# taz.de -- Debatte SPD-Kurs: Rechts und Links lebt | |
> Die aktuelle Krise der SPD hat viele Gründe. Zu bekämpfen ist sie nur, | |
> wenn der nebulöse "Weg der Mitte" aufgegeben und das linke Profil der | |
> Partei geschärft wird. | |
Bild: Der italienische Rechtsphilosoph und Publizist Norberto Bobbio 1995 | |
Wer über die Krise der SPD redet, darf die des Parteiensystems nicht | |
übersehen. Diese Krise beschränkte sich nicht nur auf Deutschland. Es gibt | |
sie in Italien, in Frankreich und Großbritannien, in Österreich und den | |
Niederlanden. Äußere Merkmale sind Mitgliederschwund und notorisch sinkende | |
Wahlbeteiligung. Die Basis ist flüchtig geworden. | |
Soziologische Gründe dafür liegen in der Auflösung sozialer Milieus und in | |
der Entstehung eines neuen abgehängten Prekariats (was man früher | |
"Lumpenproletariat" nannte). Sie liegen aber auch in einer rein | |
ökonomistisch dressierten neuen Businessschicht und in stark | |
individualistisch ausgerichteten hedonistischen Lebensformen. | |
Werbepsychologen und audiovisuelle Medien prägen eine "Kultur des | |
Narzissmus", treffend beschrieben etwa von dem amerikanischen Soziologen | |
Christopher Lasch. | |
Politische Gründe liegen in der neuen Ideologie der Ideologiefreiheit; als | |
gäbe es keine unterschiedlichen Werte und Interessen mehr, sondern nur noch | |
scheinbar neutrale Sach- und Kostenzwänge. Scheinbar gibt es nur noch gute | |
oder schlechte Politik, aber keine sozialdemokratische oder | |
christdemokratische Politik mehr. Der Eindruck von Unterschiedslosigkeit | |
und praktischem Konformismus unter den Parteien verfestigt sich. Ihre | |
dennoch anhaltenden Kontroversen erscheinen daher aufgesetzt. Für Parteien, | |
die nichts Wesentliches ändern wollen, mag das genug sein. Für | |
sozialdemokratische Parteien, von denen immer wieder neu herzustellender | |
sozialer Ausgleich und zukunftsgewisse Perspektiven versprochen und | |
erwartet werden, ist das verheerend. | |
Die Verhältnisse einer sich spaltenden Gesellschaft inmitten existenzieller | |
Gefährdungen von Lebenssicherheiten, einschließlich neuer internationaler | |
Konflikte und sich häufender Umweltkatastrophen, stehen in zunehmendem | |
Widerspruch zur gegenwärtigen Performance sozialdemokratischer Parteien. | |
Gegen die gesellschaftliche Macht der "Millionäre" hilft auch heute nur die | |
potenzielle Macht von Millionen Menschen mittels des Mediums demokratischer | |
Mehrheitsentscheidung. Indem sich aber eine Entfremdung zwischen | |
Repräsentanten und Repräsentierten vollzieht, trifft das die SPD besonders. | |
Der wohlfeile Ausweg in die "neue Mitte" wird zum Holzweg, egal ob die | |
soziologische oder eine politische Mitte gemeint ist. Erstere zerbröselt | |
gerade, und die zweite führt zu Konzepten der Beliebigkeit auf den Wellen | |
des sich rasch verändernden Zeitgeists. | |
In seiner Schrift "Links und rechts" betont der italienische | |
Politikphilosoph Norberto Bobbio, dass sich in jeder Gesellschaft zu jeder | |
Zeit eine polare Werteorientierung herausbildet, die sich in der Politik | |
widerspiegeln muss - allerdings mit sich dabei verändernden Inhalten. | |
"Rechts" steht dabei für vorwiegend egoistische Einstellungsmuster mit | |
gesellschaftlicher Rücksichtslosigkeit. "Links" steht für Einstellungen, | |
die auf Gerechtigkeit und Gemeinwohl ausgerichtet sind. Das | |
Gerechtigkeitsverlangen bedeutet heute, die alte soziale Frage unter | |
veränderten Bedingungen glaubwürdig und konsequent neu beantworten, also | |
Partei ergreifen zu müssen. Gemeinwohlorientierung heißt heute vor allem, | |
sich der ökologischen Herausforderung zu stellen, um die umfassenden | |
sozialen Folgekosten ökologischen Raubbaus zu vermeiden. Dies ist die | |
eigentliche neue soziale Frage. | |
Beides zusammen fordert eine neue sozialdemokratische Gesellschaftspolitik, | |
die die wachsenden Zukunftsängste überwinden kann. Dass man damit - durch | |
unverkennbares, glaubwürdiges Profil - angestammte Wähler binden und neue | |
gewinnen kann, bewies der hessische Wahlkampf mit Andrea Ypsilantis | |
Programm der "Sozialen Moderne": Die SPD als neu sammelnde statt als | |
schrumpfende Kraft. Der Zulauf jüngerer Wähler und aus selbstständigen | |
Berufen war so groß wie lange nicht mehr. Wie wenig das selbst in der SPD | |
erkannt oder anerkannt wurde, trotz ansonsten allenthalben erlebter | |
Hängepartien, zeigt sich an der unverhohlenen Distanz von Teilen der | |
SPD-Führung zu dem hessischen Projekt, die bereits im Wahlkampf spürbar | |
war. | |
Es zeigt sich auch an der empfohlenen Ausflucht in die nebulöse, | |
undefinierte "Mitte", die trotz der zweifellos dadurch ausgelösten | |
Schrumpferfahrung immer noch als strategisches Patentrezept gilt. Damit ist | |
kaum mehr als die Rolle des dauernden Juniorpartners der Union erreichbar - | |
mit schwindendem Einfluss. Die Alternative einer "Ampel" mit der FDP wäre | |
für die SPD keinesfalls attraktiver. Jedenfalls nicht in einer Zeit, in der | |
es längst Mehrheitsbewusstsein ist, dass mit "neoliberalen" | |
Politikkonzepten - die eher parvenuhafte "neofeudale" sind - kein | |
handlungsfähiger Staat zu machen ist. | |
Alle reden vom neuen "Fünfparteiensystem". Bei näherer Betrachtung gibt es | |
jedoch nur zwei relevante große Strömungen in der Gesellschaft, die sich | |
gut und gerne in zwei großen Parteien repräsentiert sehen und alle anderen | |
zu Splittern machen könnten: die einer neuen Rechten, die zwar nicht mehr | |
nationalistisch ist, aber eher diejenigen repräsentiert, die zugunsten | |
ihrer überwiegend ökonomistischen Interessen soziale Spaltungen und | |
gemeinwohlgefährdende Rücksichtslosigkeiten in Kauf nehmen. Dem gegenüber | |
steht eine "neue Linke", die den demokratischen Verfassungsstaat mit neuem | |
Leben füllt, am Prinzip des sozialen Ausgleichs und der dafür zwingend | |
erforderlichen öffentlichen Daseinsvorsorge festhält und die auf | |
nachhaltige ökologische Produktionsweisen setzt. Hier liegt die einzige | |
Chance der SPD zur Wiedererlangung der Rolle als Mehrheitspartei. | |
Sie kann sie nur durch eine Politik realisieren, die die beiden Aderlasse | |
beendet, die sie seit den 80er-Jahren riskiert hat und sich nunmehr als | |
verhängnisvoll herausstellen. Der eine Aderlass erfolgte durch die | |
Entstehung der Grünen. Die rot-grüne Koalition hätte das dauerhaft heilen | |
können, wenn sie in der SPD-Führung mehr als Projekt denn als | |
einstweiliges, manchen sogar lästiges Zweckbündnis verstanden worden wäre. | |
So blieb sie "unfinished". Der zweite Aderlass geschieht durch Abwanderung | |
zur Linkspartei. Damit hat die SPD zwei offene Flanken, die sie nur | |
schließen kann durch ein couragiertes Konzept des ökologischen | |
Strukturwandels der Wirtschaft und ein neu geschärftes und zugeschnittenes | |
Gerechtigkeitskonzept. | |
Viele, die der SPD den Rücken gekehrt haben, stehen unter dem Eindruck, | |
dass die Protagonisten der "SPD der Mitte" froh sind, sie losgeworden zu | |
sein - ohne dass sie es vermochte, zum Ausgleich dafür tatsächlich neue | |
Wähler zu gewinnen. So verliert sich die SPD in der ominösen politischen | |
Mitte, die weder Fisch noch Fleisch ist. Noch nie gab es eine Situation, in | |
der die Chance der SPD so groß war und dennoch bisher ausgeschlagen oder | |
halbherzig ergriffen wurde - weil sie von allzu vielen entweder nicht | |
gesehen wird oder allzu viele sie nicht sehen wollen. | |
27 Aug 2008 | |
## AUTOREN | |
Hermann Scheer | |
## TAGS | |
Rechts | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Norberto Bobbios „Rechts und Links“: Das Problem der Gleichheit | |
Ist die Unterscheidung zwischen links und rechts obsolet geworden? Die | |
Neuauflage von Norberto Bobbios Klassiker gibt Antworten. |