# taz.de -- Mutig in die Pedale: Schleichende Autos | |
> Ungewöhnlich ist es schon, von Narva bis Petersburg und von dort bis | |
> Vyborg mit dem Rad zu fahren. Eine Etappe zur Umrundung der Ostsee | |
Bild: Russische Fernstraße | |
An dieser Grenze ist alles groß oder winzig. Groß sind die beiden Burgen, | |
die auf beiden Seiten des Flusses Narva thronen. Im der estnischen Stadt | |
Narva wacht die Hermannsfeste über die russische Seite. Im russischen | |
Iwangorod behauptet die Burg die Macht Russlands gegenüber Europa. Ein | |
Stellungskrieg, schon seit dem Mittelalter. | |
Vor dem winzigen Grenzübergang besteht der Stellungskrieg darin, beim | |
Schlange stehen nicht ins Hintertreffen zu geraten. Vor uns wartet ein | |
Schnauzbart in Trainingshosen, hinter uns drängelt eine Familie im | |
Sonntagsstaat, die Rentner sitzen abseits und warten, dass es vorangeht. In | |
Iwangorod, erzählen sie, sind die Lebensmittel billiger. Manche besuchen | |
Verwandte. Zwischen Narva und Iwangorod verläuft zwar die Grenze zwischen | |
der EU und Russland – eine Sprachgrenze gibt es dennoch nicht. Hier wie | |
dort leben Russen. Die einen mit estnischem, die andern mit russischem, | |
viele ganz ohne Pass. | |
Was wir in Russland wollen, fragt keiner. Dabei sieht jeder, dass wir | |
verrückt sein müssen: Mit Packtaschen vorn und hinten, Lenkertaschen und | |
Zelt schieben wir unsere Räder in der Schlange in Richtung | |
Abfertigungsschalter. Unser Ziel: Sankt Petersburg und von dort weiter nach | |
Helsinki. | |
Verrückt, das stammt nicht von uns. Eine Freundin aus Sankt Petersburg | |
tippte sich an die Stirn, als sie davon hörte, dass wir bis zum | |
Newski-Prospekt radeln wollen. Ein Este kurz hinter Tallinn meinte trocken: | |
"Wenn ihr die Erfahrung machen müsst." Die Pädagogen unter den Bekannten | |
verwiesen auf die Kriminalität in Petersburg, "vor allem um die Weißen | |
Nächte herum". Und schrieb nicht der Tagesspiegel über Matti Rönkäs | |
Helsinki-Petersburg-Krimi "Bruderland": "Wer nach diesem Buch immer noch | |
glaubt, dass man sein Geld auch auf ehrliche Art und Weise verdienen kann, | |
dem ist nicht zu helfen."? Wir selbst machten uns mit dem Internet Mut. | |
Dort war zwar nichts übers Radeln in Russland zu finden, aber eben auch | |
nichts Negatives. | |
Nach zwei Stunden Schlange stehen sind wir in Russland. Leningradskaja | |
Oblast/Region Leningrad: Die Hinweisschilder – auf Kyrillisch und Latein – | |
klingen nach alter Größe. Doch hinter der Burg schrumpft auch Iwangorod auf | |
ein paar Straßenzüge und einen Park zusammen. Im Park rockt eine Band, die | |
Straßen gehören Jungmännern mit Vokuhila-Frisuren und leeren Bierbechern, | |
mit quietschenden Reifen nimmt uns ein Moskwitsch die Vorfahrt. Bis | |
Kingisepp sind es 20 Kilometer. Dort soll es am Ufer der Luga ein | |
bezahlbares Hotel geben. | |
Zugegeben – freiwillig wären wir nicht mit dem Rad nach Russland. Doch über | |
der Tour um den Finnischen Meerbusen stand etwas Größeres: die Umrundung | |
der Ostsee. Wir müssen also durch. Von Narva bis Petersburg sind es 140 | |
Kilometer, von Petersburg bis Vyborg 80, und dann noch mal halb so viel bis | |
zur finnischen Grenze. Bitte nicht angeben, dass ihr mit dem Rad reist, | |
hatte die Mitarbeiterin des auf Russland spezialisierten Reisebüros Vostok | |
gebeten – und uns vor lauter Schreck statt 280 Euro für die Visa nur 28 | |
abgebucht. | |
Und nun stehen wir hier, vor dem Hotel an der Luga in Kingisepp – und vor | |
uns steht die Familie aus der Warteschlange. Hochzeitsfeier. Russland, | |
Putins Riesenreich, kann auch familiär sein. | |
Am nächsten Tag liegen 120 Kilometer vor uns. Was das bedeutet, haben wir | |
schon auf dem Weg nach Kingisepp gespürt. Die Europastraße 20, die in | |
Russland M11 heißt, wird vor allem von Trucks befahren. Eine Alternative | |
gibt es nicht. Die Küstenstrecke wäre fast doppelt so lang gewesen und ohne | |
Übernachtungsmöglichkeit. Der Grund: Sosnowyi Bor, die einzige Stadt an der | |
Strecke, ist wegen seines Atomkraftwerks noch immer für Ausländer gesperrt. | |
Mutig treten wir in die Pedale, wenigstens verzichten die Brummifahrer auf | |
die Monstertröte. Hinter Opole sagt meine Freundin: "Lass uns auf die | |
Nebenstraße. Die ist 20 Kilometer lang, wir haben fünf Kilometer Umweg." | |
Was die Karte nicht verraten hat. Nach ein paar Kilometern gabelt sich die | |
Nebenstraße, unser Weg führt fortan durch eine Art Dschungel: Unter uns | |
platzt der Asphalt, über uns krümmen sich die Blätter des giftigen | |
Riesenbärenklaus zu Dächern. Albtraumlandschaft. Hinter der Kurve kommt uns | |
ein PKW entgegen. Er bremst, fährt nur noch im Schritttempo. Wir schauen | |
uns an. Was will der? "Die Schlaglöcher", sagt Inka, "Keine Angst. Er kurvt | |
nur um die Schlaglöcher rum." | |
Kaum sind wir zurück auf der M11 und halten an einem Trucker- Imbiss, setzt | |
sich ein Langhaariger in Trainingshose zu uns. Er bestellt Kaffee, wartet, | |
holt sein Handy, telefoniert. Dann macht er ein Foto: "Moment mal", schreit | |
meine Freundin, "warum fotografieren Sie mich?" Er lächelt. "Ich habe mich | |
selbst fotografiert", sagt er, steht auf und braust davon. Wenn demnächst | |
seine Kumpel am Straßenrand auf uns warten, wissen wir, warum er | |
telefoniert hat", sagt Inka. Der Gedanke daran ist nicht gerade | |
verführerisch. Er begleitet uns bis Petersburg. | |
Vier Tage später stehen wir wieder in einer Schlange – am Ticketschalter | |
des Finnischen Bahnhofs in Petersburg. Die nördlichste Millionenstadt der | |
Welt war großes Kino –Krimi, Kabarett, Chaos in einem. Und eine Zeitreise | |
in die Vergangenheit. "Jedes kleine Arschloch in Uniform kostet seine Macht | |
aus. Wie in der DDR", konstatiert Inka. Sie versucht es mit Diplomatie – | |
und ihrem Schulrussisch. Auch Arschlöcher reagieren auf Charmeoffensiven. | |
Petersburg konnten wir genießen, weil wir die Rollen getauscht hatten. | |
Stadttouristen waren wir in diesen Tagen, kein Gedanke an schleichende | |
Autos und fotografierende Typen. | |
Am Finnischen Bahnhof sind wir wieder Radler in Russland. Auch deshalb | |
beschließen wir, die Strecke nach Vyborg mit der Elektritschka abzukürzen. | |
Und dann ab nach Finnland. Das ist wenigstens ein Radlerland. | |
17 Sep 2008 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
## TAGS | |
Reiseland Russland | |
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