# taz.de -- 15 Jahre nach dem Solingen-Anschlag: Die Lücke in der Stadt | |
> Mevlüde Genc verlor fünf Angehörige bei dem Brandanschlag. Heute | |
> tratschen Solinger über die Familie. Über den schwierigen Umgang einer | |
> Stadt mit ihrer Geschichte. | |
Bild: Am Tatort bleiben die Kastanien. Und ein Gedenkstein. | |
SOLINGEN taz Ausgerechnet Wolfgang Schäuble macht das. Der Christdemokrat, | |
von 1989 bis 1991 Innenminister im Kabinett Kohl, damals wie heute | |
Hardliner beim Thema Zuwanderung, repräsentiert in Solingen die | |
Bundesregierung. An diesem Montag wird im Konzerthaus der Genc-Preis | |
verliehen. Der soll, drei Tage vor dem 15. Jahrestag, an den rassistischen | |
Brandanschlag erinnern, der zwei Frauen und drei Mädchen der Familie Genc | |
das Leben gekostet hat. Titel der Veranstaltung: "Respektvolles | |
Miteinander". | |
Pflichtgemäß lobt Schäuble die Preisträger: den Kölner | |
CDU-Oberbürgermeister Fritz Schramma sowie Kamil Kaplan. Dessen Angehörige | |
starben im Februar bei einem Hausbrand in Ludwigshafen, türkische Medien | |
sprachen von einem "zweiten Solingen" - Kaplan rief seine Landsleute zur | |
Besonnenheit auf. Schramma schließlich erhält den Preis, weil er beim Bau | |
einer Moschee zwischen Gegnern und Befürwortern vermittelt hat. Dass | |
allerdings Parteikollegen von ihm aus Protest zur rechtspopulistischen "Pro | |
Köln"-Bewegung übergelaufen sind, erwähnt der Bundesinnenminister mit | |
keinem Wort. | |
Dabei hat die Angst vor dem Fremden Tradition in der Union: Ebenfalls vor | |
15 Jahren, am 26. Mai 1993, beschloss der Bundestag den sogenannten | |
Asylkompromiss. Die Zahl der in der Bundesrepublik Schutz suchenden | |
Flüchtlinge sollte massiv reduziert werden. | |
Dem vorausgegangen war eine jahrelange Kampagne von CDU und CSU zur | |
Verschärfung des Ausländer- und Asylrechts. Der damalige | |
CDU-Generalsekretär Volker Rühe kreierte das Schlagwort von den | |
"SPD-Asylanten". Damit meinte er Menschen, die ins Land hereinkämen, weil | |
sich die Sozialdemokraten einer Grundgesetzänderung widersetzten. In einem | |
Strategiepapier bat er seine Partei, das Thema weiter hochzuspielen. | |
Als auch noch die Bild-Zeitung mit ihrer "Das Boot ist voll"-Rhetorik | |
Stimmung machte, warnte selbst ein Sozialdemokrat wie Münchens | |
Oberbürgermeister Georg Kronawitter vor "Volksaufständen". Die SPD, deren | |
Stimmen für die zur Änderung des Grundgesetzes nötige Zweidrittelmehrheit | |
gebraucht wurden, knickte ein, der Asylkompromiss wurde Gesetz. | |
Bereits im Lauf der hitzigen Debatte werden die "Volksaufstände" Realität. | |
Im sächsischen Hoyerswerda erzwingen im September 1991 Bürger in | |
Pogromstimmung die Evakuierung eines Wohnheims für Asylsuchende. In | |
Rostock-Lichtenhagen belagert vom 22. August 1992 an ein rechter Mob unter | |
dem Applaus von 3.000 Schaulustigen die Zentrale Aufnahmestelle für | |
Asylbewerber, Molotowcocktails fliegen, die Menschen in dem Gebäude | |
überleben knapp. Im Oktober werden im niederrheinischen Hünxe zwei im | |
Libanon geborene Kinder schwer verletzt. Immer mehr rassistische Vorfälle | |
werden bekannt: aus Krefeld, Bremen, Bergen auf Rügen, dem Ostseebad | |
Kühlungsborn. Im November brennt im schleswig-holsteinischen Mölln das Haus | |
einer türkischen Familie, zwei Frauen und ein Mädchen sterben. | |
Schließlich, am 29. Mai, drei Tage nach der Bundestagsdebatte, brennt in | |
Solingen das Haus der Familie Genc. | |
Die neunjährige Hülya Genc, die zwölfjährige Gülüstan Öztürk, an diesem | |
Pfingstwochenende in Solingen zu Besuch, die 18-jährige Hatice Genc sterben | |
in den Flammen. "Ich brenne", ruft der damals 15-jährige Bekir Genc - und | |
springt, bevor die Feuerwehr ein Polster aufblasen kann. Er überlebt schwer | |
verletzt. Die 27-jährige Gürsün Ince aber, Tochter der Familie Genc, stirbt | |
genauso wie die vierjährige Saime Genc bei dem Versuch, sich mit einem | |
Sprung aus dem Fenster zu retten. | |
Die Trümmer des Hauses rauchen noch, da wird der erste Verdächtige | |
festgenommen. Es ist der Schüler Christian Reher. Der 16-Jährige wohnt nur | |
50 Meter vom Haus der Familie Genc entfernt, er gehört zur rechten | |
Jugendszene Solingens. Bald darauf werden auch der Sozialhilfeempfänger | |
Markus Gartmann, 23, der Gelegenheitsarbeiter Christian Buchholz, 20, sowie | |
der Schüler Felix Köhnen, 16, verhaftet. "An der Kreuzung Schlagbaum kamen | |
die Angeklagten schnell ins Gespräch", heißt es im Urteil des | |
Oberlandesgerichts. "Schon bald wurde der Vorschlag laut, ,den Türken' | |
einen ,Denkzettel' zu verpassen und ,ein Haus anzuzünden'. Der Angeklagte | |
R. wies sofort auf das von der Familie Genc bewohnte Haus hin. Dieser | |
Vorschlag fand sofort allgemeine Zustimmung. Dabei war man sich einig, ohne | |
dass dies näher diskutiert wurde, Benzin zu beschaffen." | |
Heute klafft dort, wo das Haus der Familie Genc stand, eine Baulücke. | |
Gemeinsam mit der Stadtverwaltung hat SOS Rassismus Terrassen angelegt und | |
für jedes Todesopfer eine Kastanie gepflanzt. Nordrhein-Westfalens | |
CDU-Sozialminister Armin Laschet lobt gern Solingens "vorbildliches | |
Integrationskonzept". Anne Wehkamp, die Beauftragte der Stadt, versucht, | |
die Verwaltung zu sensibilisieren, Migranten durch Sprachförderung zu | |
helfen, bei der Arbeits- und Wohnungssuche zu unterstützen. Über aktuelle | |
Themen berät ein Zuwanderer- und Integrationsrat. Der 1997 gegründete | |
Jugendstadtrat organisiert für den Jahrestag am Freitag eine Aktion gegen | |
rechts - Konzerte, Lesungen, Kunst. Das sei auch nötig, sagt Jugendstadtrat | |
Justus Gather: Zwar wachse die Skinhead-Szene nicht, dafür gebe es aber | |
immer mehr rechtsextreme Jugendliche, die sich mit Normalo-Klamotten | |
tarnten. | |
Die Stadt finanziert auch das "Bündnis für Toleranz und Zivilcourage", das | |
am Jahrestag des Brandanschlags Gedenkveranstaltungen organisiert und für | |
"engagiertes und couragiertes Auftreten im Alltag" einen Preis mit dem | |
Namen "Silberner Schuh" verleiht. "Für den mutigen Schritt nach vorn" stehe | |
der Preis, erklärt der Geschäftsführer des Bündnisses, der hauptamtlich im | |
Familienbüro der Stadt arbeitet. In diesem Jahr geht der "Silberne Schuh" | |
an die Gesamtschule Solingen. Seit 1988 pflegen Schüler den 1941 | |
geschlossenen jüdischen Friedhof. Sie haben Kontakt mit den in der ganzen | |
Welt verstreut lebenden Angehörigen der dort Beerdigten. Mit der Familie | |
Genc aber "hat das direkt nichts zu tun", sagt Michael Sandmöller, der | |
Religionslehrer, der die Gruppe betreut. | |
Über die Verleumdungen gegen Mevlüde Genc spricht Sandmöller ebenso ungern | |
wie die Integrationsbeauftragte Wehkamp. Die 65-Jährige Genc, die bei dem | |
Anschlag fünf Angehörige verloren hat, wurde drei Jahre nach der Tat mit | |
dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, weil sie zum friedlichen | |
Zusammenleben von Deutschen und Zuwanderern aufgerufen hatte. In der Stadt | |
wurde getratscht, sie habe sich unter Hinweis auf den Anschlag schon mal | |
geweigert, ihre Einkäufe zu bezahlen. Und das neue Haus der Familie - | |
bezahlt mit dem Geld der Versicherung und dem Kaufpreis für das Grundstück | |
in der Unteren Wernerstraße - sei ja mehr als luxuriös, sogar einen | |
Swimmungpool gebe es, erzählen Solinger noch heute. Tatsächlich gibt es | |
dort statt Pool Brandschutzfenster. | |
Die Nachfrage, warum trotz Stadtratbeschluss noch heute keine Straße, kein | |
Platz in Solingen an den Mordanschlag erinnert, ist den Verantwortlichen | |
unangenehm. "Anwohner haben sich gewehrt. Sie fürchteten um den Wert ihrer | |
Häuser", sagt etwa Frank Knoche, der für die Grünen im Stadtrat sitzt. | |
Selbst das Denkmal, das an den Brandanschlag erinnert, steht nicht in der | |
Stadtmitte. Stattdessen zerbrechen vor der zwei Kilometer entfernten | |
Mildred-Scheel-Schule, die die damals 18 Jahre alte Hatice Genc besucht | |
hat, Metallfiguren ein Hakenkreuz. In der Innenstadt sollte der "soziale | |
Frieden" nicht gefährdet werden, lautet die Begründung dieser | |
Standortentscheidung. Der Wall aus Metallringen mit den eingravierten Namen | |
derer, die damit ihre Solidarität mit den Opfern des Anschlags ausdrücken | |
können und der irgendwann das Hakenkreuz verdecken soll, wächst noch immer. | |
Gerüchte gibt es auch um die zu Strafen zwischen zehn und fünfzehn Jahren | |
verurteilen Täter. Alle sind mittlerweile aus der Haft entlassen wurden. | |
Zwei von ihnen, der aus einem linksliberalen Elternhaus stammende Felix | |
Köhnen und Christian Buchholz, Sohn eines Handwerkers, haben nie gestanden. | |
Der Arztsohn Köhnen, dessen Vater sich bei den "Ärzten gegen den Atomkrieg" | |
engagierte, als Täter - das erscheint unvorstellbar. | |
Stattdessen kursieren Verschwörungstheorien über eine Verwicklung von | |
Geheimdiensten: Bernd Schmitt, Betreiber der Kampfsportschule, in der die | |
vier trainierten und die zum Anziehungspunkt für Rechtsextreme aus der | |
ganzen Region wurde, war V-Mann des NRW-Verfassungsschutzes. Bei Christian | |
Reher, den manche für einen Einzeltäter halten, ist das anders - der wurde | |
wegen Zeigens des Hitlergrußes noch einmal zu vier Monaten Haft verurteilt. | |
Vor "politischen Gewalttätern", die "schnell zuschlagen und dann in der | |
Menge untertauchen", warnt am Montag im nur halbvollen Solinger Konzerthaus | |
auch Wolfgang Schäuble. Auf das Leid der Familie Genc geht der | |
Bundesinnenminister nur kurz ein. Für ihn ist der Jahrestag ein "Tag der | |
Hoffnung" - wegen der versöhnlichen Haltung der Familie Genc. | |
28 May 2008 | |
## AUTOREN | |
Andreas Wyputta | |
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