# taz.de -- Wo das Feuer fehlt: Hauptstadt der Kleinstädte | |
> Von wegen "Züri brännt". Auch zur Alpen-Europameisterschaft wird das | |
> stets bedächtige Leben seinen gewohnt langsamen Gang nehmen - die | |
> Besucher aus den Fußballhochdrucknationen werden das nicht ändern | |
Bild: Im Letzigrund-Stadion | |
Wenn eine Stadt so viele Feinde hat, muss sie ein ehrenwerter Ort sein. | |
"Zürich, das ist doch tiefste Provinz, die sich für eine Weltmetropole | |
hält", knurrt der eine Zürich-Hasser, und ein anderer murrt: "Zürich ist so | |
schrecklich sauber, auf den Straßen liegt nicht mal eine Zigarettenkippe." | |
Gleich kommt einem James Joyce in den Sinn, der schon über Zürich spottete, | |
dass "man in der Bahnhofsstraße die Minestrone vom Boden löffeln könne." | |
Bei so viel Feinden ist es auch kein Wunder, dass die Züricher mit den | |
Vorurteilen über sich und ihre Stadt kokettieren. Wie alle Bewohner schöner | |
und reicher Orte behaupten sie gern das Gegenteil. In Wirklichkeit nämlich, | |
erklären sie jedem Besucher, seien die Züricher arm. Sie hätten schließlich | |
nichts als "die gute Luft, das saubere Wasser und die hohen Berge". Luft, | |
Wasser, Erde? Und was ist mit dem vierten Element?, fragt man sich. Das | |
Feuer haben die Züricher tatsächlich nicht erfunden. Am Anfang war eher die | |
Feuerversicherung. Züricher sind langsam, gemächlich und bedächtig. | |
Beispiel: Iris. Die einem die Vorzüge Zürichs präsentiert. Dabei legt sie | |
vorsichtig den Kopf auf die Seite, lässt die Augen umherrollen, als ob ihr | |
von irgendeiner Seite Gefahr droht. Dann wälzt sie mit ihren | |
Sprechwerkzeugen die Buchstaben im Mund herum, damit auch ja kein Wort zu | |
schnell hervorgestoßen wird. "Schauspielhaus" klingt dann wie | |
"Schaahuuhschpiehlhaahuus", und in der selben Zeit hätte ein Berliner | |
bereits Goethes "Faust" vorgetragen. "Faust I" und "Faust II". | |
Dabei sind die Züricher für Schweizer Verhältnisse noch harmlos, heißt es. | |
Schlimmer noch seien die Berner, die mit ihrem Zeitlupentempo jeden normal | |
getakteten Menschen in den Wahnsinn treiben könnten. Aber es hat ja auch | |
sein Gutes, dass dem Züricher jedes Feuer fehlt. Von der Schweiz sind noch | |
nie Eroberungskriege ausgegangen, und Zürich wurde in seiner Geschichte | |
niemals zerstört. Selbst von Feuersbrünsten und Großbränden wurde die Stadt | |
zwischen Limmat und Sihl weitgehend verschont. | |
Kaum einer ist zu Schaden gekommen, wenn man die paar historischen | |
Gestalten vernachlässigt, die im ach so beschaulichen Zürich einst bei | |
Judenpogromen ums Leben kamen, wie die Stadtführerin gewohnt | |
leidenschaftslos bekennt, als ob sie von einem Auffahrunfall berichtet. | |
Heute jedenfalls seien die Beziehungen zu den wenigen in Zürich heimischen | |
Juden sehr gut. | |
Hinter der feinen Fassade Zürichs gab es eben immer auch eine dunkle Seite | |
mit zwielichtigen Figuren wie Johann Caspar Lavater, der im 18. Jahrhundert | |
Pastor an der Peterskirche war und ein Star seiner Zeit, weil er in seinem | |
Werk über die "Menschenkenntnis" behauptete, dass man von der Physignomie | |
eines Menschen auf seinen Charakter schließen könne. So wurde der | |
"Menschenfreund" Lavater einer der Vorväter des Faschismus. Heute hat die | |
Rolle des Bösen, neben all den Diktatoren und ähnlichen Schurken, die in | |
Zürich ihre geraubten Vermögen deponieren und verprassen, zum Beispiel | |
Joseph Blatter, der als Fifa-Führer in seinem fünf Stockwerke tief in die | |
Erde gebauten Bunker am Zürichberg die Welt mindestens des Fußballs zu | |
beherrschen versucht. | |
Doch es gibt auch die guten Züricher, die aus der Geschichte heraus ebenso | |
allgegenwärtig sind wie die schlechten: Dichter wie Gottfried Keller oder | |
Georg Büchner, deren Geburts- bzw. Wohnhäuser in der Altstadt präsent sind. | |
Dort existiert auch immer noch das legendäre Cabaret Voltaire, in dem der | |
surrealistische Nonsens des Dada das Licht der Kunstwelt erblickte, und das | |
Kabarett "Pfeffermühle", das zeitweise die Mann-Tochter Erika bespielte, | |
während ihr Übervater Thomas genau wie James Joyce in Zürich seine letzten | |
Lebensjahre verbrachte. | |
In der verwinkelten Altstadt liegt auch das Wohnhaus Lenins, von dem gern | |
die Anekdote erzählt wird, dass er bei seiner überstürzten Abreise zur | |
Novemberrevolution nach Russland vergaß, sein Bankkonto aufzulösen. Fünf | |
Franken und ein paar Rappen sollen angeblich noch auf dem Konto gebucht | |
sein. Wie hoch die Summe heute durch die angefallenen Zinsen ist, weiß | |
niemand - es sei denn die Züricher Banker, die stets ihren Schnitt machen. | |
So sind sie schließlich reich geworden, spätestens nach dem Zweiten | |
Weltkrieg, als sich viele sogenannte nachrichtenlose Vermögen ihren meist | |
jüdischen Besitzern nicht mehr zuordnen ließen. | |
Doch über Geld redet der Züricher nicht gern, das hat er lieber, auch um an | |
der Vervollkommnung der vier, nein, drei Grundelemente seiner Stadt zu | |
arbeiten: Sauberkeit, Reinheit, Fleckenlosigkeit. Stolz werden dann die | |
wahrlich schönen 22 Flussbäder aufgelistet, deren reines Wasser aus den | |
beiden Flüssen Limmat und Sihl gespeist wird. Diese Bäder sind tatsächlich | |
wunderschön, und das Bezauberndste ist das "Frauenbad" am Stadthausquai. | |
Erst ab 18 Uhr ist es Männern erlaubt, die Schuhe auszuziehen und das Bad, | |
das sich jetzt zu einer Sommernachtsbar wandelt, zu betreten. | |
Hoch über der sauberen Stadt liegt der Üetliberg. Vom Aussichtsturm auf der | |
Spitze aus kann man besonders das nächtliche Zürich bewundern. Um auf den | |
870 Meter hoch gelegenen Hausberg der Züricher zu gelangen, empfiehlt es | |
sich allerdings, die Üetlibergbahn nutzen. Im Winter liegt der Gipfel oft | |
über der Züricher Hochnebeldecke, dann zeigen unten am Fuße des Berges | |
Schilder an den Trambahnen an, ob der "Uetliberg hell" ist. | |
In die Erde hineingegraben dagegen ist das extra für die | |
Europameisterschaft neu errichtete Stadion Letzigrund. Es wird auch "die | |
Hochzeitstorte" genannt - wegen der kerzenartig angeordneten 31 | |
Flutlichtmasten. Das ist dann aber auch das einzige Feuer, das im Stadion | |
brennt. Denn unter dem luftigen Holzdach kann sich nicht allzu viel Ekstase | |
entwickeln. Das 30.000 Zuschauer fassende Letzigrund-Stadion gilt als | |
Stimmungstod, und es wird sich zeigen, ob es beim ersten großen | |
Spitzenspiel der EM, am 17. Juni bei der Partie Frankreich gegen Italien, | |
anders zugeht als an Tagen, da der FC Zürich im Stadtderby gegen die | |
Grashoppers spielt und aus der heimischen Südkurve des FC lediglich | |
lauwarme Wellen der Begeisterung ins Rund schwappen. Durch die offene | |
Bauweise kann man selbst von der Straße hinterm Stadion aus dem Geschehen | |
auf dem Rasen zuschauen. | |
Eine Offenheit, die dem Züricher selbst nicht ganz geheuer ist. Längst hat | |
sich auch ein leichtes Unbehagen in der "Hauptstadt der Kleinstädte" | |
ausgebreitet. Genau weiß niemand in dem 370.000-Seelen-Dorf, was da | |
eigentlich auf einen zukommt an den vier Züricher Spieltagen der | |
Alpen-Europameisterschaft - besonders am 17. Juni, wenn mit den Fans | |
Italiens und Frankreichs gleich zwei führende Fußballbluthochdrucknationen | |
aufeinandertreffen. Erwartet werden an diesem Tag mindestens 100.000 | |
Besucher aus den Nachbarländern. Zwar gibt man sich im wahrsten Sinne des | |
Wortes gewappnet für alle Sicherheitsfälle, und die Züricher Polizei gilt | |
nicht gerade als sanfte Truppe, aber bei dem Gedanken, welch große Menge | |
durch die Fanmeile entlang der Limmat und über den Walk of Fans vom Stadion | |
bis in die Public-Viewing-Zonen strömen wird, ist dem Züricher schon etwas | |
schwummrig. | |
Aus Übungszwecken testen die Züricher deshalb seit einigen Jahren ihren | |
Umgang mit größeren Menschenmengen und veranstalten nach Berliner Vorbild | |
eine "Street Parade", die "farbigste, schönste und größte | |
Technoveranstaltung der Welt", wie es in der Eigenwerbung heißt. Und selbst | |
die Diskussion um die in den vergangenen Jahren massenhaft in die Schweiz | |
eingewanderten Deutschen scheint inzwischen auf einem Stand angelangt zu | |
sein, dass man es als Gewinn betrachtet, wenn gut ausgebildete Ausländer | |
den Schweizern in manchen Bereichen ein wenig auf die Sprünge helfen. | |
Apropos Sprünge. Am Paradeplatz offenbart sich endlich, warum der Züricher | |
in Wahrheit so unterkühlt ist. Mitten in der Innenstadt, gegenüber den | |
großen Bankhäusern, in denen all die undurchsichtigen Vermögen liegen, | |
befindet sich die "Confiserie Sprüngli". Das "Sprüngli" ist die eigentliche | |
Zentrale der Macht in Zürich und eines der besten Schokoladenhäuser der | |
Welt. Jede erhöhte Temperatur würde seine Schätze schmelzen lassen. In | |
diesem Paradies für Schokoladenfreunde passt sich der Besucher endgültig | |
dem Züricher Tempo an und schlendert gemessenen Schrittes durch die kühlen | |
Räume mit all ihren verlockenden Köstlichkeiten, die den Einkaufskorb peu à | |
peu füllen, bis sich die Kreditkarte vor Entsetzen biegt. Billig ist Zürich | |
wahrlich nicht. | |
Wenn man dann auch noch auf dem Flughafen im neugerichteten Showroom der | |
Mutterfirma Lindt dem hauseigenen Chocolatier bei der Herstellung | |
handgemachter Igelpralinen zuschaut und am Sonntagnachmittag satte 15 Stück | |
isst und, bepackt mit großen Tüten voller Pralines und Schokoladentafeln, | |
den Weg zum Terminal antritt, dann muss man sich schon ein wenig Sorgen | |
machen, ob das Flugzeug überhaupt noch abheben kann. Doch mit vollem Schub | |
der Triebwerke gelingt es zu guter Letzt dem Piloten, die Maschine von der | |
Startbahn hochzuziehen. Und im Bauch des Flugzeugs freut sich der | |
wahrscheinlich schwerste Schokoschmuggler der Welt auf süße Wochen daheim. | |
28 May 2008 | |
## AUTOREN | |
Michael Ringel | |
## TAGS | |
Reiseland Schweiz | |
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