# taz.de -- Vom Rekordtorschützenkönig in die Provinz: Schieß, Erdal! | |
> Erdal Kilicaslan spielte beim FC Bayern und war auf dem Weg zu einem Star | |
> - und zu einem Rollenvorbild der Integration. Heute, mit 23, ist er in | |
> der anatolischen Provinz gelandet.Was ist schiefgelaufen? | |
Bild: Die Trophäen von eins stehen auf dem Schrank, heute spielt Kilicaslan in… | |
Trainer Horst Hrubesch wusste seinerzeit, dass er es mit einem besonderen | |
Jahrgang zu tun hatte: "Da waren sehr viele junge Fußballer dabei, die | |
technisch und charakterlich das Zeug hatten, den Sprung nach ganz oben zu | |
schaffen." In der Saison von 2003 auf 2004 hatte er den 84er-Jahrgang | |
übernommen. | |
Hrubesch, der ehemalige Stürmer des Hamburger SV, der danach acht Jahre | |
lang als Trainer der deutschen U19-Nationalmannschaft tätig war, hatte | |
bereits damals eine ansehnliche Junioren-Mannschaft aufgestellt: im Tor | |
Michael Rensing, der beim FC Bayern gerade die Nachfolge des großen Oliver | |
Kahn angetreten hat; im Mittelfeld Bastian Schweinsteiger, der es in der EM | |
2008 durch sein Tor auf den Titel von Bild schaffte ("Schweini-Geil!"); | |
außerdem Piotr Trochowski, dem man beim Hamburger SV zutraut, Rafael van | |
der Vaart zu beerben. Und David Odonkor, der bei Betis Sevilla in der | |
Ersten spanischen Liga spielt. Im Angriff schließlich der Kapitän und | |
überragende Star des Hamburger SV-Teams: Erdal Kilicaslan. | |
Bitte wer? | |
Erdal Kilicaslan. Von der U 15 bis zur U 20 brachte er es auf 63 Einsätze | |
und schoss dabei 41 Tore - eine Trefferquote in den deutschen | |
Junioren-Nationalmannschaften, die bis heute unerreicht ist. Erdal trug | |
maßgeblich dazu bei, dass die B-Junioren des FC Bayern im Jahr 2001 | |
deutscher Meister wurden, und wiederholte im Jahr darauf diesen Erfolg mit | |
den A-Junioren. | |
## Tiefer Fall | |
Doch heute, mit dreiundzwanzig Jahren, wo viele seiner früheren Mitspieler | |
zu festen Größen im deutschen Fußball geworden sind, spielt er in der | |
Türkei. Und zwar nicht bei einem der drei großen Istanbuler Clubs, sondern | |
in der tiefsten anatolischen Provinz. In der letzten Saison in Gaziantep an | |
der türkisch-syrischen Grenze, in der neuen im zentralanatolischen Konya, | |
der Hochburg der türkischen Islamisten. | |
Und selbst wenn es ihm gelingen sollte, noch einmal an seine früheren | |
Leistungen anzuknüpfen, wird aus ihm kein "Role Model" der Integration mehr | |
werden: Für Deutschland wird er nicht mehr spielen können, denn die | |
deutsche Staatsbürgerschaft hat er längst abgelegt. | |
Was ist geschehen? Ist ihm der frühe Erfolg zu Kopf gestiegen? Ist er einer | |
dieser blasierten Genies, die sich am Ende zu sehr auf ihr | |
außerordentliches Können verlassen statt auf das, was man im Fußball ganz | |
unverkrampft "deutsche Tugenden" zu nennen pflegt - also: rennen, | |
grätschen, Gras fressen? Hat ihn eine seltsame Sehnsucht nach der Heimat | |
seiner Großeltern gepackt? Oder lag es daran, dass es deutschtürkische | |
Fußballer schwerer haben, sich in der Bundesliga durchzusetzen? Ist er | |
womöglich sogar ein Opfer von Diskriminierung? Oder wurde er zu seinen | |
Erfolgen von einem dieser überaus ehrgeizigen Väter oder einer dieser | |
Mütter getrieben, die davon besessen sind, dass ihre Söhne und Töchter all | |
das werden sollen, was ihnen selbst versagt blieb: Eiskunstläuferin, | |
Konzertpianist, Fußballstar? | |
Diese Fragen führen nach München, Erdal Kilicaslans Geburtsort. Seine | |
Familie lebt dort in einem Einfamilienhaus in Ramersdorf-Perlach, am | |
südöstlichen Stadtrand der Bayern-Metropole. Zum Bezirk gehört auch | |
Neuperlach, die größte westdeutsche Satellitenstadt und genau das, was man | |
einen "sozialen Brennpunkt" nennt. | |
Doch die Kilicaslans leben in einem weitaus gediegeneren Teil des Bezirks, | |
dort, wo Einfamilienhäuser, blumige Gärten und Autos der gehobenen | |
Mittelklasse das Straßenbild bestimmen. Hierher ziehen Leute, die sich | |
etwas leisten können. In der Nachbarschaft gibt es nur eine weitere | |
türkische Familie. Erdal, der dank seines Fußballtalents schon als Schüler | |
tausend Euro und mehr verdiente, hat zum Hauskauf einen Teil beigesteuert | |
und sich nun im zweiten Stock eine eigene Wohnung eingerichtet. "Sobald ich | |
ein paar Tage freihabe, komme ich nach München", erzählt er. "Meine Familie | |
ist mir sehr wichtig, meine Freundin lebt in München, meine ganzen Freunde | |
sind hier." | |
## Atatürk und Pokale | |
Zwei Dinge lassen sofort erkennen, dass es sich bei diesem Haushalt um | |
einen türkischen handelt. An einer Wand im Flur hängt Mustafa Kemal | |
Atatürks "Ansprache an die Jugend" aus dem Jahr 1927. Ein Stück | |
Nationalfolklore, das, auf Papier oder auf Stoff gedruckt, etliche | |
türkische Wohnzimmer und Geschäfte schmückt ("Oh du, türkische Jugend! | |
Deine erste Pflicht ist es, die nationale Unabhängigkeit, die türkische | |
Republik immerdar zu wahren und zu verteidigen. […] Die Kraft, die du | |
hierfür brauchst, findest du in dem edlen Blute, das in deinen Adern | |
fließt!"). Den zweiten Hinweis bemerkt man beim Eintreten. Erdal zieht sich | |
die Schuhe aus und bietet dem Gast Pantoffeln an. | |
Er selbst schlüpft in Badeschlappen mit dem Emblem des FC Bayern. Erdals | |
Wohnung ist anzumerken, dass er nicht wirklich hier lebt. Das Schlafzimmer | |
hat den Charme eines Mittelklassehotelzimmers, nur die Dutzende von Pokalen | |
auf dem Kleiderschrank fallen auf. Die einzige persönliche Note in seinem | |
Wohnzimmer ist eine Steppdecke, ebenfalls mit FC-Bayern-Emblem. "Ich hatte | |
von diesen Sachen noch viel mehr, das meiste habe ich weggeräumt", sagt er. | |
Zum Gespräch lädt Erdal in die offene Küche der Eltern ein. Dort ist der | |
Fernseher eingeschaltet, zur Mittagszeit läuft der Nachrichtensender n-tv. | |
Wir nehmen am Küchentisch Platz, Erdals Vater Yusuf setzt sich dazu, Mutter | |
Fatma kredenzt Kaffee, setzt sich aber nach einigem Smalltalk auf das Sofa | |
im Wohnzimmer. Nur zweimal mischt sie sich ins Gespräch ein. Einmal, als | |
sie erzählt, wie sie und ihr Mann Erdal vergeblich zuredeten, den | |
Realschulabschluss zu machen, nachdem er wegen seiner vielen Fehlzeiten in | |
der zehnten Klasse sitzen geblieben war. Das zweite Mal, als sie laut | |
auflacht bei der Frage, ob sich Erdal in Gaziantep selbst um alltägliche | |
Dinge wie Kochen und Putzen kümmert. (Die Antwort: Nein, er hat ein Zimmer | |
in einer Wohnanlage des Clubs. Das Personal dort erledigt das.) | |
Fatma Kilicaslan ist 46, hat als Verkäuferin gearbeitet und ist derzeit | |
arbeitslos. Ihr Ehemann Yusuf ist Facharbeiter bei BMW. Beide kamen schon | |
als Kinder nach Deutschland. Erdal und seine ältere Schwester Bahar, die | |
Kommunikationsdesign studierte und verheiratet ist, gehören somit zur | |
sogenannten dritten Generation der Migranten. Erdals Mutter spricht | |
selbstsicher und freundlich. Aber viel häufiger redet ihr Mann. Er ist auch | |
der Erste, der auf Erdals Karriere zu sprechen kommt. Sein Sohn hört | |
schweigend zu. | |
Wer von Erdal etwas erfahren will, muss erst mal den Vater stoppen. | |
"Dein Vater redet viel?" | |
"Ja, schon. Aber ich höre ihm gerne zu. Ich habe immer auf seinen Rat | |
gehört, weil ich weiß, dass er viel Erfahrung hat. Er hat selbst auch | |
Fußball gespielt." | |
"Wollte dein Vater, dass du Profifußballer wirst?" | |
"Nein. Das war immer mein Traum. Und so mit 16, 17 habe ich alles dafür | |
gegeben." | |
"Es heißt, wer Profi werden will, muss auf vieles verzichten, was für | |
Teenager selbstverständlich ist." | |
"Ich hatte keine Probleme damit. Nach einem Spiel sind wir auch mal feiern | |
gegangen. Aber natürlich nicht so extrem mit Alkohol und was weiß ich." | |
"Gibt es nicht einen harten Konkurrenzkampf unter Juniorenspielern?" | |
"Bei uns gabs das nicht. Jeder hatte sein Ziel vor sich. Aber wir hatten | |
auch eine super Freundschaft. Zu vielen habe ich immer noch Kontakt, mit | |
Christian Lell zum Beispiel war ich gerade ein paar Tage auf Ibiza." | |
## Vordbild Müller | |
Erdal redet langsam, lächelt dabei oft, wirkt aber zuweilen etwas | |
teilnahmslos. Er ist höflich und freundlich - ein Eindruck, den später | |
seine früheren Betreuer bestätigen werden, die ihn allesamt als nett, brav | |
und respektvoll beschreiben. Dass er ausgerechnet den introvertierten | |
"Bomber der Nation", Gerd Müller, sein fußballerisches Vorbild nennt, passt | |
gut. | |
Erdal erzählt auch, wie er mit Christian Lell in der F-Jugend angefangen | |
hat. Erzählt, wie jedes Jahr einige Spieler aussortiert wurden und neue | |
hinzukamen, sie beide aber blieben; wie er von Klaus Sammer in die U 15 | |
berufen wurde; wie ihm Horst Hrubesch mit Zustimmung der Mannschaft die | |
schwarz-rot-goldene Kapitänsbinde übertrug; wie sehr ihn Hrubesch in der U | |
19 und Stefan Beckenbauer als Trainer der Bayern-B-Jugend beeinflusst haben | |
und dass er zu beiden noch immer Kontakt hält. Er erzählt, dass es ein | |
tolles Erlebnis war, an der Juniorenweltmeisterschaft in den Vereinigten | |
Arabischen Emiraten teilzunehmen - die einzigen Spiele übrigens, bei denen | |
sein Vater nicht im Publikum saß. "Sonst war ich bei allen Spielen und oft | |
auch im Training", sagt der Vater stolz. | |
Der Vater ist auch derjenige, der sich an Daten, Zahlen oder Namen genau | |
erinnert. Und wenn er darüber spricht, klingt es, als rede er von Dingen, | |
die erst gestern geschehen wären. Aber vielleicht ist das immer so, wenn | |
Eltern über die Kindheit ihrer Zöglinge sprechen. Dann erzählt er davon, | |
wie er bei BMW regelmäßig in der Nachtschicht arbeitete, um seinen Sohn | |
tagsüber von der Schule nach Hause und zum Training fahren zu können. "Wir | |
wollten immer unseren Kindern alles geben", sagt er. Man glaubt es ihm. | |
Aber war es zu viel des Guten? | |
"Natürlich gibt es diese Väter oder auch Mütter, die immer sagen: Du musst, | |
du musst, du musst", erzählt Werner Kern. Der 62-Jährige ist seit zehn | |
Jahren für den Junioren- und Amateurbereich des FC Bayern verantwortlich. | |
Zuvor hat er dort in der zweiten Mannschaft gespielt. Später war er | |
Assistenztrainer bei den Bayern und Cheftrainer in der Zweiten Liga. Er | |
kannte die Kilicaslans sehr gut. "Erdals Vater hat seinen Sohn unterstützt | |
und ihm Orientierung gegeben, ihn vielleicht auch mal in den Hintern | |
getreten, aber ich hatte nie den Eindruck, dass er zu viel Druck ausgeübt | |
hat", sagt Kern. "Wenn Berkant Göktan das Elternhaus von Erdal Kilicaslan | |
gehabt hätte, wäre aus ihm ein Weltklassestümer geworden." | |
## Das größte Talens des FC Bayern | |
Berkant Göktan, das ist der andere Deutschtürke und das andere | |
Fußballtalent, das nach einem verheißungsvollen Auftakt beim FC Bayern | |
nicht weiterkam. Begonnen hatte seine Profikarriere im Oktober 1998, als | |
Ottmar Hitzfeld den damals 17-Jährigen beim Rückstand gegen Manchester | |
United in der Champions League einwechselte. Doch schließlich konnte sich | |
Göktan in Deutschland nicht durchsetzen und wechselte in die Türkei, wo er | |
bei Galatasaray und Besiktas mit durchwachsenem Erfolg spielte. Inzwischen | |
spielt er wieder in seiner Geburtsstadt München. Allerdings nicht beim FC | |
Bayern, sondern beim Zweitligisten TSV 1860. "Berkant Göktan war | |
gottbegnadet", sagt Kern. "Nach Meinung unserer Trainer war er das größte | |
Talent, das wir jemals beim FC Bayern hatten." | |
So milde Werner Kern über Erdal redet, so sehr klingt beim Thema Göktan die | |
Klage über ein verschwendetes Talent und die Trauer über eine | |
fußballerische Tragödie durch. Allerdings habe es Göktan auch an vielem | |
gefehlt, zum Beispiel an "den Einsichten, der Professionalität, der | |
Mentalität. Göktan hat völlig den Boden unter den Füßen verloren und war | |
für niemanden mehr zu erreichen", sagt Kern. | |
Und zwar nicht mal, als es um die Nationalmannschaft ging, denn anders als | |
Erdal entschied sich Göktan für die Türkei. "Wenn die Spieler hier ihren | |
Weg machen, sollen sie auch für Deutschland spielen", meint Kern dazu. | |
"Integration muss man aktiv leben. Man braucht für alles Vorbilder, und | |
wenn es solche Spieler gibt, ist das wunderbar. Wir leben doch nicht mehr | |
in der Steinzeit." | |
Die Steinzeit, die ist in dieser Hinsicht nicht allzu lange her. Noch Ende | |
der Neunzigerjahre, als Erdal erstmals zu einer Auswahlmannschaft des DFB | |
eingeladen wurde, war die Nationalmannschaft kein besseres Spiegelbild der | |
Einwanderungsgesellschaft als eine Jahreshauptversammlung des Verbandes | |
deutscher Hausmeister. Und wer wollte, konnte am Fehlen von | |
Einwandererkindern im DFB-Team ablesen, wie schlecht es um die Integration | |
bestellt war. Während der DFB das Thema vernachlässigte, und selbst in der | |
Bundesliga kaum deutschtürkische Spieler anzutreffen waren, akquirierte das | |
Europabüro des türkischen Verbands reihenweise die besten Talente: und zwar | |
für die türkische Nationalmannschaft. | |
Was dachte Kilicaslans Vater, als der Sohn einen anderen Weg einschlug und | |
sich für den FC Bayern entschied? "Wenn die Türken sich so frühzeitig und | |
ernsthaft um Erdal bemüht hätten, hätte uns das natürlich gefallen, ihn für | |
die Türkei spielen zu sehen", meint er. Aber wer beim FC Bayern sei, könne | |
so etwas nicht allein entscheiden. Und die Bayern sähen es nicht gern, wenn | |
ihre Jugendspieler für eine andere Nationalmannschaft spielten, weil diese | |
dann ständig zu Lehrgängen und Spielen eingeladen würden und der Mannschaft | |
fehlten. | |
Während er das erzählt, hat seine Frau Fatma einige Fotoalben herausgeholt: | |
Erdal am Ball, Erdal im Torjubel, Erdal im Kreis seiner Mitspieler, Erdal | |
im Zweikampf mit dem heutigen spanischen Europameister Andrés Iniesta, | |
Erdal bei einem Empfang mit Edmund Stoiber. Einige Fotos hat sie zusammen | |
mit Ausschnitten aus deutschen und türkischen Zeitungen eingerahmt. | |
"Tormaschine Erdal" oder "Torhungrig wie Gerd Müller" lauten die | |
Überschriften. Die Fotos und Zeitungsschnipsel zeigen deutlich: Erdal ist | |
auf dem Weg nach oben. Zur Saison 2003 auf 2004 kommt der ersehnte Schritt: | |
Er wechselt in die zweite Mannschaft des FC Bayern. Und dann bricht das | |
Unheil über das sorglose Fußballerleben herein. Für die Kilicaslans ist | |
klar, welchen Namen dieses Unheil trägt: Hermann Gerland. | |
Der ehemalige Bundesligaspieler trainiert die zweite Mannschaft des FC | |
Bayern. In den vergangenen Jahren hat er etliche Talente zu | |
Bundesligaprofis geformt. Aber er gilt auch als extrem harter Knochen. | |
"Gerland ist ein sehr guter Trainer. Aber er mag keine türkischen | |
Fußballer", sagt Yusuf Kilicaslan. Das sei ihm mit der Zeit immer | |
deutlicher geworden. Warum er sich so sicher ist? "Erdal war Gerland nicht | |
gut genug, einverstanden. Aber was ist mit Serkan Atak? Der hat gerade bei | |
Ankara Oftas eine sehr erfolgreiche Saison gespielt, aber bei Gerland bekam | |
er nie eine Chance. Genauso wie Erdal." Der sich indes nicht darauf | |
festlegen will, dass Gerland Probleme mit Türken hat. Doch er sagt | |
ebenfalls: "Gerland fördert junge Spieler. Aber mich hat er nicht | |
gefördert, er hat mir nie das Vertrauen gegeben, mal vier, fünf Spiele | |
hintereinander zu machen. Er hat mich fertiggemacht." | |
## An der Säbener Straße | |
Anfangs habe er es akzeptiert, sich hinter Zvjezdan Misimovic und Paolo | |
Guerrero einzureihen. "Aber im Jahr darauf waren die weg - und ich bekam | |
immer noch keine echte Chance. Das hat mich so verunsichert, dass ich mir | |
nicht mehr alles zugetraut habe. Und wenn du in einem Spiel erst | |
eingewechselt und dann wieder ausgewechselt wirst, ist das das Schlimmste, | |
was dir als Fußballer passieren kann." | |
Selbst als wir am folgenden Tag zum Vereinsgelände des FC Bayern in der | |
Säbener Straße fahren, ist Erdal keine Wehmut oder Verbitterung anzumerken. | |
Doch hier zeigt er Gefühle, die Kränkung ist ihm noch immer anzumerken. | |
"Ein- und auswechseln, so was macht man nicht mit einem Spieler", murmelt | |
er. | |
"Wenn einer nicht das macht, was ich ihm sage, dann hol ich ihn schon mal | |
vom Platz", antwortet der seinerzeit verantwortliche Trainer Hermann | |
Gerland, als er mit diesen Vorwürfen konfrontiert wird. Gerland ist ein | |
anderer Typ als der freundliche Bayer Kern und der kumpelhafte Hrubesch; | |
selbst wenn er mit Journalisten spricht, klingt er laut und zackig. "Erdal | |
war schon sehr früh ein komplett fertiger Spieler und in der Jugend | |
überragend", sagt Gerland. "Aber dann haben seine Mitspieler ihn überholt, | |
während er in seiner Entwicklung stehen geblieben ist." Und hat er etwas | |
gegen türkische Spieler? "Blödsinn! Aber viele Kinder von türkischen | |
Mitbürgern sind früher entwickelt als deutsche. Sie sind relativ früh groß | |
und schnell und haben früher Haare auf der Brust als ihre deutschen | |
Mitspieler. Aber irgendwann holen die auf." | |
Etwas verständnisvoller spricht Werner Kern über seinen früheren | |
Schützling. Erdal sei immer Mittelstürmer gewesen, habe bei Gerland aber an | |
der Seite spielen müssen. Allerdings bestätigt Kern, dass die Mitspieler | |
von Erdal beim Übergang zu den Senioren aufgeholt hatten. Erdal sei | |
womöglich daran verzweifelt, dass er seine früher überragenden Leistungen | |
nicht habe fortführen können. | |
"Problemorientiertes Denken", nennt der Sportpsychologe Thorsten Leber | |
dieses Phänomen. Er ist im "Institut für Sportpsychologie und Mentales | |
Coaching" in Schwetzingen für den Nachwuchsbereich zuständig; sein Chef | |
Hans-Dieter Hermann wurde von Jürgen Klinsmann als erster Sportpsychologe | |
zur Nationalmannschaft geholt. "Ein Spieler, der in ein neues Umfeld kommt, | |
etwa von der Jugend zu den Profis, kann versuchen, die Herausforderung | |
anzunehmen", sagt Leber. "Problematischer ist es, wenn er sich auf die | |
Schwierigkeiten konzentriert. Im ersten Fall sagt er vor oder bei einer | |
Leistungssituation: ,Heute zeige ichs allen.' Im anderen Fall sagt er: ,Oh | |
Gott, heute bin ich aber schlecht drauf. An diesem Punkt kann ein | |
Sportpsychologe mit dem Spieler arbeiten." | |
Selbst der kann natürlich nicht garantieren, dass aus jedem Teenagerstar | |
ein Bundesligaprofi wird. "Nicht jeder, der ein exzellentes Abitur macht, | |
schafft auch einen exzellenten Hochschulabschluss und wird Topmanager", | |
meint Uwe Harttgen, der zur Bremer Meisterschaft von 1993 gehörte, später | |
Psychologie studierte und heute Nachwuchsmanager bei Werder ist. | |
In Bremen sind es im Schnitt jährlich nur zwei Spieler, denen der | |
Durchbruch in die erste Mannschaft gelingt. | |
Und wie war das für Erdal, als es plötzlich nicht mehr weiterging? "Ich | |
habe weiter trainiert", sagt er. Erst auf mehrmalige Nachfrage gibt er zu, | |
dass er damals "fertig" war. "Aber du kannst dich ja nicht den ganzen Tag | |
im Bett verkriechen und weinen. Und ich habe nie an mir gezweifelt und habe | |
mir gesagt: Es gibt noch andere Fußballclubs als den FC Bayern." | |
Und sei es Gaziantepspor, ein im Niemandsland der türkischen Liga | |
beheimateter Verein. Von dort erhält Erdal in seiner dritten Saison bei | |
Bayern II ein Angebot, das er nicht ablehnen zu können glaubt. | |
Dabei hat er sich, anders als viele Deutschtürken, vorher kaum für den | |
türkischen Fußball interessiert. Jetzt aber sieht er keine Perspektive - | |
zum Bedauern von Hrubesch: "Er hätte sich durchbeißen sollen. Sein Wechsel | |
ging viel zu schnell. Und hat ihn letztlich nicht weitergebracht." | |
Tatsächlich läuft es in Gaziantep zunächst nicht besser. Kaum ist Erdal | |
dort eingetroffen, wird der Trainer, der ihn verpflichtet hat, entlassen. | |
Dessen Nachfolger plant nicht mit ihm. Anfang 2006 wird er an den | |
Lokalrivalen ausgeliehen, Gaziantep Belediyespor, Zweite türkische Liga, | |
Endstation. | |
In dieser Zeit gibt Erdal die deutsche Staatsbürgerschaft ab. Der Grund: Er | |
gehört zu jenen 50.000 eingebürgerten Türken, die stillschweigend wieder | |
ausgebürgert wurden. Da diese Geschichte bei den Deutschtürken für die | |
größte Enttäuschung der vergangenen Jahre gesorgt hat, in der deutschen | |
Öffentlichkeit aber kaum zur Kenntnis genommen wurde, sei sie kurz noch | |
einmal erzählt: Die rot-grüne Bundesregierung schaffte zwar im Jahr 2000 | |
das reine Blutsrecht ab, erschwerte aber Jugendlichen und Erwachsenen die | |
Einbürgerung. | |
So war es bis dahin üblich, dass man die alte Staatsbürgerschaft abgab, die | |
Deutsche annahm, um dann wieder die alte zu erwerben. Seit der | |
Gesetzesreform aber gilt: Wer nach dem Erwerb der deutschen | |
Staatsangehörigkeit die vorige wieder erwirbt, hat die deutsche | |
Staatsangehörigkeit automatisch verwirkt. Genau das widerfuhr den | |
Kilicaslans. | |
Als dieser Sachverhalt durch eine Verfahrensrichtlinie im Jahr 2005 bekannt | |
wird, beantragen Erdals Eltern ein zweites Mal die deutsche | |
Staatsbürgerschaft. Erdal hingegen gibt den deutschen Pass ab. "Die | |
Nationalmannschaft hatte ich schon abgeschrieben, und da ich schon in der | |
Türkei war, habe ich den türkischen Pass behalten." Er bestreitet, dass | |
sein Club ihn dazu drängte, um sein limitiertes Ausländerkontingent nicht | |
unnötig zu belasten. Aber glaubwürdig klingt das nicht. | |
## Schicksalsgenosse aus Österreich | |
Wenigstens läuft es jetzt fußballerisch besser: Der Trainer des | |
Zweitligisten lässt ihn spielen. Er trifft wieder. Nach einer Rückrunde | |
kehrt er zurück, spielt nun bei Gaziantepspor und trägt in der Saison von | |
2007 auf 2008 dazu bei, dass der Club die Klasse halten kann. | |
Und er findet einen Schicksalsgenossen: den in Österreich aufgewachsenen | |
Ekrem Dag. "Wir haben uns gegenseitig geholfen. Weil, die Türkei ist | |
anders, und türkische Mannschaften sind auch anders. Du musst zum Beispiel | |
extrem Respekt vor den älteren Spielern haben. Aber ich glaube, in anderen | |
Vereinen ist es noch krasser." | |
Anpassungsschwierigkeiten will er jedoch nicht gehabt haben - anders als | |
beispielsweise Selim Teber, der in der vergangenen Saison als Kapitän die | |
TSG Hoffenheim in die Bundesliga führte und zuvor ein Jahr lang im | |
westtürkischen Denizli gespielt hatte: "Mein Türkisch hat nicht immer | |
gereicht, die Leute sind anders, weniger distanziert als in Deutschland. | |
Und das Sagen hatten drei, vier ältere Spieler." Selim Teber ist einer von | |
elf Deutschtürken, die in der Bundesliga spielen. Es doch geschafft haben. | |
Ein anderer, der Stuttgarter Serdar Tasci, gab im August sein Debüt in der | |
A-Nationalmannschaft. | |
Und Erdal? Was denkt er, wenn er seine früheren Teamkollegen bei einer | |
Europa- oder einer Weltmeisterschaft im Fernsehen sieht? "Ich drücke ihnen | |
die Daumen. Natürlich geht mir durch Kopf: Da hätte ich auch stehen können. | |
Aber ich mach mich deswegen nicht fertig. Ich habe ja immer noch Ziele." | |
Und wenn er sich einen Wunschclub aussuchen könnte? "Einer der Istanbuler | |
Vereine wäre schon ein Traum", sagt er. "Und natürlich der FC Bayern." | |
5 Sep 2008 | |
## AUTOREN | |
Deniz Yücel | |
## TAGS | |
FC Bayern München | |
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