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# taz.de -- Nicht Taiwan, nicht China: Im Osten nichts Neues
> Lanyu ist ein vergessenes Eiland rund 70 Kilometer südöstlich der Küste
> Taiwans. Die sogenannte Orchideeninsel ist die Heimat der Yami, eines
> australischpolynesischen Stammes von Jägern und Sammlern. Ein
> Kulturreservat
Bild: Traditioneller Tanz der Männer
Im Wind klingt Stephanies Lachen scheppernd. "Das ist ganz schön verrückt,
allein hierherzukommen. Niemand spricht deine Sprache." Ungläubig schüttelt
sie den Kopf: "Das ist meine Insel, weißt du. Gut, dass du mich getroffen
hast." Sie versucht, ihr Englisch amerikanisch klingen zu lassen, fügt
immer ein "ya know" an. Die Freiheit und Unabhängigkeit, die ich ihr als
alleinreisende Frau anscheinend vermittle, beeindruckt sie sichtlich.
"Ihre" Insel, das ist Lanyu, ein vergessenes Eiland rund 70 Kilometer
südöstlich der Küste Taiwans. Eine Propellermaschine fliegt zwei Passagiere
von Taitung über den stürmischen Pazifik. Einer davon bin ich, die
Höhennadel genau im Visier. Es ist das Ticket in eine fremde Welt.
Stephanie, eine der beiden Mitarbeiterinnen des Inselflughafens, nimmt mich
auf einem knatternden Moped mit in ihr Dorf, wo ich bei einer befreundeten
Familie unterkommen soll. "Ich bin hier groß geworden", erklärt sie, "ich
kenne jede Ecke, jeden Strauch und jedes Tier. Ich liebe es hier." Es fällt
leicht, das zu glauben. Die einzige Straße führt uns entlang den tosenden
Wellen, vorbei an sattgrünen Bergen, Palmen und Feldern.
Die sogenannte Orchideeninsel ist Heimat der Yami, eines
australischpolynesischen Stammes der Ureinwohner. Von der Welt
zurückgezogen, haben sie als die wohl letzten Jäger und Sammler ihre
Ursprünglichkeit in den vergangenen Jahrzehnten mit allen Mitteln
verteidigt. Zum Beispiel als sich die rund 3.000 Nachfahren Mitte der
Neunzigerjahre geschlossen gegen die anhaltende Giftmüllablagerung des
Unternehmens Taipower auf ihrer Insel stellten. Dass das Land die Insel
fast vergisst, erscheint hier, inmitten der Wildheit des Pazifiks,
plötzlich fassbar. Die Yami zählen Lanyu nicht zu Taiwan, die Taiwaner ihr
Land nicht zum Rest Chinas. Vom Kleinen aufs Große. Oder umgekehrt.
Ganze sechs Siedlungen gibt es heute auf der Insel, dazu Ziegen, Schweine
und Hunde. In zwei Dörfern bauen die Bewohner noch traditionelle Häuser,
dunkle Holzhütten, die zum Schutz gegen die Witterung am Hang gebaut werden
und nur durch Steinmauern voneinander getrennt sind. Halb versteckt unter
der Erde bieten sie Schutz vor Taifunen. Hier leben die Ältesten, an einem
Ort, wo Alter noch als ehrbar gilt. Sieht man die Männer und Frauen, die
abends nach kilometerlangen Märschen über die Insel mit schmutzigen Füßen
und einem Sack gesammelter Süßkartoffeln in ihr Heimatdorf gelangen, bleibt
nichts als tiefer Respekt. Alle anderen liegen mittags in Tücher eingehüllt
auf den Brettern und dösen. Das Rauschen der Wellen wiegt sie in den
Schlaf, und lediglich das Gezanke der Hühner holt sie ins Diesseits zurück.
Die Symbiose mit der Natur ist Ausdruck eines Einverständnisses, mit dem
Moment, mit dem Leben im Hier und Jetzt. Die eigene Ernte ist karg, besteht
aus Süßkartoffeln und Tarowurzeln.
Stephanie war noch nie weg von der Insel. Sie lebt bei ihren Eltern,
arbeitet seit ein paar Jahren am roten Ticketschalter des Flughafens und
verbringt die Abende mit ihren Kumpels im Dorf. Fährt sie durch den Ort,
grüßen sie alle, fährt sie zur Arbeit, hupt sie zum Abschied. Ihre Kumpels,
das sind Eric, Ben und Tom. Jeden Abend sitzen sie zusammen inmitten von
Kindergeschrei und tollenden Hunden, trinken bitteres Bier und reden. Hier,
im geselligen Kreis der Erwachsenen, lernen die Kleinen von den Großen. Der
Whiskey neben dem ins Freie gestellten Kinderbett wird stetig weniger, so
wie die Konzentration beim Pokern ums Geld. Zehn taiwanische Dollar, und
eine neue Runde startet. Sie sind alle hier, zumindest heute Abend.
Stephanies Schwager Eric, sein Lehrer Ben, dessen Schwester und ihre
Cousine. Eric kramt ein paar Worte Englisch heraus, die er irgendwann mal
aufgeschnappt hat. "Nice to meet you", sagt er fröhlich. Und drückt mir ein
kaltes Dosenbier in die Hand.
Was den Deutschen ihr Auto, ist dem Yami-Mann sein Boot. Acht Monate lang,
vor der Saison der fliegenden Fische, bauen sie in Handarbeit an den
anmutigen weiß-roten Einbaumkanus, verzieren deren hochgezogenen Bug mit
eleganten Ornamenten. Für das Festhalten an dieser Tradition hat die
japanische Regierung während ihrer 50-jährigen Besatzung Taiwans die Insel
als ein Kulturreservat vor allen Einflüssen von außen geschützt. Die Folgen
der Isolation sind heute noch spürbar. Selbst Taiwan scheint für die Yami
ein anderer Planet zu sein, fern ihrer Vorstellungen. Das Chinesischbuch,
das ich Eric hinhalte, schiebt er lachend zur Seite. "No Chinese" sagt er.
Hier sprechen sie den Yami-Dialekt, Mandarin ist eine Fremdsprache.
Yehyu ist so etwas wie das Zentrum der Insel, mit einer rostigen Tankstelle
und einem kleinen Laden. Hier spielen die Kinder Fangen, und die Alten
übertrumpfen einander beim Mahjong. Jeder kennt jeden, und das schon immer.
Privatsphäre gibt es nicht. Bei Einbruch der Dunkelheit wissen alle von
meiner Ankunft. "Wo kommst du her?", fragt mich Erics Schwägerin mit
Luftzeichnungen. "Deutschland?", wiederholen sie unsicher meine Antwort und
zucken mit den Schultern.
Beim Abendessen mit der Familie herrscht routinierter Trubel. Es gibt für
jeden eine Schüssel Reis, dazu etwas gekochtes Gemüse, ein Glas heißes
Wasser. Das grelle Licht erzeugt Kantinenatmosphäre. Die Kinder sind
quengelig. Unbeirrbar versucht der sechsjährige Junge während der gesamten
Essenszeit, seine Mutter von etwas Bahnbrechenden zu überzeugen. Der ältere
Sohn, mit seinen 18 Jahren von allem bewusst distanziert, teilt den Reis
aus, sein pechschwarzes Haar fällt ihm dabei in die Stirn. "Kennst du New
York?", fragt er lässig und bewegt sich dazu wie der heldenhafte Sänger
eines düsteren Rap-Videos. Als ich nicke, wirft er einen strahlenden Blick
durch den Raum. "Cool", fügt er zufrieden hinzu. Mehr will er nicht wissen.
Der Alltag auf der Insel ist rau, der Tagesablauf streng geregelt. Der
Abend endet gegen 21 Uhr, morgens um 5 Uhr kräht der Hahn. Die ersten
Geräusche kommen aus der Küche, wo die Mutter das Essen zubereitet. Eine
Süßkartoffel gibts zum Frühstück, dazu eingelegte Gurken, ein Glas heißes
Wasser. Die Eltern schütteln den Kopf, als ich anfange mitzuessen. Ihrem
Gast wollen sie die Einfachheit ersparen, schließlich gibt es im Westen
Cornflakes, abgepackt. Sie deuten in Richtung Laden, der Vater zeichnet ein
Viereck in die Luft. Als ich weiteresse, lachen sie und schieben mir die
Teller hin, dazu zwei Holzstäbchen.
Auch hier hat das Internet Einzug gehalten, die Idee von Amerika hängt als
Heiligenbild über der Tür. "Die jungen Leute gehen nach Taiwan, wenn sie
können", erklärt mir Rita, eine Freundin von Stephanie, am nächsten Tag
während eines Mahjongspiels in gutem Englisch. Wir sitzen in einem der
"offenen Wohnzimmer", einer Bretterbude auf Pfählen. "Sie wollen hier nicht
mehr dieses traditionelle Leben ihrer Eltern leben. Sie wollen Geld
verdienen und einen guten Job bekommen. Sie wollen ein materielles Leben."
Rita ist eine zurückhaltende junge Frau mit einem langen Zopf und wachen
Augen. Sie senkt die Stimme und fügt ein wenig bedauernd hinzu: "Die Insel
hat sich verändert. Die Menschen können sich zwar noch selbst ernähren,
alles scheint wie vor einigen hundert Jahren. Aber das ist nicht so. Unter
der Oberfläche hat sich viel verändert." Doch die wenigsten gehen, das
Flugticket ist für die meisten unbezahlbar. Das gemeinschaftliche Trinken
dient so auch der Kompensation von unerfüllbaren Wünschen. Während sie
redet, zieht Rita die linke Augenbraue hoch. "Es ist ein einfaches Leben",
sagt sie leise, "aber es ist ein gutes Leben."
"Wir überlegen oft, wie es da drüben wohl aussieht" erklärt Eric im
Schatten vor der Halle des Flughafens. Er nimmt einen Schluck taiwanisches
Bier und reicht es weiter, an Ben. Sie sitzen da, nächste Woche, nächstes
Jahr. Sie kommen und reden über dies und das, über nichts Bestimmtes. Der
Flughafen als Verbindung zu der anderen Welt vermittelt auch die
Flüchtigkeit des Augenblicks. Während sie aufs Meer schauen, prosten sie
sich zu und nicken.
Stephanie reißt mein Ticket ab. "Guten Flug", sagt sie lächelnd. Ihre
dunklen Augen blitzen, freundlich und sehnsüchtig. Sie wird den Weg zur
Maschine nie gehen.
6 Aug 2008
## AUTOREN
Andrea Backhaus
## TAGS
Reiseland China
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