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# taz.de -- Kleine Liebesgabe von Manfred an Dorothea: Die Praxis der Galaxie
> Kennengelernt haben sich Manfred Grashof und Dorothea Ridder in den
> Anfängen der RAF, geheiratet, als Manfred im Knast saß. Jetzt äußert er
> sich erstmals öffentlich - für Dorothea.
Bild: Trauung im Knast: Das Hochzeitsfoto von Dorothea Ridder und Manfred Grash…
Vorausschicken möchte ich hier noch Folgendes: Manfred Grashof äußert sich
hier zum ersten Mal öffentlich. Alle Interviewwünsche lehnte er, wie
gesagt, kategorisch ab. Der folgende Text soll daran auch nichts ändern. Er
ist eine Ausnahme. Eine Liebesgabe für Dorothea Ridder.
Manfred Grashof wohnt alleine, im obersten Stockwerk eines Kreuzberger
Hinterhauses. Er führt uns ein paar Treppchen hinauf zu einem
paradiesischen Dachgarten, den er zusammen mit anderen vor Jahren anlegte.
Gemeinsam wird das üppig blühende Refugium genutzt und gepflegt. Er stellt
Saft und irischen Whiskey auf den Tisch, lächelt sanft, dreht sich eine
Zigarette und beginnt dann zu erzählen:
"Kennengelernt habe ich Dorothea in der Anfangsphase der RAF, da ging es ja
darum, die bereits Illegalisierten, von Haftbefehl Bedrohten, Baader,
Ensslin usw., die hier in Westberlin waren, sicher unterzubringen. Also
Wohnungen organisieren, bisschen Infrastruktur, aber das ging natürlich
nicht ohne die Hilfe von legalen Leuten, Sympathisanten und Unterstützern.
Das war sie. Dorothea, muss ich sagen, war eine gute, klandestine
,Mitarbeiterin'. Ich habe sie damals flüchtig kennengelernt und gleich
wieder aus den Augen verloren. Dann kam ja auch ihre Festnahme. Ich war zu
der Zeit in Westdeutschland im Untergrund - wir gingen zu dieser Zeit alle
irgend wann nach Westdeutschland. Westberlin haben wir dem 2. Juni
überlassen. So war das.
Wieder gesehen haben wir uns erst viel später. Da war ich schon zehn Jahre
im Knast. Sie war inzwischen längst wieder legalisiert und hatte ihre
Arztpraxis, glaube ich, schon. Wir hatten all die Jahre überhaupt keinen
Kontakt, der kam erst wieder über Astrid Proll zustande, kann das sein?
Über ihren Prozess? Eines Tages jedenfalls stand Dorothea vor den
Gefängnistoren, natürlich mit Voranmeldung. Wir haben uns viel geschrieben
und uns kennengelernt. Irgendwann kamen wir auf die Idee, dass wir
heiraten. Das war übrigens vollkommen unabhängig von irgendwelchen
taktischen Erwägungen, muss ich sagen, nicht vorteilsmäßig. Da war auch
noch gar nichts in Sicht von einer eventuellen Begnadigung. Das war
überhaupt kein Thema damals! Wir wollten es einfach. Und ,gesponsert' hat
uns mein damaliger superliberal-katholischer Knastpfarrer, Hubertus
Janssen. Der hatte hauptberuflich eine Kirchengemeinde in Dietz und er hat
Dorothea auch immer aufgenommen, wenn sie mich besucht hat. Also solche
Leute gibts wahrscheinlich immer seltener. Er lebt noch, ist aber kein
Knastpfarrer mehr.
Also der hat uns sehr gefördert. Und bei der Trauung, da kam dann morgens
ein Standesbeamter. Ich durfte sogar einen Anzug anziehen. Den hat mir
übrigens Erich Fried schicken lassen, den hat er mir gekauft für diesen
Anlass. Er meinte, ein Anzug muss sein! Er hat mich auch besucht zu dieser
Zeit. Das lief alles über Dorothea. Immer wenn er in Deutschland oder in
Berlin war, war Dorothea seine Ärztin. Er war ja schwer krebskrank, hat
immer so ein Ding mit sich rumschleppen müssen … Er hat mich trotzdem ein
paarmal besucht, hat sogar eine Lesung veranstaltet im Knast, wieder mit
Hilfe von Hubertus Janssen. Also ich hatte den Anzug an und sie irgendwas
Indisches. Ich habe sogar ein Foto. Und vorher haben wir auch noch, in
letzter Sekunde, mit einem Notar eine Regelung getroffen wegen
Gütertrennung. Sie war ja praktizierende Ärztin, also das war schon besser
so. Und anschließend gab es eine Feier mit Kaffee und Kuchen und
Kinkerlitzchen, alles von Hubert organisiert. In seinem Pfarrbüro im Knast.
Zu der Zeit war ich 38, hatte 13 Jahre abgesessen und vielleicht noch
weitere 12 bis 15 Jahre vor mir. Das wusste ja kein Mensch. Dass es dann
anders kam, war für uns ganz überraschend. Als Erster kam Jünschke raus, da
hatten der Hubertus und die anderen ja auch mit dran geschraubt, an seiner
Begnadigung. Und dann kam ich auch dran, ein Jahr später. Regulär bin ich
schon am 2. März 1989 entlassen worden. Und dann wollten die mich ja
partout nicht nach Berlin entlassen. Aber ich hatte drei Pluspunkte: Meine
Tochter war damals von Kiel nach Berlin gezogen, Dorothea, meine Frau,
lebte in Berlin als niedergelassene Ärztin, und ich hatte einen Job in
Aussicht am Grips Theater. Es ging ja um Resozialisierung. Damals wurde das
teilweise noch ernst genommen. Inzwischen ist das nur noch Makulatur. Der
Arsch hat ihn ja nicht begnadigt, den Klar, obwohl Peymann ihm am Berliner
Ensemble eine Stelle angeboten hat. Von März 88 bis 89 war ich dieses eine
Jahr im Freigängerhaus, im Süden von Berlin, in Zehlendorf. Ich brauchte ja
ein bisschen eine Angewöhnung an das Leben, das ja vollkommen anders
geworden war. Tagsüber habe ich am Theater gejobbt und musste nachts wieder
drin sein. An den Wochenenden war ich dann meist in Nikolassee bei
Dorothea. Und dann haben wir auch mal so ein paar Kurzferien gemacht übers
Wochenende, als es dann möglich war. Und ich weiß noch, wie wir mal für ein
paar Tage auf die Insel Amrum fahren wollten und nie ankamen. Wir fuhren
aus Hamburg raus, Richtung Nordsee, im Spätherbst. Das Autoradio war an und
plötzlich hören wir die Nachricht vom Tod von Erich Fried. O Mann, hat uns
das umgehauen! Wir mussten anhalten. Er war irgendwie bei einer Lesetour in
Baden-Baden - ja, es lag schon in der Luft. Wir waren vollkommen fertig.
Drüben habe ich noch den Anzug liegen, den er mir zur Hochzeit gekauft hat.
Nee, also Dorothea war eine ganz Zuverlässige, immer! Auch belastbar, wie
man damals gesehen hat, sie ist ja dann auch dafür in den Knast gegangen.
Und hat auch nichts irgendwie ,bereut'. Sie hat ihr Ding gemacht, hat ihr
Studium durchgezogen, ist Ärztin geworden und war trotzdem da. Das ist
total anerkennenswert. Sie ist eine integre Person, und das ist ja
eigentlich auch diese verdammte Ungerechtigkeit, ihr weiteres Schicksal
dann, dieser Scheißschlaganfall! Und jetzt die epileptischen Anfälle und
alles …
Nach meiner Entlassung, um jetzt noch mal anzuknüpfen, bin ich dann
natürlich bei ihr eingezogen. Erst mal. In Nikolassee war die Situation,
die ich vorfand, etwas schwierig. Sie hat natürlich, während ich im Knast
war, draußen ihr eigenes Ding gemacht. Hat mir das natürlich auch nicht
alles unbedingt aufs Brötchen geschmiert, aber von Anfang an war klar, dass
da ein anderer war. Der berühmte Andrew, der sich heute nicht mehr blicken
lässt bei ihr, obwohl er zehn Jahre lang ihr Lebensgefährte war, und sie
ihn protegiert hat von vorn bis hinten. Und dann hat er eine brasilianische
Tänzerin kennengelernt … Na gut, ehrlich gesagt, ich hab gut reden. Ich bin
auch nur selten draußen bei ihr … Jedenfalls draußen in Nikolassee mit uns
dreien, das ging mir tierisch auf den Senkel. Ich hab sie total verstanden.
Aber ich habe ihr gesagt, Dorothea, ich ziehe mich diskret zurück. Das
sieht sie ja heute anders. Sagt, ich hätte sie verlassen. So ein Quatsch!
Ich bin einen Schritt zur Seite gegangen und bin meine eigenen Wege
gegangen. Ich dachte, was soll ich denn da? Was soll ich mit der ganzen
Natur? Ich wollte richtig ins Leben. Natürlich habe ich immer noch den
Kontakt gehalten.
Ein anderes Problem war auch die Praxis, das hat mich manchmal zur Weißglut
gebracht. Also Dorothea war, das muss ich mal sagen, auch schon vor ihrem
Schlaganfall eine sehr komplizierte, manchmal durchgeknallte Person. Es gab
einen Running Gag zu ihrer florierenden Praxis am Nollendorfplatz, die hieß
in Insiderkreisen "Die Praxis der Galaxis". Sie hat sich da vollkommen
überfordert, zwölf Stunden am Tag und mehr. Am Anfang habe ich versucht,
mich da irgendwie einzuklinken, helfend! In irgendeiner Form. Das war eine
reine Frauen-WG, wenn man so will - die Assistentinnen könnten euch sicher
viel erzählen! Eine hieß, glaube ich, Renate, die war von Anfang an dabei.
Leider habe ich den Kontakt verloren. Ich hab ja schon im Knast eine Menge
von Dorotheas Arbeit mitbekommen. Nicht, dass wir dauernd darüber geredet
hätten, aber ab und zu hat sie mal was erzählt. Ich erinnere mich an eine
Patientin, die Frau war Chefstewardess, in den Dreißigern, und hatte einen
unheilbaren Unterleibskrebs. Sie war von allen Ärzten aufgegeben und gerät
in die ,Praxis der Galaxis' von Dorothea. Und ich sags mal kurz - die Frau
lebt heute noch! Dorothea hat sie geheilt. Nach meiner Entlassung habe ich
die Frau kennengelernt, ihr Mann war Optiker, oben auf der Uhlandstraße. Da
war ich jahrelang noch treuer Kunde mit meinen Brillen. Aber ist das nicht
erstaunlich? Dorothea hatte solche Erfolgsgeschichten, sie hatte eine große
therapeutische Fähigkeit zum Heilen. Fragt mich nicht wie, Schamanismus,
oder was weiß ich. Die Praxis war jedenfalls immer voll. Und da gings zu
wie in einem Taubenschlag. Die Patienten waren vollkommen gemischt. Sie
hatte auch totale Underdogs, nicht nur die, die auf Droge waren. Ihr müsst
euch vorstellen, sie sagt: Du, ich habe da jetzt so einen, den muss ich
Weihnachten bescheren, der hat keinen Menschen. Ich sag: Wie?! Ja, der
kommt aus Nigeria und ist illegal und was weiß ich, ein ganz Netter. Und
dann saß der zu Hause an Weihnachten. Ja, so war sie drauf. Und ob einer
einen Krankenschein hatte oder nicht, das hat sie überhaupt nicht
interessiert! Die Assistentinnen sind bald irre geworden. Aber die haben
absolut zu ihr gehalten.
Und bei ihr traf sich natürlich die halbe schwule Szene, von der
Fuggerstraße bis hin zum Nollendorfplatz. In ihrer Praxis hatte sie auch
die ersten Aids-Patienten - damals war Aids noch ne tödliche Krankheit. Das
war für mich übrigens ein Schock, ich werde aus dem Knast entlassen und bin
gleich mit HIV und dem ganzen Scheiß konfrontiert - und dann fällt auch
noch die Mauer! Also ich wollte gar nicht mehr leben. Nee, das war schon
merkwürdig, alles. Sie hatte einen langjährigen Freund, ich glaub, der kam
aus Haiti, ein intelligenter Typ, wunderbarer Mensch. Und der ist, glaub
ich, eines der ersten HIV-Opfer gewesen, weltweit. Also was den
Infektionszeitpunkt betrifft. Der hatte den Virus schon ganz lange." (Aids
wurde in den USA 1981 zur eigenständigen Krankheit erklärt, eine der
Theorien war: Sie kam aus Haiti. Eine andere: nordamerikanische
Sextouristen schleppten sie in Haiti ein. Anm. G. G.) "Das habe ich hautnah
erlebt, er ist dann im Jahr darauf gestorben. Um den hat sie sich immer
gekümmert. Sie war überhaupt ständig auf Achse und immer erreichbar für
ihre Patienten. Dann eines Tages hat sie endlich auch einen eigenen
Parkplatz gekriegt, mit Arztschild, und musste nicht immer kreisen. Sie hat
sich aufgerieben, ohne Rücksicht auf die Kosten und auf sich. Gegessen hat
sie auch nicht. Ich bin ins KaDeWe und habe den teuersten Henkelpott
gekauft, mit Thermo und so, hab mir zur Aufgabe gesetzt, jetzt sorge ich
jeden Tag für Essen. Koche ihr was, oder kaufe was und bring ihr das heiß
hin. Sie hat es nie angerührt, nie! Keine Zeit. Das war typisch, es hat
mich zur Weißglut getrieben. Aber so ist Dorothea eben. Sie hat vielen
geholfen oder sogar den Weg gebaut ins Leben, auch mir. Und natürlich hat
sie auch Schweine getroffen.
Da gabs so eine böse Geschichte, fällt mir ein, damals war ich noch im
Knast. Ich habe es über Briefe und Telefonate von ihr erfahren, dass sie
Opfer einer Erpressung geworden ist. Irgendein Kollege wollte eine immens
hohe Summe haben, sonst würde er sie wegen irgendwas auffliegen lassen.
Keine Ahnung, was im Einzelnen los war. Und ich bin fast irre geworden. Bin
richtig krank geworden, also nervlich. Das fiel zeitgleich zusammen mit dem
sauberen Herrn Stefan Aust und seinem ,Baader Meinhof Komplex'. Der hat
mich ja total übers Ohr gehauen, die Drecksau! Keiner hat so viel Kohle mit
der RAF gemacht wie der. Damals hat er Material gesammelt für das Buch, ist
rumgefahren, hat mit Leuten geredet. Ich kriegte eines Tages einen Brief
von ihm in den Knast, gleich so ranschmeißerisch, duzt mich, lieber Manfred
und Genosse usw., schreibe grade ein Buch, würde gerne deine Mitarbeit …
usf. Ich habe ihm zurückgeschrieben: NO! Ich will nichts zu tun haben mit
diesem Projekt! Danach dachte ich, das ist gegessen. Und dann wars
Dezember. Alle bekommen Pakete und ich werde runtergerufen Heiligabend in
die Kammer: Post für Sie, ein Buch. Wisst ihr, normalerweise muss man jedes
Buch beantragen, es muss alles genehmigt werden usf., und ich bekomme da
plötzlich ohne Weiteres ein Buch ausgehändigt? In der Zelle schlag ich den
auf, den ,Bader Meinhof Komplex' von Aust, da liegt eine Visitenkarte drin:
,Viel Spaß beim Lesen.' Der ist mir dann aber total vergangen. Ich finde da
Sachen über mich, von denen er gar nichts wissen konnte! Aus einem
top-secret psychologischen Gutachten, was ich grade mit Mühe und Not im
Knast hatte über mich ergehen lassen. Ich bin vollkommen hinten
runtergefallen, als ich das da drin gelesen habe! Eine Woche später - es
waren ja Feiertage, es war schrecklich - habe ich dann von meinem Anwalt
die ganze Scheiße erzählt bekommen. Es war so, der Aust hat mein Nein
einfach ignoriert. Er hat eine Angestellte meiner Anwaltskanzlei in
Frankfurt zum Diebstahl veranlasst. Sie hat es für ihn aus meinen Akten
geklaut. Sie flog dann zwar raus, aber da war es ja schon zu spät. Stellt
euch das mal vor! Er ist ja investigativer Journalist. Hallo! Und dieser
noble Herr gilt bis heute als seriös. Also ich bin absolut allergisch gegen
Interviews! Die Ausnahme mache ich nur, weil es um Dorothea geht.
Wie kam ich jetzt eigentlich auf den Aust? Ach ja, wegen dem Kerl, der
Dorothea zur gleichen Zeit erpresst hat. Diese beiden Katastrophen haben
mich völlig krank gemacht. Ich bin ausgeflippt. Ich musste mit
Polizeischutzmaßnahmen in ein Krankenhaus verlegt werden. Und Dorothea hat
mich dort besucht. Das war meine Rettung, sie war einfach da! So war sie,
sehr stark. Sie hat auch die Erpressungssache selber geregelt. Clever wie
sie ist, hat sie sich gar nicht unter Druck setzen lassen. Sie ist einfach
zur Polizei gegangen. Die haben sich dann mit ihr zusammen eine
Konstruktion ausgedacht, eine Falle, in die er dann auch prompt
reingegangen ist. Das konnte sie auch, aber sonst, nur Solidarität. Und so,
wie Dorothea mich unterstützt hat, hat sie auch andere unterstützt,
besonders Astrid Proll. Die war ja jahrelang in London untergetaucht -
damals bei ihr hatte übrigens auch Erich Fried seine helfenden Hände im
Spiel, Dorothea hat ihn später dann auch durch Astrid kennengelernt, glaube
ich. Jedenfalls Astrid war ja lange auf der Flucht, man las immer mal was.
Sie war ungefähr so ein Phänomen wie Carlos: Astrid Proll wurde wieder da
und dort gesichtet. Aber dann ist sie festgenommen worden in London, stand
vor der Auslieferung, und dort hat Dorothea sie besucht. Das muss so 78
gewesen sein. 1979 wurde sie ausgeliefert nach Deutschland. Bei ihrem
Prozess war dann auch Dorothea anwesend, sie saß im Zuschauerraum. Und ich
habe ausgesagt!"
(Dass er vor Gericht erschien u. aussagte, war ungewöhnlich und zog schnell
Verratsvorwürfe nach sich. Anm. G. G.). "Das war mir egal. Ich war ja
verurteilt, saß bereits sieben Jahre im Knast und hatte nichts mehr zu
verlieren. Astrid hatte viel zu verlieren. Aber lasst euch das von ihr
selbst erzählen, die ganze Geschichte. Den Vorwurf Verräter kenne ich ja
schon seit dem Hungerstreik. Dieser gigantisch inszenierte strategische
Hungerstreik damals. Da hat mich nicht das Hungern angestunken, es hat mich
angestunken, dass ich gar nicht wusste, worum es geht. Okay. Und dann habe
ich irgendwann abgebrochen. Ihr müsst wissen, Jünschke und ich, wir saßen
in Zweibrücken, Meins saß in Wittlich und der Rest saß in Stammheim - die
Kommunikation war also höchst … Und kaum hatte ich abgebrochen, kamen die
Bullen in den Knast und machten mir Angebote, wollten mich interviewen, da
habe ich ihnen natürlich die Zähne gezeigt und habe wieder angefangen mit
dem Hungerstreik. Es kam dann auch so eine Reaktion von Meins: ,Du hast
dich fürs Schweinesystem entschieden' usw.
Und es gab da einen Brief von Frau … Wie heißt sie noch? Äh, ach Scheiße,
der Name ist weg!" "Ensslin?", sage ich. "Ja, klar! Sie schrieb: ,Scheiß
auf den Unteroffizier!' Ich dachte dann, Hallo! Wer sind die denn, die
haben gar nichts gemacht und ich sitze wegen Polizistenmord und werde hier
fertiggemacht? Ich hatte immer mehr das Gefühl, wir werden nur benutzt, für
irgendne Scheiße. Ich muss mich doch für diese Arschlöcher nicht … brrr …
Bin aber trotzdem wieder in den Hungerstreik getreten, denn das lasse ich
mir ja nicht nachsagen! Und unglücklicherweise, am Wochenende, starb Holger
Meins. Das war natürlich ein totaler Schock … brrr… Es war klar, so geht es
nicht. Ich hab dann irgendwann gedacht … brrr … So! Ich habe dann
,umgeswitcht', habe den Schalter umgelegt. Es hatte sich herausgestellt,
dass es so komische Führungsebenen gab, was man ja lange nicht recht
wahrhaben wollte. Ich habe mir dann gedacht, was soll ich mich aufreiben
für eine Sache, die ich nicht überschaue? Ich habe mich verabschiedet von
dem Konzept RAF. Aber nicht vor der Öffentlichkeit. Und ich schwöre euch,
ich habs nicht gemacht, um dem Staat zu signalisieren, so, der ist jetzt
brav, der ist weg, den könnt ihr haben … brrr… Nein! Ich habe einfach nur,
als Erster vielleicht, gemerkt, dass die Nummer RAF gelaufen war. So! Noch
Fragen?!", sagt er barsch.
Ich möchte wissen, wie Dorothea auf seinen Schusswaffengebrauch reagiert
hat. "Na total ablehnend. Darüber konnte man mit ihr eigentlich gar nicht
sprechen, sie hat da ihre Position und Schluss! Ich kam damals als
Deserteur der Bundeswehr nach Westberlin und war dann automatisch mitten
drin." (Was er nicht erzählt: 1969 entschlossen sich er und einige andere
Deserteure zu einer politischen Aktion. In Bundeswehruniformen vom
Kostümverleih begaben sie sich zur polizeilichen Meldestelle, um sich
vorschriftsmäßig anzumelden. Sofortige Verhaftung war die Folge. Zwar lag
ein Haftbefehl vor wegen Fahnenflucht, der hätte aber in Westberlin - wo
alliiertes Besatzungsrecht galt und westdeutsche Wehrgesetze keinerlei
Geltung hatten - gar nicht vollstreckt werden dürfen. In einem Akt offener
Rechtsbeugung wurden die Deserteure unter massiver Gewaltanwendung,
gefesselt und blutig geprügelt, auf dem Luftweg nach Westdeutschland
gebracht und dort inhaftiert. Anm. G. G. Genauer noch in: "Die Jahre der
Kommune I" von U. Enzensberger, S. 355).
"Dorothea war ganz klar gegen den ,bewaffneten Kampf', trotzdem hat sie ihn
ja eigentlich unterstützt. Fakt ist, sie war konsequent gegen das Tragen
von Knarren. Ich habe ihr das natürlich genau erzählt, wie das abgelaufen
ist, damals in der Wohnung in Hamburg. Wollt ihr es hören?" Wir möchten.
"Also der Grund, weshalb wir an diesem 2. März 1972 abends nach Einbruch
der Dunkelheit in diese Wohnung gingen, war, wir wollten sie auflösen.
Mittags um zwölf war nämlich in Augsburg an einer Bushaltestelle der Herr
Weißbecker erschossen worden, und Weißbecker war derjenige, der die Wohnung
ein paar Wochen vorher angemietet hatte. Es war klar, die Wohnung war heiß.
Wir hatten damals eigentlich das Prinzip, wenn eine Unterkunft heiß ist,
wird sie geräumt, beziehungsweise man geht gar nicht mehr hin. Das Blöde
war aber, es war die Fälscherwerkstatt, und ich hatte dort noch wertvolle
Sachen drin, die ich nicht aufgeben wollte. Eine spezielle Reprokamera,
groß wie ein Kühlschrank und sehr schwer zu beschaffen, und auch Dokumente
lagen noch da. Das war natürlich ein Riesenhirnriss von mir. Ich hätte
nicht mehr reingehen dürfen!
Fakt ist, wir sind trotzdem hingefahren. Und ich war bewaffnet, gebe ich
zu! Wir sind mit dem VW-Bus gefahren, einem Bulli, zweimal um den Block
gekreist, vorsichtshalber, haben aber niemanden bemerkt. Ich habe
Grundmann, der die Wohnung noch nicht kannte, kurz instruiert. Ihr müsst
euch das so vorstellen, das war ein kleines Appartement in einer Hamburger
Villa. Unten drin war der Kindergarten für so ne Sklaven-Firma Adia
Interim, das war die erste Leiharbeiterfirma in Deutschland. Und der
Kindergarten war für die Kinder der Leiharbeiterinnen. Abends um sieben war
das Haus tot. Oben war das Appartement. Wir gingen rauf, ich schließe auf,
und in dem Moment geht die Schießerei los, noch bevor ich das Licht
anknipsen konnte. Ohne jede Vorwarnung. Es hat aus allen Ecken geblitzt und
geknallt. In der Haft später habe ich ja genug Zeit gehabt, die ganzen
Protokolle zu lesen. Wir wurden den drei Bullen, die uns in der Wohnung
aufgelauert haben, minutiös angekündigt. Die hatten nämlich Funkkontakt zu
denen, die draußen das Haus beobachtet haben. Also sie hätten mir im
Dunkeln einfach eins über die Rübe geben können, zum Beispiel, und das wäre
es dann gewesen, für alle Beteiligten. Aber die hatten Angst oder was, sie
haben sofort geschossen. Das war völlig unprofessionell! Und ich hab
instinktiv reagiert, habe meinen Trommelrevolver gezogen und ins Dunkel
gefeuert. Dann wurde ich in den Kopf getroffen, in den Arm und in die
Brust. Es ging alles ganz schnell, ich lag auf dem Boden und war am
Ausbluten. Es war ein Geschrei, ich wusste gar nicht, was los war. Ich
hatte diesen Hauptkommissar auch irgendwie getroffen im Dunkeln. Plötzlich
ging das Licht an. Ich lag im Eingangsbereich der Wohnung und über mir
steht so ein Jungscher, die Maschinenpistole im Anschlag, und sagt: ,Wenn
du dich bewegst, drücke ich ab!' Das war mir vollkommen egal, ich habe mir
mit meinem Gürtel selbst den Arm abgebunden, denn es kam da raus wie eine
Fontäne, das Blut.
Dann kam nach unheimlich langer Zeit so ein Sanitätsteam, die sind mit der
Bahre über mich drüber in die Wohnung und haben den Kommissar rausgetragen,
dann mich auch. Damals hatten sie noch solche flachen Krankenwagen, so
Mercedes-Dinger, man wurde reingeschoben und nach oben war kaum mehr Platz.
Da robbt sich während der Fahrt der Begleitbulle auf mich drauf, hält mir
seine Knarre an die Schläfe und brüllt mich an: Wie heißt du, wo sind die
anderen?! Und dann waren wir schon im Uniklinikum Eppendorf, sie haben mir
die Sachen aufgeschnitten. Ich lag schon auf der Bahre für die
Notoperation, war halb bewusstlos, da kommt ein Bulle und fummelt an mir
rum. Der wollte meine Fingerabdrücke nehmen. Der Oberarzt musste ihn
wegscheuchen. Dann weiß ich nichts mehr, ich war ohnmächtig und wurde
operiert. Ich hatte einen Kopfdurchschuss, einen Lungendurchschuss und den
Schuss in den Arm.
Der Hauptkommissar war im Unterbauch getroffen, sie haben ihn ein- oder
zweimal operiert, aber er ist nach zwei Wochen gestorben. Das habe ich aber
alles erst viel später erfahren. Ich durfte ja keinerlei Kontakt haben. Auf
der Intensivstation saß neben mir ein Bulle mit durchgeladener
Maschinenpistole. Aber eine von den studentischen Nachtwachen hat mir
geholfen, damit ich einen Anwalt bekomme. Er hat mir heimlich einen Zettel
zugesteckt. Auf dem Zettel stand der Name: Kurt Groenewold. Der kam dann
auch. Also es haben mir immer wieder Leute geholfen, ohne die hätte ich gar
nicht überlebt. Sie haben mich dann ja, obwohl ich nicht transportfähig
war, lebensgefährliche Verletzungen hatte, in den Untersuchungsknast
zwangsverlegt, gegen den Protest der ganzen Ärzte. Von der Intensivstation
in eine dreckige, unhygienische Zelle, mit einem offenen Klo in der Ecke.
Das war ein Versuch, mich krepieren zu lassen. Ich wäre da auch kaputt
gegangen, aber in der Krankenabteilung gabs damals schon linke Ärzte. Ein
Dr. Ekkehard von Seckendorff, der später dann auch als Sympathisant zur
RAF… Also die haben mich gerettet, die haben dafür gesorgt, dass ich keine
Sepsis kriege, dass es glimpflich abgeht. Na, den Rest kennt ihr ja."
Wir wechseln schon abschließende Worte, Manfred wirkt erschöpft, Elisabeth
und ich sind im Begriff zu gehen, da erwähne ich noch das Spiegel-Interview
mit der Witwe des erschossenen Hauptkommissars. (Es erschien 2007, steht i.
Internet.) Er brummt unwillig: "Ja, hab ich auch gelesen damals …" Dann
ruft er plötzlich aus: "Ich wollte mich ja bei ihr entschuldigen …! Ich
habe das damals, noch vor meiner Entlassung, beschlossen. Habe es mit
meinem Knastpfarrer Hubert Janssen alles abgesprochen, der sollte ein
Gespräch arrangieren, das war alles schon geplant. Ich habe dabei
allerdings nicht an Public Relation gedacht. Hallo! Das hätte ich nicht vor
der Presse gemacht. Ich wäre da hingefahren zu Frau … ich weiß gar nicht
mehr den Namen …?" "Eckhardt", sagen wir. "Ja, ich wäre zu ihr hingefahren
nach Hamburg, und unter vier Augen … Also ich wollte keinen öffentlichen
Kotau machen, aber ich hätte ihr mein Bedauern ausgesprochen, ihr gesagt,
es tut mir leid … Ich war drauf und dran, wenn sie mich hätte sehen wollen.
Vielleicht, es hätte ja auch sein können, dass sie mir an den Kragen geht
oder so was … Also, es war ein zartes Pflänzchen meinerseits. Es lief dann
aber ganz anders. Ich kam raus aus dem Knast nach 17 Jahren, komme nach
Berlin, und am selben Tag erscheint die Bild-Zeitung mit riesengroßer
Aufmachung, ich glaube, auch mit Fotos, und da stand: ,… Dafür habe ich
kein Verständnis, der Mörder meines Mannes!' Und daraufhin habe ich mir
gesagt, jetzt leckt mich doch alle am Arsch, davon will sowieso kein Mensch
was wissen, was ich denke.
Ich habs euch ja geschildert. Die Stimmung war total hochgekocht damals,
wir sind da im Dunkeln aufeinandergeprallt, und dann ist es passiert.
Damals, als ich das mit dem Hubert besprochen habe im Knast, da hatte ich
wirklich das Gefühl, wenn ich es mache, dann breche ich damit ein ganzes
System auf, und es war mir egal, wenn wieder welche sagen, du Verräter -
das kannte ich ja alles schon vom Hungerstreik und vom Prozess von Astrid
…" Wir finden, dass der eigentliche Verrat darin bestehen würde, eine nicht
mehr haltbare Position als politische Linie weiter zu vertreten. "Aber das
war nicht gewollt, vom Staat nicht und nicht von unseren Leuten. Vielleicht
hätte sich sonst die Geschichte der RAF geändert. Versteht ihr?! Vielleicht
wäre das alles nicht passiert, was danach noch passiert ist. Das ging ja
noch jahrelang weiter! So, jetzt ist aber Schluss!" Sag uns noch, wann du
in die Ferien fährst, wegen der Belegexemplare …" Er knurrt: "Ich sage gar
nichts mehr. Keine Adresse und nichts, ich bin unerreichbar!"
28 Jul 2008
## AUTOREN
Gabriele Goettle
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