst die Fußballer in Genf mit dem Fußball weniger ernst
meinen, bemerkte einst Karl-Heinz Rummenigge, der seine Karriere bei
Servette beendete. "Hier habe ich etwas gefunden, was ich bis dahin noch
gar nicht kannte: stressfreien Fußball."
15 May 2008
## AUTOREN
Jan Michael Ihl
## TAGS
Reiseland Schweiz
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