# taz.de -- Kritisches Denken war gestern: Queer York City | |
> Dort, wo früher die Queer Studies blühten, im großstädtischen Dschungel | |
> New Yorks, ist heute eine riesige Outdoor-Mall: Manhattan. | |
Bild: Mag auch der Himmel über New York manchmal rosa glühen: Kritisches, que… | |
Der Höhepunkt der Aidskrise in den USA erzeugte in der zweiten Hälfte der | |
Achtzigerjahre ein politisches Klima, in dem die intellektuelle | |
Beschäftigung mit Sexualität zu einer Frage des Überlebens wurde. Die Queer | |
Studies begannen als eine Theoriebewegung, die sich in direktem Kontakt mit | |
politischem Widerstand artikulierte. Sie wurden der Soundtrack zu den | |
Protestaktionen von Gruppen wie Act-up (Aids Coalition to Unleash Power), | |
die mit "Die-ins" - sich tot stellenden Aktivisten auf den | |
Straßenkreuzungen Manhattans - und mit Plakataktionen in den Stadtbezirken | |
New Yorks für Aufregung sorgte. | |
Queer Studies entstanden in dieser Zeit als Projekt zwischen Theorie und | |
Praxis, Akademikern und Aktivisten, Journalisten und Künstlern - zwischen | |
Subkultur und Pop-Mainstream. Damit waren genau die Bedingungen gegeben, | |
aus einem intellektuellen Stil eine Mode und aus dem politischen Event | |
einen Mythos zu machen. Queer Studies versprachen einen Denk- und | |
Darstellungsstil, dem es gelang, diese Elemente konzeptuell | |
zusammenzubringen. Die Figur des Intellektuellen/Aktivisten/Künstlers, der | |
viele nacheiferten, wurde zum Vorbild der Bewegung - und galt als sexy. | |
Sogar Madonna wollte damals queer sein und zeigte in ihrem Buch "Sex" den | |
schwulen deutschstämmigen Schauspieler Udo Kier mit Männermodels an | |
Hundeleinen. Wie aus dem Pasolini-Film "Die 120 Tage von Sodom". Sie selbst | |
posierte ein paar Seiten weiter im Badezimmer zwischen Skinhead-Lesben. | |
Intellektuelle Moden brauchen ihre Stars, und der größte Star der Queer | |
Studies war die Philosophin Judith Butler. Ihre Theorie der | |
Geschlechtsperformativität schrieb sie auf, nachdem sie Jenny Livingstons | |
Dokumentarfilm "Paris is Burning" gesehen hatte, in dem die | |
geschlechtsambivalente schwule Latino-Subkultur in New York ihren aus | |
Modelposen zusammengesetzten Tanzstil "Voguing" vorführte. | |
Auch wenn nicht immer alle am Queer-Studies-Projekt Beteiligten in New York | |
lebten oder arbeiten: Die Bühne für die Queer Studies war stets Manhattan. | |
Auch weil New York neben San Francisco (und nur bedingt: Boston und | |
Chicago), die einzige US-amerikanische Stadt war, deren urbaner Raum zu | |
einem Resonanzkörper unterschiedlicher Stimmen werden konnte und damit das | |
Entstehen einer kritischen Öffentlichkeit ermöglichte. Diese eigentlich | |
europäische Idee einer städtischen Kommunikationskultur gibt es in den USA | |
sonst überhaupt nicht. Nur New York verfügt zudem über Stadtuniversitäten | |
(NYU, Cuny, Columbia), die in einem direkten Austausch mit dem politischen | |
und kulturellen Geschehen stehen. Am liebsten verbannen die Amerikaner ihre | |
intellektuelle Elite aufs Land, Princeton und Yale sind eineinhalb und | |
zweieinhalb Stunden von New York entfernt. | |
Die Stars der Queer Studies sind Anfang der Neunzigerjahre groß geworden, | |
nach dem Fall der Mauer und in einer Zeit, in der die optimistische Formel | |
vom "Ende der Geschichte" kursierte. Neben der Philosophin Butler, die mit | |
dem "Unbehagen der Geschlechter" die Bibel der Queer Studies geschrieben | |
hat und heute von Berkeley aus ihr Reich regiert, waren die | |
Literaturwissenschaftler Eve Kosofsky Sedgwick und Michael Warner von | |
Anfang an dabei. Die Heterosexuelle Sedgwick analysierte die Funktion von | |
männlicher Homosexualität für die Konstituierung des Subjekts in der | |
Moderne: Um ihre "homosozialen" Männerbünde zu stabilisieren, brauchen | |
heterosexistische Gesellschaften den Schwulen als Gegenfigur, um sich | |
abzugrenzen, argumentiert Sedgwick. Warner hingegen stellte die Weichen für | |
eine soziologische Perspektive innerhalb der Queer Studies und insistierte | |
darauf, dass diese als Disziplin politisch nur wirkungsvoll sind, wenn sie | |
sich als Normativitätskritik begreifen und über eine reine | |
Interessenvertretung weißer, schwuler Männer der Mittelklasse hinausgehen. | |
Wie Butler gehören auch Sedgwick und Warner in den USA längst zum | |
etablierten Kanon der Queer Studies. Sedgwick lehrt heute an der City | |
University of New York (Cuny) an der 5. Avenue in Manhattan, Michael Warner | |
an der Yale-Universität in New Haven, Connecticut, auf der halben Strecke | |
zwischen New York und Boston. Queer Studies sind im akademischen Mainstream | |
angekommen. Darin liegt die Ambivalenz des intellektuellen Lebens in den | |
USA: Einerseits gibt es finanziell gut ausgestattete Universitäten, deren | |
Wissenssysteme meist offener und flexibler sind als europäische und die im | |
privatwirtschaftlichen Konkurrenzkampf auch auf Moden wie Queer Studies | |
gesetzt haben (wovon man in Deutschland bisher nur träumen kann). | |
Andererseits findet ebendieses Geistesleben meist isoliert in der Provinz | |
statt - eine intellektuelle Professionalisierung, die eine | |
gesellschaftliche Entpolitisierung mit sich bringt. | |
Was bedeutet das für die intellektuelle Kultur einer Stadt wie New York? | |
Gerade Queer wollte ja immer auch eine Grenzüberschreitung sein, bei der | |
sich all jene verschiedenen Diskurse berühren, die eine großstädtische | |
Kultur zu bieten hat. Hybride Aktivitäten gibt es immer noch: Der | |
Kunsthistoriker Douglas Crimp unterrichtet an der Universität von Rochester | |
(Upstate New York) und veröffentlicht regelmäßig in populären | |
Kunstzeitschriften wie Artforum. Yale-Professor Michael Warner schreibt für | |
das schwule Monatsmagazin Advocate mit Redaktionssitz in Manhattan, oder | |
die linksliberale New Yorker Wochenzeitung Village Voice, das Sprachrohr | |
dessen, was sich einmal "Gegenkultur" nannte. | |
In den Redaktionsräumen der Village Voice am Astor Place im East Village | |
arbeitet auch Michael Musto, seit über zwanzig Jahren als Reporter des New | |
Yorker Nachtlebens und dabei meistens auf seinem Fahrrad unterwegs. In | |
seiner wöchentlichen Kolumne "La Dolce Musto" zelebriert er in bester | |
Truman-Capote-Tradition einen dekadenten Lifestyle, der Manhattan immer | |
noch als das interessanteste Versuchslabor der westlichen Welt behauptet. | |
Hier überleben die Queer Studies als schwuler Klatsch. | |
Für Wayne Koestenbaum, ehemaliger Student von Sedgwick und längst selbst | |
Professor für englische Literatur an der Cuny, ist der Glamour der Stadt | |
Geschichte geworden. Er hat mit seinen Büchern über Jackie Kennedy-Onassis | |
und Andy Warhol genau die Partytradition, der Musto Nacht für Nacht | |
hinterherjagt, zu seinem Forschungsgebiet gemacht. Queer ist eben auch | |
immer noch das, was es schon vor dem schwul-lesbischen Aufstand von | |
Stonewall im Jahr 1969 war: schwules Party- und Kulturprogramm. | |
Doch New York hatte immer auch schwule Schreiber, die Politik machen. Zum | |
Beispiel Michelangelo Signorile, einen Journalisten, der Anfang der | |
Neunziger fand, dass extreme Zeiten extreme Mittel forderten und so auf die | |
Idee des Outings kam - während sich heute selbst Klemmlesbe Jodie Foster | |
auf öffentlichen Veranstaltungen bei ihrer Freundin bedankt. Und obwohl es | |
in den USA noch immer keine landesweite Homoehe gibt, hat ein Signorile | |
längst eine eigene Radiosendung. | |
Mehr Aufsehen als das linksliberale Establishment erregen inzwischen | |
andere: Die Provokation kommt von konservativer Seite. Zum Beispiel von dem | |
schwulen politischen Journalisten Andrew Sullivan, der sich vor allem in | |
der Diskussion über die Homoehe eine Namen gemacht hat - und als | |
Unterstützer von George W. Bush, zumindest während dessen erster Amtszeit. | |
Mit dem politischen und kreativen Milieu New Yorks hat Sullivan nie etwas | |
zu tun gehabt, seine Blogs für The Nation und jetzt für The Atlantic | |
schreibt er von Washington aus. | |
Der Kampf gegen die katastrophale Aidspolitik der USA hatte die | |
Queer-Theoretiker einst geeint, aber die queere Kultur und den politischen | |
Aktionismus von damals gibt es nicht mehr. Heute haben die meisten | |
Protagonisten ihre Nische gefunden, von einem gemeinsamen Projekt kann nur | |
noch abstrakt die Rede sein. Dass heißt nicht, dass es keine interessante | |
Forschung mehr gibt. Jüngere Queer-Studies-Stars wie Jose Munoz am | |
Performance Studies Department von NYU arbeiten über den Zusammenhang von | |
Ethnizität und Sexualität. Tim Dean (University of Buffalo) liest die | |
Psychoanalyse als Queer Theory und forscht zum Thema Barebacking. Lee | |
Edelman (Tufts University, Massachusetts) versteht die Dekonstruktion | |
sexualpolitisch und schreibt über queere Zeitlichkeit. Und Judith | |
Halberstam (USC, Los Angeles) setzt den Queer-Studies-Schwerpunkt auf | |
Transgender. | |
Aber diese Intellektuellen brauchen New York nicht mehr als Nährboden für | |
ihre Ideen. Zwar ist New York ähnlich wie Paris immer noch eine beliebte | |
Kulisse für jene, die es geschafft haben - wie zum Beispiel den | |
Schriftsteller Edmund White, der in Princeton Kreatives Schreiben lehrt. | |
Aber die Gentrifizierung hat ganz Manhattan zu einer Outdoor-Mall gemacht, | |
und die suburbanization - die "Vervorstädterung" Manhattans - erzeugt nicht | |
unbedingt ein intensives intellektuelles Klima, in dem die drängenden | |
Fragen der Gegenwart angegangen werden. Auch wenn jeder Besuch beweist, | |
dass New York immer noch die schwulste Stadt der Welt ist, den kritischen | |
Sound, der das Cruising auf der Straße einmal begleitet hat, hört man hier | |
nicht mehr. | |
PETER REHBERG, geboren 1966, arbeitet als Journalist, Autor und | |
Literaturwissenschaftler in Berlin. Zuvor lebte er lange Zeit in New York. | |
Er ist Chefredakteur des Magazins Männer | |
22 Aug 2008 | |
## AUTOREN | |
Peter Rehberg | |
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Tanz | |
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