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# taz.de -- Debatte Südamerikanische Emanzipation: Amerika versus Amerika
> Eine zweite große Emanzipationsbewegung hat die südamerikanischen Staaten
> erfasst, sie lösen sich von den USA. Doch diese reagieren darauf nur mit
> den Rezepten des Kalten Krieges.
Lateinamerika rückt zusammen. Zwei Jahrhunderte nach dem Wirken des
"Befreiers" Simón Bolívar emanzipieren sich die Länder des Subkontinents
ein zweites Mal. Diesmal geht es nicht um die politische Unabhängigkeit von
den europäischen Kolonialmächten, sondern um die wirtschaftliche und
kulturelle Abnabelung von der Weltmacht USA. Immer unzeitgemäßer wirkt die
Monroe-Doktrin "Amerika den Amerikanern", mit der Washington bereits 1823
seinen Vormachtanspruch über Lateinamerika formuliert hatte.
Ohne den langjährigen Druck sozialer Bewegungen wäre die jüngste
Entwicklung nicht möglich geworden. In sämtlichen Ländern steht die soziale
Frage wieder auf der Agenda. Zuletzt hat vor allem die US-Regierung unter
dem Ölmultimillionär George W. Bush die inneramerikanischen Spannungen
verschärft.
Drei seiner Gegenspieler stammen aus einfachen Verhältnissen: der frühere
Metallgewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien, der
mestizische Exfallschirmjäger Hugo Chávez aus Venezuela und Evo Morales,
der erste Indígena an der Spitze Boliviens. Ihre wiederholten Wahlerfolge
sind - wie jene vieler KollegInnen in den Nachbarländern - vor allem eine
Reaktion auf die sozialen Verwerfungen, die neoliberaler Staatsabbau und
der Ausverkauf ganzer Industrien hinterlassen haben. Nirgendwo auf der Welt
ist die Kluft zwischen Arm und Reich tiefer als in Lateinamerika.
Ein Rückblick auf die Ereignisse der letzten Wochen ist besonders
aufschlussreich. Die jüngste Eskalation der Krise in Bolivien wurde von
Washington offensichtlich angestachelt. Tage vor Beginn der blutigen
Protestwelle in den ressourcenreichen Tieflandprovinzen traf sich der
US-Botschafter in Bolivien mit der rechten Opposition. Evo Morales wies den
Diplomaten aus, Chávez tat es ihm "aus Solidarität" gleich, und selbst Lula
verurteilte letzte Woche die US-Einmischung. Marta Lagos, die liberale
Chefin des chilenischen Umfrageinstituts Latinobarómetro, hält es sogar für
möglich, dass die bolivianische Opposition von den USA mit Waffen beliefert
wird. Dieser Verdacht erkläre sich aus der langen Geschichte der
US-Interventionen, meint Lagos.
Vor einer Woche bestand der neue Staatenbund Unasur (Union
südamerikanischer Nationen) seine erste Bewährungsprobe. Auf dem
Krisengipfel in Santiago de Chile bekam Morales den einhelligen Rückhalt
seiner AmtskollegInnen. 24 Stunden später beruhigte sich die Lage in
Bolivien: Die Gouverneure der Tieflandprovinzen, die sich jeder
Umverteilung zugunsten der Armen widersetzen, willigten in Verhandlungen
mit der Zentralregierung ein.
In Santiago wurde daran erinnert, dass vor Evo Morales bereits andere
Staatschefs ähnlich schwierige Situationen durchlebt haben: etwa der
chilenische Sozialist Salvador Allende, der sich beim Militärputsch gegen
seine Regierung im September 1973 das Leben nahm; Chávez, der im April 2002
einen Staatsstreich glücklich überstand; oder der Haitianer Jean-Bertrand
Aristide, der 2004 von US-Truppen ins Exil gezwungen wurde. So etwas dürfe
sich nie wiederholen, war sich die Unasur einig.
Anschließend verstärkte der US-Finanzcrash den Eindruck einer dauerhaften
Gewichtsverschiebung: Während an der New Yorker Börse Panik herrschte,
wirkten Lateinamerikas Volkswirtschaften nach Jahren des Rohstoffbooms in
der Krise bislang ungewöhnlich souverän. Nirgendwo sieht Washington seine
Felle rascher davonschwimmen als im eigenen Hinterhof.
Der bisher spektakulärste Rückschlag war 2005 das Ende der Verhandlungen
über die gesamtamerikanische Freihandelszone (Alca) und damit des
neoliberalen Traums von einem einzigen Markt von Alaska bis Feuerland.
Mittlerweile lehnen sich selbst Kleinstaaten auf: Dem von Venezuela, Kuba
und Bolivien als Gegenentwurf zu Alca gegründeten alternativen
Handelsbündnis Alba sind Nicaragua, Honduras und die Karibikinsel Dominica
beigetreten. IWF und Weltbank verlieren an Einfluss, stattdessen entsteht
die "Bank des Südens". Telesur, der Mehrstaatensender mit Sitz in Caracas,
stellt sich der Dominanz US-amerikanischer Medienmacht entgegen.
In Südamerika können die USA nur noch auf die rechten Staatschefs Álvaro
Uribe in Kolumbien und Alan García zählen. Ecuador hat sich zum
"Friedensterritorium" erklärt: Der US-Stützpunkt im Pazifikhafen Manta wird
2009 geschlossen. Nach dem jüngsten Amtsantritt des Befreiungstheologen
Fernando Lugo in Paraguay fällt auch dieses Binnenland für Manöver der
US-Armee weg.
Auf den rapiden Bedeutungsverlust reagiert die Regierung Bush aggressiv:
Seit dem 1. Juli kreuzt die vierte US-Flotte, die zuletzt 1950 vor den
Küsten Lateinamerikas operierte, wieder durch die Karibik. Der
demokratische Senator Bill Nelson begründete die Reaktivierung der
Kriegsschiffe bereits im Januar mit dem "ökonomischen Aufstieg Brasiliens,
der kriegerischen Haltung Venezuelas, dem zunehmenden Handelsverkehr durch
den Panamakanal und dem Alter Fidel Castros". Die USA hätten es auf
Brasiliens Erdölreichtum abgesehen, sagte Lula vor Tagen. Auf Initiative
Brasiliens denken die Südamerikaner über die Gründung eines gemeinsamen
Militärbündnisses nach. Washington treibt indes die Militarisierung der
Karibik und der nördlichen Andenregion weiter voran, die unter dem Vorwand
des Antidrogenkriegs bereits vor einem Jahrzehnt begonnen hatte. Trotz der
Milliardenhilfen des "Plan Colombia" ist in den USA der Zustrom
kolumbianischen Kokains nicht zurückgegangen. Dafür ist das
Bürgerkriegsland Kolumbien noch abhängiger vom "Koloss des Nordens". In
Zentralamerika und Mexiko wurde die Rauschgiftmafia mächtiger denn je. Doch
auf Washingtons schwarzer Liste jener Staaten, die in der Drogenpolitik
"erwiesenermaßen versagt" hätten, stehen nur Venezuela - und neuerdings
Bolivien.
Hugo Chávez ständige Warnungen vor einer möglichen US-Intervention sind
also begründet. Fraglich ist allerdings, ob er durch die demonstrative
militärische Zusammenarbeit mit Russland sich und Lateinamerika einen
Gefallen tut. Denn der letzte Kalte Krieg brachte nur wenig Gutes: Vor 30
Jahren verfolgten die Militärdiktaturen Südamerikas gemeinsam
Oppositionelle, heute verhindert die Unasur Staatsstreiche. Daran erinnerte
jetzt der Paraguayer Lugo und fügte zufrieden hinzu: "Unser Kontinent hat
sich sehr verändert.
Wohl wahr. Doch eine zentrale Frage bleibt offen: Kann dem Linksruck an den
Urnen mittelfristig ein umweltfreundliches, postkapitalistisches
Wirtschaftssystem folgen? Ansätze dafür gibt es, vor allem in Bolivien und
Ecuador, wo der Einfluss der indigenen Bewegungen besonders stark ist. Die
übrigen Regierungen, allen voran Brasilien und Venezuela, setzen hingegen
weiterhin auf Wachstum um jeden Preis. Damit ähneln sie den USA mehr, als
sie das wahrhaben wollen.
22 Sep 2008
## AUTOREN
Gerhard Dilger
## TAGS
Karibik
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