# taz.de -- Kleine Liebesgabe von Manfred an Dorothea: Die Praxis der Galaxie | |
> Kennengelernt haben sich Manfred Grashof und Dorothea Ridder in den | |
> Anfängen der RAF, geheiratet, als Manfred im Knast saß. Jetzt äußert er | |
> sich erstmals öffentlich - für Dorothea. | |
Bild: Trauung im Knast: Das Hochzeitsfoto von Dorothea Ridder und Manfred Grash… | |
Vorausschicken möchte ich hier noch Folgendes: Manfred Grashof äußert sich | |
hier zum ersten Mal öffentlich. Alle Interviewwünsche lehnte er, wie | |
gesagt, kategorisch ab. Der folgende Text soll daran auch nichts ändern. Er | |
ist eine Ausnahme. Eine Liebesgabe für Dorothea Ridder. | |
Manfred Grashof wohnt alleine, im obersten Stockwerk eines Kreuzberger | |
Hinterhauses. Er führt uns ein paar Treppchen hinauf zu einem | |
paradiesischen Dachgarten, den er zusammen mit anderen vor Jahren anlegte. | |
Gemeinsam wird das üppig blühende Refugium genutzt und gepflegt. Er stellt | |
Saft und irischen Whiskey auf den Tisch, lächelt sanft, dreht sich eine | |
Zigarette und beginnt dann zu erzählen: | |
"Kennengelernt habe ich Dorothea in der Anfangsphase der RAF, da ging es ja | |
darum, die bereits Illegalisierten, von Haftbefehl Bedrohten, Baader, | |
Ensslin usw., die hier in Westberlin waren, sicher unterzubringen. Also | |
Wohnungen organisieren, bisschen Infrastruktur, aber das ging natürlich | |
nicht ohne die Hilfe von legalen Leuten, Sympathisanten und Unterstützern. | |
Das war sie. Dorothea, muss ich sagen, war eine gute, klandestine | |
,Mitarbeiterin'. Ich habe sie damals flüchtig kennengelernt und gleich | |
wieder aus den Augen verloren. Dann kam ja auch ihre Festnahme. Ich war zu | |
der Zeit in Westdeutschland im Untergrund - wir gingen zu dieser Zeit alle | |
irgend wann nach Westdeutschland. Westberlin haben wir dem 2. Juni | |
überlassen. So war das. | |
Wieder gesehen haben wir uns erst viel später. Da war ich schon zehn Jahre | |
im Knast. Sie war inzwischen längst wieder legalisiert und hatte ihre | |
Arztpraxis, glaube ich, schon. Wir hatten all die Jahre überhaupt keinen | |
Kontakt, der kam erst wieder über Astrid Proll zustande, kann das sein? | |
Über ihren Prozess? Eines Tages jedenfalls stand Dorothea vor den | |
Gefängnistoren, natürlich mit Voranmeldung. Wir haben uns viel geschrieben | |
und uns kennengelernt. Irgendwann kamen wir auf die Idee, dass wir | |
heiraten. Das war übrigens vollkommen unabhängig von irgendwelchen | |
taktischen Erwägungen, muss ich sagen, nicht vorteilsmäßig. Da war auch | |
noch gar nichts in Sicht von einer eventuellen Begnadigung. Das war | |
überhaupt kein Thema damals! Wir wollten es einfach. Und ,gesponsert' hat | |
uns mein damaliger superliberal-katholischer Knastpfarrer, Hubertus | |
Janssen. Der hatte hauptberuflich eine Kirchengemeinde in Dietz und er hat | |
Dorothea auch immer aufgenommen, wenn sie mich besucht hat. Also solche | |
Leute gibts wahrscheinlich immer seltener. Er lebt noch, ist aber kein | |
Knastpfarrer mehr. | |
Also der hat uns sehr gefördert. Und bei der Trauung, da kam dann morgens | |
ein Standesbeamter. Ich durfte sogar einen Anzug anziehen. Den hat mir | |
übrigens Erich Fried schicken lassen, den hat er mir gekauft für diesen | |
Anlass. Er meinte, ein Anzug muss sein! Er hat mich auch besucht zu dieser | |
Zeit. Das lief alles über Dorothea. Immer wenn er in Deutschland oder in | |
Berlin war, war Dorothea seine Ärztin. Er war ja schwer krebskrank, hat | |
immer so ein Ding mit sich rumschleppen müssen … Er hat mich trotzdem ein | |
paarmal besucht, hat sogar eine Lesung veranstaltet im Knast, wieder mit | |
Hilfe von Hubertus Janssen. Also ich hatte den Anzug an und sie irgendwas | |
Indisches. Ich habe sogar ein Foto. Und vorher haben wir auch noch, in | |
letzter Sekunde, mit einem Notar eine Regelung getroffen wegen | |
Gütertrennung. Sie war ja praktizierende Ärztin, also das war schon besser | |
so. Und anschließend gab es eine Feier mit Kaffee und Kuchen und | |
Kinkerlitzchen, alles von Hubert organisiert. In seinem Pfarrbüro im Knast. | |
Zu der Zeit war ich 38, hatte 13 Jahre abgesessen und vielleicht noch | |
weitere 12 bis 15 Jahre vor mir. Das wusste ja kein Mensch. Dass es dann | |
anders kam, war für uns ganz überraschend. Als Erster kam Jünschke raus, da | |
hatten der Hubertus und die anderen ja auch mit dran geschraubt, an seiner | |
Begnadigung. Und dann kam ich auch dran, ein Jahr später. Regulär bin ich | |
schon am 2. März 1989 entlassen worden. Und dann wollten die mich ja | |
partout nicht nach Berlin entlassen. Aber ich hatte drei Pluspunkte: Meine | |
Tochter war damals von Kiel nach Berlin gezogen, Dorothea, meine Frau, | |
lebte in Berlin als niedergelassene Ärztin, und ich hatte einen Job in | |
Aussicht am Grips Theater. Es ging ja um Resozialisierung. Damals wurde das | |
teilweise noch ernst genommen. Inzwischen ist das nur noch Makulatur. Der | |
Arsch hat ihn ja nicht begnadigt, den Klar, obwohl Peymann ihm am Berliner | |
Ensemble eine Stelle angeboten hat. Von März 88 bis 89 war ich dieses eine | |
Jahr im Freigängerhaus, im Süden von Berlin, in Zehlendorf. Ich brauchte ja | |
ein bisschen eine Angewöhnung an das Leben, das ja vollkommen anders | |
geworden war. Tagsüber habe ich am Theater gejobbt und musste nachts wieder | |
drin sein. An den Wochenenden war ich dann meist in Nikolassee bei | |
Dorothea. Und dann haben wir auch mal so ein paar Kurzferien gemacht übers | |
Wochenende, als es dann möglich war. Und ich weiß noch, wie wir mal für ein | |
paar Tage auf die Insel Amrum fahren wollten und nie ankamen. Wir fuhren | |
aus Hamburg raus, Richtung Nordsee, im Spätherbst. Das Autoradio war an und | |
plötzlich hören wir die Nachricht vom Tod von Erich Fried. O Mann, hat uns | |
das umgehauen! Wir mussten anhalten. Er war irgendwie bei einer Lesetour in | |
Baden-Baden - ja, es lag schon in der Luft. Wir waren vollkommen fertig. | |
Drüben habe ich noch den Anzug liegen, den er mir zur Hochzeit gekauft hat. | |
Nee, also Dorothea war eine ganz Zuverlässige, immer! Auch belastbar, wie | |
man damals gesehen hat, sie ist ja dann auch dafür in den Knast gegangen. | |
Und hat auch nichts irgendwie ,bereut'. Sie hat ihr Ding gemacht, hat ihr | |
Studium durchgezogen, ist Ärztin geworden und war trotzdem da. Das ist | |
total anerkennenswert. Sie ist eine integre Person, und das ist ja | |
eigentlich auch diese verdammte Ungerechtigkeit, ihr weiteres Schicksal | |
dann, dieser Scheißschlaganfall! Und jetzt die epileptischen Anfälle und | |
alles … | |
Nach meiner Entlassung, um jetzt noch mal anzuknüpfen, bin ich dann | |
natürlich bei ihr eingezogen. Erst mal. In Nikolassee war die Situation, | |
die ich vorfand, etwas schwierig. Sie hat natürlich, während ich im Knast | |
war, draußen ihr eigenes Ding gemacht. Hat mir das natürlich auch nicht | |
alles unbedingt aufs Brötchen geschmiert, aber von Anfang an war klar, dass | |
da ein anderer war. Der berühmte Andrew, der sich heute nicht mehr blicken | |
lässt bei ihr, obwohl er zehn Jahre lang ihr Lebensgefährte war, und sie | |
ihn protegiert hat von vorn bis hinten. Und dann hat er eine brasilianische | |
Tänzerin kennengelernt … Na gut, ehrlich gesagt, ich hab gut reden. Ich bin | |
auch nur selten draußen bei ihr … Jedenfalls draußen in Nikolassee mit uns | |
dreien, das ging mir tierisch auf den Senkel. Ich hab sie total verstanden. | |
Aber ich habe ihr gesagt, Dorothea, ich ziehe mich diskret zurück. Das | |
sieht sie ja heute anders. Sagt, ich hätte sie verlassen. So ein Quatsch! | |
Ich bin einen Schritt zur Seite gegangen und bin meine eigenen Wege | |
gegangen. Ich dachte, was soll ich denn da? Was soll ich mit der ganzen | |
Natur? Ich wollte richtig ins Leben. Natürlich habe ich immer noch den | |
Kontakt gehalten. | |
Ein anderes Problem war auch die Praxis, das hat mich manchmal zur Weißglut | |
gebracht. Also Dorothea war, das muss ich mal sagen, auch schon vor ihrem | |
Schlaganfall eine sehr komplizierte, manchmal durchgeknallte Person. Es gab | |
einen Running Gag zu ihrer florierenden Praxis am Nollendorfplatz, die hieß | |
in Insiderkreisen "Die Praxis der Galaxis". Sie hat sich da vollkommen | |
überfordert, zwölf Stunden am Tag und mehr. Am Anfang habe ich versucht, | |
mich da irgendwie einzuklinken, helfend! In irgendeiner Form. Das war eine | |
reine Frauen-WG, wenn man so will - die Assistentinnen könnten euch sicher | |
viel erzählen! Eine hieß, glaube ich, Renate, die war von Anfang an dabei. | |
Leider habe ich den Kontakt verloren. Ich hab ja schon im Knast eine Menge | |
von Dorotheas Arbeit mitbekommen. Nicht, dass wir dauernd darüber geredet | |
hätten, aber ab und zu hat sie mal was erzählt. Ich erinnere mich an eine | |
Patientin, die Frau war Chefstewardess, in den Dreißigern, und hatte einen | |
unheilbaren Unterleibskrebs. Sie war von allen Ärzten aufgegeben und gerät | |
in die ,Praxis der Galaxis' von Dorothea. Und ich sags mal kurz - die Frau | |
lebt heute noch! Dorothea hat sie geheilt. Nach meiner Entlassung habe ich | |
die Frau kennengelernt, ihr Mann war Optiker, oben auf der Uhlandstraße. Da | |
war ich jahrelang noch treuer Kunde mit meinen Brillen. Aber ist das nicht | |
erstaunlich? Dorothea hatte solche Erfolgsgeschichten, sie hatte eine große | |
therapeutische Fähigkeit zum Heilen. Fragt mich nicht wie, Schamanismus, | |
oder was weiß ich. Die Praxis war jedenfalls immer voll. Und da gings zu | |
wie in einem Taubenschlag. Die Patienten waren vollkommen gemischt. Sie | |
hatte auch totale Underdogs, nicht nur die, die auf Droge waren. Ihr müsst | |
euch vorstellen, sie sagt: Du, ich habe da jetzt so einen, den muss ich | |
Weihnachten bescheren, der hat keinen Menschen. Ich sag: Wie?! Ja, der | |
kommt aus Nigeria und ist illegal und was weiß ich, ein ganz Netter. Und | |
dann saß der zu Hause an Weihnachten. Ja, so war sie drauf. Und ob einer | |
einen Krankenschein hatte oder nicht, das hat sie überhaupt nicht | |
interessiert! Die Assistentinnen sind bald irre geworden. Aber die haben | |
absolut zu ihr gehalten. | |
Und bei ihr traf sich natürlich die halbe schwule Szene, von der | |
Fuggerstraße bis hin zum Nollendorfplatz. In ihrer Praxis hatte sie auch | |
die ersten Aids-Patienten - damals war Aids noch ne tödliche Krankheit. Das | |
war für mich übrigens ein Schock, ich werde aus dem Knast entlassen und bin | |
gleich mit HIV und dem ganzen Scheiß konfrontiert - und dann fällt auch | |
noch die Mauer! Also ich wollte gar nicht mehr leben. Nee, das war schon | |
merkwürdig, alles. Sie hatte einen langjährigen Freund, ich glaub, der kam | |
aus Haiti, ein intelligenter Typ, wunderbarer Mensch. Und der ist, glaub | |
ich, eines der ersten HIV-Opfer gewesen, weltweit. Also was den | |
Infektionszeitpunkt betrifft. Der hatte den Virus schon ganz lange." (Aids | |
wurde in den USA 1981 zur eigenständigen Krankheit erklärt, eine der | |
Theorien war: Sie kam aus Haiti. Eine andere: nordamerikanische | |
Sextouristen schleppten sie in Haiti ein. Anm. G. G.) "Das habe ich hautnah | |
erlebt, er ist dann im Jahr darauf gestorben. Um den hat sie sich immer | |
gekümmert. Sie war überhaupt ständig auf Achse und immer erreichbar für | |
ihre Patienten. Dann eines Tages hat sie endlich auch einen eigenen | |
Parkplatz gekriegt, mit Arztschild, und musste nicht immer kreisen. Sie hat | |
sich aufgerieben, ohne Rücksicht auf die Kosten und auf sich. Gegessen hat | |
sie auch nicht. Ich bin ins KaDeWe und habe den teuersten Henkelpott | |
gekauft, mit Thermo und so, hab mir zur Aufgabe gesetzt, jetzt sorge ich | |
jeden Tag für Essen. Koche ihr was, oder kaufe was und bring ihr das heiß | |
hin. Sie hat es nie angerührt, nie! Keine Zeit. Das war typisch, es hat | |
mich zur Weißglut getrieben. Aber so ist Dorothea eben. Sie hat vielen | |
geholfen oder sogar den Weg gebaut ins Leben, auch mir. Und natürlich hat | |
sie auch Schweine getroffen. | |
Da gabs so eine böse Geschichte, fällt mir ein, damals war ich noch im | |
Knast. Ich habe es über Briefe und Telefonate von ihr erfahren, dass sie | |
Opfer einer Erpressung geworden ist. Irgendein Kollege wollte eine immens | |
hohe Summe haben, sonst würde er sie wegen irgendwas auffliegen lassen. | |
Keine Ahnung, was im Einzelnen los war. Und ich bin fast irre geworden. Bin | |
richtig krank geworden, also nervlich. Das fiel zeitgleich zusammen mit dem | |
sauberen Herrn Stefan Aust und seinem ,Baader Meinhof Komplex'. Der hat | |
mich ja total übers Ohr gehauen, die Drecksau! Keiner hat so viel Kohle mit | |
der RAF gemacht wie der. Damals hat er Material gesammelt für das Buch, ist | |
rumgefahren, hat mit Leuten geredet. Ich kriegte eines Tages einen Brief | |
von ihm in den Knast, gleich so ranschmeißerisch, duzt mich, lieber Manfred | |
und Genosse usw., schreibe grade ein Buch, würde gerne deine Mitarbeit … | |
usf. Ich habe ihm zurückgeschrieben: NO! Ich will nichts zu tun haben mit | |
diesem Projekt! Danach dachte ich, das ist gegessen. Und dann wars | |
Dezember. Alle bekommen Pakete und ich werde runtergerufen Heiligabend in | |
die Kammer: Post für Sie, ein Buch. Wisst ihr, normalerweise muss man jedes | |
Buch beantragen, es muss alles genehmigt werden usf., und ich bekomme da | |
plötzlich ohne Weiteres ein Buch ausgehändigt? In der Zelle schlag ich den | |
auf, den ,Bader Meinhof Komplex' von Aust, da liegt eine Visitenkarte drin: | |
,Viel Spaß beim Lesen.' Der ist mir dann aber total vergangen. Ich finde da | |
Sachen über mich, von denen er gar nichts wissen konnte! Aus einem | |
top-secret psychologischen Gutachten, was ich grade mit Mühe und Not im | |
Knast hatte über mich ergehen lassen. Ich bin vollkommen hinten | |
runtergefallen, als ich das da drin gelesen habe! Eine Woche später - es | |
waren ja Feiertage, es war schrecklich - habe ich dann von meinem Anwalt | |
die ganze Scheiße erzählt bekommen. Es war so, der Aust hat mein Nein | |
einfach ignoriert. Er hat eine Angestellte meiner Anwaltskanzlei in | |
Frankfurt zum Diebstahl veranlasst. Sie hat es für ihn aus meinen Akten | |
geklaut. Sie flog dann zwar raus, aber da war es ja schon zu spät. Stellt | |
euch das mal vor! Er ist ja investigativer Journalist. Hallo! Und dieser | |
noble Herr gilt bis heute als seriös. Also ich bin absolut allergisch gegen | |
Interviews! Die Ausnahme mache ich nur, weil es um Dorothea geht. | |
Wie kam ich jetzt eigentlich auf den Aust? Ach ja, wegen dem Kerl, der | |
Dorothea zur gleichen Zeit erpresst hat. Diese beiden Katastrophen haben | |
mich völlig krank gemacht. Ich bin ausgeflippt. Ich musste mit | |
Polizeischutzmaßnahmen in ein Krankenhaus verlegt werden. Und Dorothea hat | |
mich dort besucht. Das war meine Rettung, sie war einfach da! So war sie, | |
sehr stark. Sie hat auch die Erpressungssache selber geregelt. Clever wie | |
sie ist, hat sie sich gar nicht unter Druck setzen lassen. Sie ist einfach | |
zur Polizei gegangen. Die haben sich dann mit ihr zusammen eine | |
Konstruktion ausgedacht, eine Falle, in die er dann auch prompt | |
reingegangen ist. Das konnte sie auch, aber sonst, nur Solidarität. Und so, | |
wie Dorothea mich unterstützt hat, hat sie auch andere unterstützt, | |
besonders Astrid Proll. Die war ja jahrelang in London untergetaucht - | |
damals bei ihr hatte übrigens auch Erich Fried seine helfenden Hände im | |
Spiel, Dorothea hat ihn später dann auch durch Astrid kennengelernt, glaube | |
ich. Jedenfalls Astrid war ja lange auf der Flucht, man las immer mal was. | |
Sie war ungefähr so ein Phänomen wie Carlos: Astrid Proll wurde wieder da | |
und dort gesichtet. Aber dann ist sie festgenommen worden in London, stand | |
vor der Auslieferung, und dort hat Dorothea sie besucht. Das muss so 78 | |
gewesen sein. 1979 wurde sie ausgeliefert nach Deutschland. Bei ihrem | |
Prozess war dann auch Dorothea anwesend, sie saß im Zuschauerraum. Und ich | |
habe ausgesagt!" | |
(Dass er vor Gericht erschien u. aussagte, war ungewöhnlich und zog schnell | |
Verratsvorwürfe nach sich. Anm. G. G.). "Das war mir egal. Ich war ja | |
verurteilt, saß bereits sieben Jahre im Knast und hatte nichts mehr zu | |
verlieren. Astrid hatte viel zu verlieren. Aber lasst euch das von ihr | |
selbst erzählen, die ganze Geschichte. Den Vorwurf Verräter kenne ich ja | |
schon seit dem Hungerstreik. Dieser gigantisch inszenierte strategische | |
Hungerstreik damals. Da hat mich nicht das Hungern angestunken, es hat mich | |
angestunken, dass ich gar nicht wusste, worum es geht. Okay. Und dann habe | |
ich irgendwann abgebrochen. Ihr müsst wissen, Jünschke und ich, wir saßen | |
in Zweibrücken, Meins saß in Wittlich und der Rest saß in Stammheim - die | |
Kommunikation war also höchst … Und kaum hatte ich abgebrochen, kamen die | |
Bullen in den Knast und machten mir Angebote, wollten mich interviewen, da | |
habe ich ihnen natürlich die Zähne gezeigt und habe wieder angefangen mit | |
dem Hungerstreik. Es kam dann auch so eine Reaktion von Meins: ,Du hast | |
dich fürs Schweinesystem entschieden' usw. | |
Und es gab da einen Brief von Frau … Wie heißt sie noch? Äh, ach Scheiße, | |
der Name ist weg!" "Ensslin?", sage ich. "Ja, klar! Sie schrieb: ,Scheiß | |
auf den Unteroffizier!' Ich dachte dann, Hallo! Wer sind die denn, die | |
haben gar nichts gemacht und ich sitze wegen Polizistenmord und werde hier | |
fertiggemacht? Ich hatte immer mehr das Gefühl, wir werden nur benutzt, für | |
irgendne Scheiße. Ich muss mich doch für diese Arschlöcher nicht … brrr … | |
Bin aber trotzdem wieder in den Hungerstreik getreten, denn das lasse ich | |
mir ja nicht nachsagen! Und unglücklicherweise, am Wochenende, starb Holger | |
Meins. Das war natürlich ein totaler Schock … brrr… Es war klar, so geht es | |
nicht. Ich hab dann irgendwann gedacht … brrr … So! Ich habe dann | |
,umgeswitcht', habe den Schalter umgelegt. Es hatte sich herausgestellt, | |
dass es so komische Führungsebenen gab, was man ja lange nicht recht | |
wahrhaben wollte. Ich habe mir dann gedacht, was soll ich mich aufreiben | |
für eine Sache, die ich nicht überschaue? Ich habe mich verabschiedet von | |
dem Konzept RAF. Aber nicht vor der Öffentlichkeit. Und ich schwöre euch, | |
ich habs nicht gemacht, um dem Staat zu signalisieren, so, der ist jetzt | |
brav, der ist weg, den könnt ihr haben … brrr… Nein! Ich habe einfach nur, | |
als Erster vielleicht, gemerkt, dass die Nummer RAF gelaufen war. So! Noch | |
Fragen?!", sagt er barsch. | |
Ich möchte wissen, wie Dorothea auf seinen Schusswaffengebrauch reagiert | |
hat. "Na total ablehnend. Darüber konnte man mit ihr eigentlich gar nicht | |
sprechen, sie hat da ihre Position und Schluss! Ich kam damals als | |
Deserteur der Bundeswehr nach Westberlin und war dann automatisch mitten | |
drin." (Was er nicht erzählt: 1969 entschlossen sich er und einige andere | |
Deserteure zu einer politischen Aktion. In Bundeswehruniformen vom | |
Kostümverleih begaben sie sich zur polizeilichen Meldestelle, um sich | |
vorschriftsmäßig anzumelden. Sofortige Verhaftung war die Folge. Zwar lag | |
ein Haftbefehl vor wegen Fahnenflucht, der hätte aber in Westberlin - wo | |
alliiertes Besatzungsrecht galt und westdeutsche Wehrgesetze keinerlei | |
Geltung hatten - gar nicht vollstreckt werden dürfen. In einem Akt offener | |
Rechtsbeugung wurden die Deserteure unter massiver Gewaltanwendung, | |
gefesselt und blutig geprügelt, auf dem Luftweg nach Westdeutschland | |
gebracht und dort inhaftiert. Anm. G. G. Genauer noch in: "Die Jahre der | |
Kommune I" von U. Enzensberger, S. 355). | |
"Dorothea war ganz klar gegen den ,bewaffneten Kampf', trotzdem hat sie ihn | |
ja eigentlich unterstützt. Fakt ist, sie war konsequent gegen das Tragen | |
von Knarren. Ich habe ihr das natürlich genau erzählt, wie das abgelaufen | |
ist, damals in der Wohnung in Hamburg. Wollt ihr es hören?" Wir möchten. | |
"Also der Grund, weshalb wir an diesem 2. März 1972 abends nach Einbruch | |
der Dunkelheit in diese Wohnung gingen, war, wir wollten sie auflösen. | |
Mittags um zwölf war nämlich in Augsburg an einer Bushaltestelle der Herr | |
Weißbecker erschossen worden, und Weißbecker war derjenige, der die Wohnung | |
ein paar Wochen vorher angemietet hatte. Es war klar, die Wohnung war heiß. | |
Wir hatten damals eigentlich das Prinzip, wenn eine Unterkunft heiß ist, | |
wird sie geräumt, beziehungsweise man geht gar nicht mehr hin. Das Blöde | |
war aber, es war die Fälscherwerkstatt, und ich hatte dort noch wertvolle | |
Sachen drin, die ich nicht aufgeben wollte. Eine spezielle Reprokamera, | |
groß wie ein Kühlschrank und sehr schwer zu beschaffen, und auch Dokumente | |
lagen noch da. Das war natürlich ein Riesenhirnriss von mir. Ich hätte | |
nicht mehr reingehen dürfen! | |
Fakt ist, wir sind trotzdem hingefahren. Und ich war bewaffnet, gebe ich | |
zu! Wir sind mit dem VW-Bus gefahren, einem Bulli, zweimal um den Block | |
gekreist, vorsichtshalber, haben aber niemanden bemerkt. Ich habe | |
Grundmann, der die Wohnung noch nicht kannte, kurz instruiert. Ihr müsst | |
euch das so vorstellen, das war ein kleines Appartement in einer Hamburger | |
Villa. Unten drin war der Kindergarten für so ne Sklaven-Firma Adia | |
Interim, das war die erste Leiharbeiterfirma in Deutschland. Und der | |
Kindergarten war für die Kinder der Leiharbeiterinnen. Abends um sieben war | |
das Haus tot. Oben war das Appartement. Wir gingen rauf, ich schließe auf, | |
und in dem Moment geht die Schießerei los, noch bevor ich das Licht | |
anknipsen konnte. Ohne jede Vorwarnung. Es hat aus allen Ecken geblitzt und | |
geknallt. In der Haft später habe ich ja genug Zeit gehabt, die ganzen | |
Protokolle zu lesen. Wir wurden den drei Bullen, die uns in der Wohnung | |
aufgelauert haben, minutiös angekündigt. Die hatten nämlich Funkkontakt zu | |
denen, die draußen das Haus beobachtet haben. Also sie hätten mir im | |
Dunkeln einfach eins über die Rübe geben können, zum Beispiel, und das wäre | |
es dann gewesen, für alle Beteiligten. Aber die hatten Angst oder was, sie | |
haben sofort geschossen. Das war völlig unprofessionell! Und ich hab | |
instinktiv reagiert, habe meinen Trommelrevolver gezogen und ins Dunkel | |
gefeuert. Dann wurde ich in den Kopf getroffen, in den Arm und in die | |
Brust. Es ging alles ganz schnell, ich lag auf dem Boden und war am | |
Ausbluten. Es war ein Geschrei, ich wusste gar nicht, was los war. Ich | |
hatte diesen Hauptkommissar auch irgendwie getroffen im Dunkeln. Plötzlich | |
ging das Licht an. Ich lag im Eingangsbereich der Wohnung und über mir | |
steht so ein Jungscher, die Maschinenpistole im Anschlag, und sagt: ,Wenn | |
du dich bewegst, drücke ich ab!' Das war mir vollkommen egal, ich habe mir | |
mit meinem Gürtel selbst den Arm abgebunden, denn es kam da raus wie eine | |
Fontäne, das Blut. | |
Dann kam nach unheimlich langer Zeit so ein Sanitätsteam, die sind mit der | |
Bahre über mich drüber in die Wohnung und haben den Kommissar rausgetragen, | |
dann mich auch. Damals hatten sie noch solche flachen Krankenwagen, so | |
Mercedes-Dinger, man wurde reingeschoben und nach oben war kaum mehr Platz. | |
Da robbt sich während der Fahrt der Begleitbulle auf mich drauf, hält mir | |
seine Knarre an die Schläfe und brüllt mich an: Wie heißt du, wo sind die | |
anderen?! Und dann waren wir schon im Uniklinikum Eppendorf, sie haben mir | |
die Sachen aufgeschnitten. Ich lag schon auf der Bahre für die | |
Notoperation, war halb bewusstlos, da kommt ein Bulle und fummelt an mir | |
rum. Der wollte meine Fingerabdrücke nehmen. Der Oberarzt musste ihn | |
wegscheuchen. Dann weiß ich nichts mehr, ich war ohnmächtig und wurde | |
operiert. Ich hatte einen Kopfdurchschuss, einen Lungendurchschuss und den | |
Schuss in den Arm. | |
Der Hauptkommissar war im Unterbauch getroffen, sie haben ihn ein- oder | |
zweimal operiert, aber er ist nach zwei Wochen gestorben. Das habe ich aber | |
alles erst viel später erfahren. Ich durfte ja keinerlei Kontakt haben. Auf | |
der Intensivstation saß neben mir ein Bulle mit durchgeladener | |
Maschinenpistole. Aber eine von den studentischen Nachtwachen hat mir | |
geholfen, damit ich einen Anwalt bekomme. Er hat mir heimlich einen Zettel | |
zugesteckt. Auf dem Zettel stand der Name: Kurt Groenewold. Der kam dann | |
auch. Also es haben mir immer wieder Leute geholfen, ohne die hätte ich gar | |
nicht überlebt. Sie haben mich dann ja, obwohl ich nicht transportfähig | |
war, lebensgefährliche Verletzungen hatte, in den Untersuchungsknast | |
zwangsverlegt, gegen den Protest der ganzen Ärzte. Von der Intensivstation | |
in eine dreckige, unhygienische Zelle, mit einem offenen Klo in der Ecke. | |
Das war ein Versuch, mich krepieren zu lassen. Ich wäre da auch kaputt | |
gegangen, aber in der Krankenabteilung gabs damals schon linke Ärzte. Ein | |
Dr. Ekkehard von Seckendorff, der später dann auch als Sympathisant zur | |
RAF… Also die haben mich gerettet, die haben dafür gesorgt, dass ich keine | |
Sepsis kriege, dass es glimpflich abgeht. Na, den Rest kennt ihr ja." | |
Wir wechseln schon abschließende Worte, Manfred wirkt erschöpft, Elisabeth | |
und ich sind im Begriff zu gehen, da erwähne ich noch das Spiegel-Interview | |
mit der Witwe des erschossenen Hauptkommissars. (Es erschien 2007, steht i. | |
Internet.) Er brummt unwillig: "Ja, hab ich auch gelesen damals …" Dann | |
ruft er plötzlich aus: "Ich wollte mich ja bei ihr entschuldigen …! Ich | |
habe das damals, noch vor meiner Entlassung, beschlossen. Habe es mit | |
meinem Knastpfarrer Hubert Janssen alles abgesprochen, der sollte ein | |
Gespräch arrangieren, das war alles schon geplant. Ich habe dabei | |
allerdings nicht an Public Relation gedacht. Hallo! Das hätte ich nicht vor | |
der Presse gemacht. Ich wäre da hingefahren zu Frau … ich weiß gar nicht | |
mehr den Namen …?" "Eckhardt", sagen wir. "Ja, ich wäre zu ihr hingefahren | |
nach Hamburg, und unter vier Augen … Also ich wollte keinen öffentlichen | |
Kotau machen, aber ich hätte ihr mein Bedauern ausgesprochen, ihr gesagt, | |
es tut mir leid … Ich war drauf und dran, wenn sie mich hätte sehen wollen. | |
Vielleicht, es hätte ja auch sein können, dass sie mir an den Kragen geht | |
oder so was … Also, es war ein zartes Pflänzchen meinerseits. Es lief dann | |
aber ganz anders. Ich kam raus aus dem Knast nach 17 Jahren, komme nach | |
Berlin, und am selben Tag erscheint die Bild-Zeitung mit riesengroßer | |
Aufmachung, ich glaube, auch mit Fotos, und da stand: ,… Dafür habe ich | |
kein Verständnis, der Mörder meines Mannes!' Und daraufhin habe ich mir | |
gesagt, jetzt leckt mich doch alle am Arsch, davon will sowieso kein Mensch | |
was wissen, was ich denke. | |
Ich habs euch ja geschildert. Die Stimmung war total hochgekocht damals, | |
wir sind da im Dunkeln aufeinandergeprallt, und dann ist es passiert. | |
Damals, als ich das mit dem Hubert besprochen habe im Knast, da hatte ich | |
wirklich das Gefühl, wenn ich es mache, dann breche ich damit ein ganzes | |
System auf, und es war mir egal, wenn wieder welche sagen, du Verräter - | |
das kannte ich ja alles schon vom Hungerstreik und vom Prozess von Astrid | |
…" Wir finden, dass der eigentliche Verrat darin bestehen würde, eine nicht | |
mehr haltbare Position als politische Linie weiter zu vertreten. "Aber das | |
war nicht gewollt, vom Staat nicht und nicht von unseren Leuten. Vielleicht | |
hätte sich sonst die Geschichte der RAF geändert. Versteht ihr?! Vielleicht | |
wäre das alles nicht passiert, was danach noch passiert ist. Das ging ja | |
noch jahrelang weiter! So, jetzt ist aber Schluss!" Sag uns noch, wann du | |
in die Ferien fährst, wegen der Belegexemplare …" Er knurrt: "Ich sage gar | |
nichts mehr. Keine Adresse und nichts, ich bin unerreichbar!" | |
28 Jul 2008 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
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