Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Zum Ende der Filmbiennale von Venedig: Die Gefahr der Provinzialit�…
> Das Filmfestival von Venedig lebt von seinem Mut zur Vielfalt. Wenn es
> gut läuft, bekommt "The Wrestler" mit Mickey Rourke den Löwen, und ein
> endloses Epos aus den Philippinen läuft neben Genrefilmen.
Bild: Gewann mit Darren Aronofskys Film "The Wrestler" den Goldenen Löwen: Mic…
In ihren besten Momenten ist die Filmbiennale von Venedig eine wunderbar
antiautoritäre Veranstaltung. Statt dem Kino die Weihen bürgerlicher Kunst
zuzusprechen, hält sie sich an die unreinen Reize: an die Spektakel der
Körper, an die Attraktionen der Genres, an das fröhliche, nicht
hierarchische Nebeneinander von Formen und Stilen. Sie bietet Unterhaltung
und im nächsten Augenblick spröde Kunst, sie appelliert an niedere
Instinkte und verlangt gleich darauf höchste Konzentration. Eines freilich
sucht man am Lido von Venedig vergeblich: das nach allen Seiten hin
abgesicherte Qualitätskino.
Die Jury unter dem Vorsitz von Wim Wenders bekräftigte den unorthodoxen
Geist des Festivals, indem sie den Goldenen Löwen am Samstagabend an Darren
Aronofskys Film "The Wrestler" verlieh. Mickey Rourke spielt darin die
Hauptrolle, einen kaputten, alt gewordenen Wrestler, der nicht aufhört, in
den Ring zu steigen. Er lebt im Trailerpark und kann sich nicht mal dort
die Miete leisten, er hat eine erwachsene Tochter, die ihn nicht sehen
will, weil er sie ihre gesamte Kindheit über vernachlässigt hat, und seine
einzige Vertraute ist eine Stripperin, die der Regisseur recht nah am
Klischeebild der heiligen Hure zeichnet. Nachdem dieser Mann namens Randy
"The Ram" Robinson einen Herzinfarkt knapp überlebt hat, muss er sein Leben
neu organisieren.
Was den Plot und die Figurenzeichnung anbelangt, ist "The Wrestler" eher
konventionell, stellenweise sogar kitschig. Aufregend machen den Film zwei
Dinge: zum einen Rourkes Darbietung zwischen körperlicher Potenz und
körperlichem Verfall, zwischen aufgepumpten Brustmuskeln und Hörgerät, zum
anderen die Reflexion auf die Körperspektakel der "low culture". Wrestling
ist in Aronofskys Inszenierung ein wenig wie "Jackass": Erwachsene Männer
arbeiten hart an sich, um sich sinnlos, aber verdammt einfallsreich
Schmerzen zuzufügen oder zumindest so zu tun als ob, und das bedient die
Schaulust des Publikums - die Gier nach Fleisch, Blut und billigen Thrills.
Es ist eine bemerkenswerte Entscheidung, weil man der Jury so viel Liebe zu
low culture und niederen Instinkten nicht zugetraut hätte. Sie passt
vortrefflich zu einem Filmfestival, bei dem der Gassenhauer "Volare" aus
allen Lautsprechern drang, das Adriano Celentano und dessen Musical "Yuppi
Du" (1975) einen großen Auftritt bescherte und bei dem ein für Kinder
gedrehtes Anime, "Ponyo on the Cliff by the Sea" von Hayao Miyazaki, einen
Höhepunkt des Wettbewerbs bildete. Anders als das Festival von Cannes
beansprucht die Filmbiennale keine kulturelle Deutungshoheit - und sie tut
gut daran. Denn aus der Perspektive des Feldherrn lässt sich die Gegenwart
kaum erfassen. Das Kino ist nicht länger das Leitmedium, es erklärt nicht
länger verlässlich, wie man auf die Welt zu schauen hat.
Wie überall, wo nicht hierarchische Vielfalt Avantgardekonzepte ablöst,
kann man dies als Verlust betrauern, man kann sich aber genauso gut freuen,
weil sich enorm viele Spielräume eröffnen. In Venedig bedeutet dies: Neben
"The Wrestler", einer schwarzen Komödie wie "Burn After Reading" von Joel
und Ethan Coen oder Kathryn Bigelows Kriegsdrama "The Hurt Locker" bekommen
die spröderen Formen des Kinos so selbstverständlich wie nirgendwo sonst
Platz eingeräumt. Außer Konkurrenz zum Beispiel lief Abbas Kiarostamis
Konzeptfilm "Shirin", der 115 Schauspielerinnen zuschaute, wie sie der
Bühnendarbietung eines persischen Versepos aus dem 12. Jahrhundert folgten.
Konsequent hält sich Kiarostami an die Gesichter der Frauen im
Zuschauerraum, an ihre Mimik, ihre Tränen, ihr Lächeln, und trotz dieser
Selbstbeschränkung wird "Shirin" in keiner Sekunde langweilig. Im
Wettbewerb pflegte Werner Schroeter mit "Nuit de chien" ein
hochartifizielles, aus der Zeit gefallenes Kino, das in seiner
Künstlichkeit große Stringenz entwickelte.
Oder der algerische Film "Gabbla" ("Inland") von Tariq Teguia: Am Anfang
sperrig und unzugänglich, entfaltet sich "Gabbla" zögerlich, bis er
existenzielle Größe erreicht. Der Film folgt einem Landvermesser ins
Hinterland und deutet dabei an, was Algerien plagt - autokratische
Behörden, Islamisten, vom Bürgerkrieg übrig gebliebene Landminen. Ehe man
recht begriffen hat, was den Protagonisten antreibt, hat er sich schon
einer Migrantin, einer Frau aus dem südlichen Afrika, angeschlossen und
befindet sich mit ihr auf einer jener Reisen, die ins Nichts führen. Was
bleibt, sind zittrige, sich selbst fressende Videobilder, Totalen aus der
weißen, durch Überbelichtung zum Gleißen gebrachten Leere der Wüste.
In der "Orizzonti"-Sektion gab es mehrere beeindruckende Filme: etwa die
Dokumentationen "Z32" von Avi Mograbi oder "Below Sea Level" von Gianfranco
Rosi. Herausragend war "Melancholia" von Lav Diaz, ein achtstündiges Epos
von den Philippinen, dem die von Chantal Akerman präsidierte
"Orizzonti"-Jury den Hauptpreis gab. Gefilmt in Schwarz-Weiß, auf
Digitalvideo, reich an Plansequenzen, erzählt "Melancholia" vom
Untergrundkampf und dessen Folgen. Diaz Film begleitet drei Figuren, die
damit fertig werden müssen, dass geliebte Menschen verschollen sind.
Vermutlich hat das Militär sie getötet, doch ihre Leichen wurden nie
gefunden.
Die drei Protagonisten versuchen, den Verlust zu bewältigen, indem sie eine
andere Persönlichkeit annehmen. Aus der Untergrundkämpferin Alberta zum
Beispiel wird die Prostituierte Jenine. In Pantyhosen und hochhackigen
Stiefeln flaniert sie durch die Straßen einer Kleinstadt, lehnt an
Hauswänden, raucht, umgarnt potenzielle Kunden, die sie dann wieder
abwimmelt. Dabei lässt sie sich von der von ihr erfundenen Lebensgeschichte
so berühren, dass sie das permanente Bauchweh Jenines als ihr eigenes
empfindet. Immer wieder prasselt der Regen auf Wellblechdächer und üppiges
Blattwerk, immer wieder singt eine Frau eine herzzerreißende Ballade. Am
Ende wandert der Film zurück in der Zeit, zu den später verschollenen
Guerilleros. Im Urwald, umzingelt vom Militär, kämpfen sie auf verlorenem
Posten. "Jetzt erst begreife ich den lyrischen Wahnsinn dieses Kampfes",
schreibt Renato an seine Frau Alberta, "ich kann seine Vergeblichkeit nicht
länger romantisieren."
"Melancholia" ist langsam und an production values arm; Allein schon seiner
monumentalen Länge wegen ist es kühn, den Film ins Programm zu nehmen. Und
wer so viel wagt, wer so sehr auf die Sicherheiten des guten Geschmacks
pfeift wie Marco Müller, der Direktor der Filmbiennale, läuft natürlich
Gefahr, sich zu vergreifen. Die Genre-Verliebtheit kann Gleichgültigkeit
hervorrufen wie bei Barbet Schroeders Thriller "Inju, la bête dans lombre".
Der unbedingte Wille zur Kunst kann im Handumdrehen prätentiös wirken wie
bei "Süt" von Semih Kaplanoglu.
Die italienischen Wettbewerbsbeiträge waren - mit Ausnahme der
beeindruckenden, brasilianisch-italienischen Koproduktion "Birdwatchers" -
eine Zumutung. Kein Filmfestival, gleich ob in Cannes, Berlin oder Venedig,
ist autonom in seinen Entscheidungen. Die heimische Filmbranche,
Kulturpolitiker, aber auch Weltvertriebe versuchen Einfluss zu nehmen. Naiv
wäre, anderes zu erwarten, und dennoch überrascht es, wie wenig sich Marco
Müller in diesem Jahr gegen den Druck der italienischen Filmbranche
verwahren wollte. Für den Diplomaten, für den Kulturmanager mag das ratsam
sein. Aus der Perspektive des Cinephilen ist es fatal.
Hinzu gesellen sich kleine Dysfunktionen. Immer mal wieder fehlten einem
Film der Retrospektive "Questi fantasmi: cinema italiano ritrovato
(1946-1975)" ("Diese Gespenster: wiedergefundenes italienisches Kino") die
englischen Untertitel, immer mal wieder wurden lange Referate vor
Filmbeginn gehalten, auf Italienisch, ohne Übersetzung, von alten Herren,
die es nicht für nötig hielten, sich vorzustellen. Zum Beispiel bei der
Vorführung von Carmelo Benes "Nostra Signora die Turchi" (1968). Der Film
dauert 142 Minuten und ist so experimentell, dass man besser wach ist, wenn
man ihn guckt. Um 22:30 Uhr sollte die Vorführung beginnen. Im Kino zugegen
waren unter anderem die Hauptdarstellerin Lydia Mancinelli und der Kritiker
und Kurator Tullio Kezich. In einer spontanen Podiumsdiskussion
debattierten sie eine Dreiviertelstunde lang über das Festival des Jahres
1968, bei der Benes Film im Wettbewerb lief. Das war sicher interessant -
nur erschloss es sich wegen mangelnder Übersetzung eben nur denen im
Publikum, die Italienisch beherrschen.
In der Summe ergeben solche Fauxpas den hässlichen Eindruck der
Provinzialität. Außenstehende und Uneingeweihte scheinen zu stören. Der
offenen, vielfältigen, antiautoritären Filmbiennale, die man so liebt,
erweist das keinen guten Dienst.
8 Sep 2008
## AUTOREN
Cristina Nord
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.