# taz.de -- Debatte US-Raketen in Polen: Die USA umarmen | |
> Polen will sich mit dem Raketenabwehrschild gegen Russland und andere | |
> "Schurkenstaaten" schützen. Dass dieser Schild gar nicht funktioniert, | |
> ist nebensächlich. | |
Bild: Für den Sicherheitsexperten Alexander Nikitin ist der Georgienkonflikt n… | |
Mit der vorgestern zwischen den USA und Polen vereinbarten Stationierung | |
eines Raketenschilds in Nordostpolen wird eine untaugliche Verteidigung | |
gegen einen nicht existierenden Angreifer etabliert. Glaubte man jedoch den | |
beteiligten Staatsmenschen, so wäre dieses Raketenabwehrsystem eine rein | |
defensive Maßnahme zum Schutz der Bevölkerung der USA wie auch der Europas. | |
Zusammen mit der bereits beschlossenen Radarstation in Tschechien sollen | |
Sprengköpfe mit Massenvernichtungswaffen, abgeschossen auf Trägerraketen | |
vom Territorium von Schurkenstaaten, mitten in ihrem Lauf durch | |
Abwehrraketen getroffen und zerstört werden. Schon der schieren Existenz | |
der Schilde wird von den USA-Strategen eine abschreckende Wirkung auf die | |
"Schurkenstaaten" zugeschrieben. Mehr noch: Raketenschirme sollen zukünftig | |
die aus der Zeit des Kalten Krieges stammenden Abschreckungsstrategie, die | |
"mutual assured destruction" (sinnfälligerweise abgekürzt mit "mad"), | |
überflüssig machen und damit den Ausstieg aus einer perversen Logik | |
ermöglichen. | |
Indes stehen die Milliardensummen im amerikanischen Verteidigungsetat, die | |
jährlich für die Entwicklung des Schilds ausgegeben werden, in keinem | |
Verhältnis zu seinem möglichen Einsatz. Amerikanische Physiker, darunter | |
zwei führende Raketenspezialisten, bezweifeln, dass in absehbarer Zeit das | |
Projekt überhaupt technisch realisierbar ist. Sie verweisen auf die | |
generelle Unzulänglichkeit der Tests sowie zahlreiche Testfehlschläge, | |
erläutern die Schwierigkeiten beim Orten der Sprengköpfe im All und zeigen, | |
wie leicht die Abschussraketen ablenkbar sind. Ein so wenig ausgereiftes | |
System kann demnach auch keine abschreckende Wirkung auf die Absichten | |
potenzieller Angreifer entfalten. | |
Die eigentliche Schwachstelle in der Begründung des Raketenschilds ist aber | |
politischer Natur. Wer sind eigentlich die Schurkenstaaten und worin | |
besteht ihr schurkischer Charakter? Ein Schurke nach dem anderen | |
verschwindet aus dem Visier der USA; nach Nordkorea bleibt jetzt nur noch | |
der Iran übrig. Was sollte das dortige theokratische Regime veranlassen, | |
Amerikaner mit Massenvernichtungswaffen zu überziehen? Dafür gibt es keine | |
Begründung. Umso mehr, als keineswegs sicher ist, ob die USA im Fall eines | |
Angriffs nicht atomar antworten würden - selbst wenn der Raketenschild | |
funktionieren würde. Rationale Nutzen-Kosten-Kalküle sind auch Despoten | |
nicht fremd. Die Verfechter der "Schurkenstaat-Theorie" müssten begründen, | |
dass aus dem despotischen Charakter des Mullah-Regimes eine irrationale | |
Handlungsweise in der Außenpolitik folgt. Doch diese Annahme können sie | |
nicht plausibel untermauern. | |
Man kann annehmen, dass der polnischen Regierung die technischen wie | |
politischen Einwände gegen den Raketenschild geläufig sind. Ebenso klar ist | |
aber, dass diese Einwände bei der Entscheidung zugunsten des Schilds nie | |
eine Rolle gespielt haben. Von vereinzelten offiziellen Verlautbarungen | |
abgesehen, fand der Iran als potenzieller Angreifer nie eine Erwähnung. Was | |
aber sind dann die Motive der polnischen Regierung? Hören wir den | |
polnischen Premier am Vorabend der Unterzeichnung des Vertrages: "Zum | |
ersten Mal in der Geschichte des feindunabhängigen Polen seit 1989 nimmt | |
unser nationaler Traum eine praktische Dimension an." | |
"Nationaler Traum" meint, endlich dem Verhängnis zu entkommen, nach dem | |
Polen eingeschnürt war zwischen zwei aggressiven Mächten, Deutschland und | |
Russland. Die deutsche Drohung ist nach der Meinung der jetzigen polnischen | |
Regierung unter Donald Tusk gegenstandslos geworden. Bleibt die Bedrohung | |
durch Russland. Offensichtlich schätzt die politische Machtelite Polens | |
diese Bedrohung als so schwerwiegend ein, dass ihr als Nato-Mitglied die | |
gegenseitige Bündnisverpflichtung auf Grund des Nato-Vertrags nicht | |
ausreicht. In der Stationierung des Raketenschilds sieht sie ein | |
Instrument, Polen mit den USA militärisch stärker zu verkoppeln. Dem dient | |
auch die ständige Stationierung von USA-Patriot-Abwehr-Raketen gegen | |
Angriffe von Kurz- und Mittelstreckenraketen aus östlicher Richtung. Und | |
auch die versprochene amerikanische Hilfe bei der Modernisierung der | |
polnischen Luftstreitkräfte folgt dem gleichen politischen Motiv. | |
Das polnische Bedrohungsszenario ist mittlerweile zu einem außenpolitischen | |
Dogma geworden. Kern dieses Dogmas ist die These vom unwandelbar imperialen | |
Charakter des gegenwärtigen russischen Regierungssystems, das danach | |
strebt, den sowjetischen Gebietsstand der Zeit vor 1989 wiederherzustellen. | |
Dogmatisch ist diese These nicht deshalb, weil sie dem autokratischen | |
Russland imperiale Absichten unterstellt. Sondern weil sie nicht nach den | |
Interessenlagen und Konflikten in den jeweiligen Regionen fragt und die | |
globale Rivalität zwischen den USA und Russland um Einflusszonen ignoriert. | |
Gerade der jüngste Krieg in Georgien illustriert dieses Dogma. Ohne einen | |
Gedanken auf die Minderheitenproblematik in Gestalt von Südossetien und | |
Abchasien zu verwenden, ohne jede Berücksichtigung der widerstreitenden | |
ökonomischen Interessen konzentriert sich die polnische Politik allein auf | |
die Verurteilung der russischen Invasion in Georgien. Der polnische | |
Präsident hält eine kriegshetzerische Rede in Tiflis, in der er zum "Kampf" | |
aufruft. Währenddessen unterstellt die polnische Diplomatie einer Reihe von | |
europäischen Staaten, sie hätten durch ihre Weigerung, Georgien die | |
Nato-Mitgliedschaft anzubieten, erst die russische Intervention ermöglicht. | |
In der polnischen Publizistik ist von Appeasement die Rede. Ungehemmt wird | |
dadurch die historische Analogie zu dem Versagen der Westmächte gegenüber | |
Hitler in den 30er-Jahren bemüht. | |
Die Idee, Polen sei durch die imperiale Politik Putins in seiner | |
Unabhängigkeit bedroht, kann sich auf keinerlei Fakten stützen. | |
Hinsichtlich der Ukraine wird mittlerweile der russischen Politik eine | |
offene Annexionsabsicht unterstellt. Wie aber verhält es sich umgekehrt mit | |
den russischen Befürchtungen hinsichtlich des Raketenschilds in Polen und | |
Tschechien? Diese Befürchtungen sind zwar propagandistisch aufgebläht, aber | |
-mittelfristig gesehen - nicht ganz grundlos. Denn weder gibt es eine | |
Garantie, dass die Radaranlage in Tschechien nicht so aufgerüstet wird, | |
dass sie in Richtung Russland für Spionagezwecke eingesetzt werden kann. | |
Noch ist ausgemacht, dass nicht die Stationierung einer großen Zahl von | |
Abfangraketen das System auch gegenüber Russland einsatzfähig machen würde. | |
Falls es wirklich um die "Schurkenstaaten" ginge, wäre es möglich, Russland | |
gleichberechtigt in die Stationierung eines Abwehrsystems einzubeziehen. | |
Gerade dies aber wird von der polnischen Regierung zurückgewiesen. Soll die | |
Russlandpolitik der Konfrontation folgen oder soll sie auf verschiedene | |
Formen der Einbeziehung orientieren? Wir sind bereits mitten in der | |
Auseinandersetzung. | |
22 Aug 2008 | |
## AUTOREN | |
Christian Semler | |
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