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# taz.de -- Reiseagentur für Vertriebene: Unbekannte Heimat
> Eine bundesweit einmalige Reiseagentur begleitet Vertriebene auf ihrer
> Spurensuche in die ehemalige Heimat. Diese suchen nicht Revanche, sondern
> die Bilder ihrer Vergangenheit.
Bild: Heimweh für Vertriebene fühlt sich anders an.
Gerd Härtling, ein Hotelier aus Kanada, steht im Sonnenschein vor einer
polnischen Familie und begutachtet ihr Grundstück am Ortsrand von Obrzycko.
Das ist ein kleiner Ort in der Nähe von Poznan. Als Gerd Härtling* 1943
hier geboren wurde, in einem der zwei halbverfallenen Häuschen, hieß der
Ort noch Obersitzko und war seit langem die Heimat seiner Familie. Ein Jahr
war er alt, als seine Mutter mit ihm und den vier Brüdern das Dorf 1944
Hals über Kopf in Richtung Harz verließ, das ganze Hab und Gut auf einen
Pferdewagen gepackt.
Nun, mit 65 will er sehen, wovon die vielen Geschichten aus der Kindheit
handelten. Vor dem Geburtshaus steht heute ein pinkfarbener Kinderbuggy,
vor dem anderen eine hüfthohe Windmühle und ein lebensgroßer Plastikstorch.
Der Rasen zwischen den Häusern ist löchrig. In der Nähe des umzäunten
Gartenteichs riecht es leicht nach Urin. Und dennoch, das Grundstück ist
groß und auf ihm stehen alte Apfelbäume und überall blühen bunte Blumen.
"Ein tolles Property," sagt Härtling leise, ein kleiner Mann mit
Halbglatze, aschfarbenen Teint und gemustertem Hemd. "Ein wirkliches feines
Stück Property," nickt er anerkennend und wiederholt: "Ein feines
Grundstück, wenn man so etwas heute hätte." Die polnische Familie versteht
ihn nicht, lächelt aber verlegen. Der Familienhund, eine rattengroße
Straßenmischung, bellt in die Szene, ein etwa fünfjähriges blasses Mädchen
zerrt am blaugeblümten Kittel ihrer Urgroßmutter. Großvater und Großmutter
stehen daneben.
Leider könne er nun im Moment nicht in das Haus gehen, ihre Tochter schlafe
gerade, sagt die Großmutter entschuldigend auf Polnisch. Ihre Worte richtet
sie nicht an Gerd Härtling, sondern an Matthias Diefenbach, seinem
Reiseleiter auf dieser Suche nach einem Stück verlorener Identität.
Diefenbach gehört zum Verein Heimatreise und bietet Menschen Hilfe, wenn
sie sich auf die Suche nach ihren Wurzeln in Polen begeben wollen. Die
Reisenden sind Menschen wie Härtling. Diefenbach übersetzt, aber Härtling
winkt ab. Es genüge, er habe gesehen, was er habe sehen wollen, nun könne
man ruhig gehen. Diefenbach fällt es schwerer als Härtling, sich von der
Szenerie zu lösen, er spricht noch einmal mit der Urgroßmutter, während
Härtling mit den Füßen scharrt. Er wollte das Grundstück und das
Geburtshaus sehen. Von außen, das reicht ihm.
Schließlich ging es in den Geschichten, die er schon als kleiner Junge von
seiner Mutter so häufig hörte, nicht um das, was man in den Zimmer fand.
Sondern es ging um die Familie, den Ort, die Gegend. Das, was die Mutter
nach ihrer Flucht in den Westen verloren hatte. Als sie in den
Sechzigerjahren starb, konnte sie nicht ahnen, dass ihrem Sohn dieser
Landstrich wieder zugänglich sein konnte. Sie erzählte - während der Vater,
in der kurzen Zeit zwischen seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft
und seinem Tod, in der ihm fremd gewordenen Familie meistens schwieg.
In "Erinnerungsräume - Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses"
schreibt Aleida Assmann: "In Europa ging mit dem Zusammenbruch der
Ost-West-Grenze eine Ära eingefrorener Erinnerung zu Ende, eingefroren
unter der Eisdecke der Polarisierung zweier einzig wahrer Lehren." Und
weiter unten folgt die Erklärung: An die Stelle der Verheißung einer
selbstgestalteten Zukunft, die immer auch eine Ablösung von Vergangenheit
und Herkunft einschloss, ist die Identitätsfrage getreten. Wer bin ich? Die
Beantwortung dieser Frage schließt für Gerd Härtling ein, den westdeutschen
Gründungsmythos seiner Familie zu überprüfen. Ist das, was die Mutter von
der alten Heimat erzählte, stimmig? Solange es eine Gruppe gibt, die die
Erzählung akzeptiert und stabilisiert, festigt sich auch die Erinnerung.
Härtling jedoch ist der Letzte seiner Familie, der in Obrzycko geboren
wurde und noch lebt.
Diefenbach bedankt sich freundlich bei der Familie, Härtling auch, und
gemeinsam laufen die beiden die matschige Einfahrt herunter, weg vom Ziel,
das Härtling ein Stück Identität wiedergegeben hat. Einmal waren die
Erinnerungen und die Erzählungen von diesem Grundstück Teil der
Familiensaga. Die deutsch-polnische Geschichte mag verworren und von
Feindseligkeiten und Missverständnissen geprägt sein, doch das, was
Härtling sucht, ist weder Streit noch Anspruch. Er ist der letzte
Überlebende der Generation seiner Familie. Die größeren geschichtlichen
Zusammenhänge interessieren ihn nicht, er möchte, dass der Anblick dieses
Hauses Teil seines Gedächtnisses wird, das er an die nachfolgenden
Generationen weitergeben kann.
Zu löchrig wäre sein Wissen über die alte Heimat, zu vage die Angaben. Und
wirklich getraut hätte er sich auch nicht, die Menschen auf der Straße
einfach anzusprechen und mit alten Fotos in der Hand nach dem Weg zu
fragen. Mit Diefenbach und der professionellen Unterstützung aber schon.
Härtling gibt sich große Mühe, nicht zu emotional zu wirken, aber man merkt
ihm an, dass er berührt ist. "Wenn ich noch weiter gebohrt hätte,
vielleicht wären wir dann noch in das Haus hineingekommen," entschuldigt
sich Diefenbach. "Nicht nötig, ich habe gesehen, was ich sehen wollte,"
antwortet Härtling gerührt.
Vor gut einem Jahr nahm Härtling aus seiner neuen Heimat Kanada Kontakt zur
Agentur Heimatreise auf: und gab Diefenbach den Auftrag, ihm bei der Suche
zu helfen. Diefenbach möchte den Auftrag nicht nur erfüllen, er möchte ihn
gut erfüllen und beginnt schon kurz nach dem Treffen der beiden in einer
Pension in Frankfurt an der Oder, während sie im Mietwagen die Grenze
passieren, über die Geschichte der Region zu erzählen. Was gehörte zu Polen
und wann, und was wann zu Deutschland, und welche Auswirkungen das auf
heute hat. Immer wieder zünden sich Diefenbach und Härtling auf der etwa
zweistündigen Fahrt zum Ziel Zigaretten an. Härtling wiederum erzählt von
seinem eigenen Leben. Von der harten, langweiligen Jugend im Harz, von
seiner Zeit als Sozialarbeiter in Namibia, von seiner Frau und seinen
Kindern und von seinem Leben in Kanada. Über zwanzig Jahre schon betreibt
er in der Gegend um Toronto ein Hotel. Seit acht Uhr an diesem
Freitagmorgen geht es über Nebenstraßen durch die polnische Landschaft, von
der Härtling behauptet, dass sie einfach typisch europäisch aussehe. "Die
können Sie überall hinstellen," bemerkt er und hat generell gesehen recht,
auch wenn die durchquerten Dörfer in der Landschaft genauso aussehen, wie
man sich kleine polnische Dörfer eben so vorstellt. Ausrangierte Polski
Fiat vor den Häusern, kleine Plattenbauten, hier und da ein neues Gebäude.
Diefenbach klärt über den Hintergrund der Bevölkerung und der Bauweise auf,
doch Härtling gibt sich wenig beeindruckt.
Je näher es an das Ziel Obrzycko herangeht, desto verlassener werden die
Dörfer. "Hier wäre ich sowieso nicht geblieben," urteilt Härtling bevor es
in das Dorf mit 4.000 Einwohnern geht, im Vergleich zu ihrer Umgebung wirkt
es deutlich belebter. Härtling parkt seinen Mietwagen in einer Straße mit
zweigeschossigen Häusern und händigt Diefenbach ein paar Bilder aus. Fotos
vom alten Elternhaus, von der Straße, in der der Großvater lebte, von einer
Kirche. "Damit können wir jetzt vergleichen, wo etwas stehen könnte."
Diefenbach hat sich vorbereitet, wie auf jede Reise.
Ein gewöhnlicher Reiseführer zeigt Besuchern den schönsten Ausblick und die
Sehenswürdigkeiten, spult meist ein Programm ab. Bei Heimatreise aber gehen
die Reiseführer für ihre Kunden auf Spurensuche, lange bevor sie sich
persönlich kennenlernen. Was wissen die Besucher noch aus ihrer Kindheit?
Wie hießen die Straßen, die Dörfer, die Kirchen? Und wie könnten sie heute
heißen? Mitunter ist Detektivarbeit gefragt, großer historischer
Sachverstand und immer auch eine Vermittlung zwischen den Kunden und den
Bewohnern des Dorfes. Man riskiert nichts: Kunden, die möglicherweise
Rechtsansprüche stellen möchten oder ein krudes Weltbild in sich tragen,
werden grundsätzlich abgelehnt. Es geht darum, Kontakt zu der Vergangenheit
und der Herkunft herzustellen. Und nicht darum, als ehemaliger Besitzer
aufzutreten. Darum, Menschen entweder zu dem Ort ihrer Heimat zu bringen
oder den Nachfahren zu zeigen, wo auch sie ihre Wurzeln haben.
Diefenbach schaut in einen Stadtplan, den er sich aus dem Internet
ausgedruckt hat. Da soll es langgehen, sagt er zu Härtling. "Das hier ist
die Schmiedgasse. Wenn Ihr Großvater Schmied war, dann könnte er dort
gelebt haben," sagt er. So recht will aber keines der Häuser in der kleinen
Straße zu denen im Bild passen. Entweder stehen Strommasten an der falschen
Stelle, sind die Gehsteige zu schmal oder die Anordnung der Fenster und
Türen falsch. "Das Haus von meinem Großvater muss im Ort gewesen sein, das
von meinen Eltern etwas außerhalb," sagt Härtling immer wieder, während
Diefenbach die kurze Straße auf und ab marschiert, nach weiteren
Anhaltspunkten sucht.
Eine Frau, in enger Jeanskleidung, schiebt ein altes, lilafarbenes Rad auf
ihn zu, und er zeigt ihr die Bilder. Sie fasst sie mit ihren auffallend,
aber schlecht manikürten Fingern an. "Kommt Ihnen das bekannt vor?" Eine
Spinne seilt sich langsam von ihrem Sattel ab. Nein. Sie lebe auch erst
seit ein paar Jahren hier, das kenne sie alles nicht, sagt sie mit echtem
Bedauern.
Auch andere Passanten, die Härtling und Diefenbach treffen, wissen wenig
mit den Bildern anzufangen. In dieser Gegend hat nach dem zweiten Weltkrieg
ein fast kompletter Bevölkerungsaustausch stattgefunden. Wer hier lebt,
stammt meistens aus Gebieten, die heute zur Ukraine gehören, und weiß gar
nicht mehr, wie die alten Straßen und Häuser aussehen, erläutert
Diefenbach. "Wir können auch noch einmal ins Rathaus gehen," schlägt er
vor, schließlich laufen Härtling und er seit etwa einer Stunde im Kreis.
Zwar hat er sich dort im Grundbuchamt schon längst erkundigt, aber ein
persönliches Gespräch könnte vielleicht doch den entscheidenden Ausschlag
dafür geben.
Es sind nur ein paar Schritte, ein paar Ecken, und die beiden stehen auf
einem Marktplatz, vor einem Backsteinhaus mit großer Turmuhr - dem Rathaus.
Härtling hält sich im Hintergrund, während Diefenbach in einem Amtszimmer
mit einer großen, eleganten Frau spricht, einer nicht ganz echten Blondine.
"Ich bringe sie zum Bürgermeister," sagt sie schnell und führt die beiden
eine steile, verwinkelte Treppe hinauf, in das kleine Zimmer des
Bürgermeisters. Diefenbach und Härtling stehen etwas unschlüssig herum, die
Frau setzt sich hinter den Schreibtisch, da kommt auch schon der
Bürgermeister persönlich herein. Groß, braunhaarig, Schnauzbart,
gemusterter Strickpullover. Es folgt eine Diskussion auf Polnisch,
Händeschütteln, Lächeln, und wieder werden die Bilder herumgezeigt und
angefasst. Die Freundlichkeit und der Schwall in einer fremden Sprache, der
über Härtling hereinbricht, lassen ihn still werden. Diefenbach diskutiert
in seinem Auftrag, aber was? Der Bürgermeister geht aus dem Zimmer und
kommt mit einer etwa zwanzigjährigen Brünetten wieder. Das ist Evelyna, und
sie soll Diefenbach und Härtling bei der Suche helfen. Schüchtern fragt sie
Diefenbach: Was hat er schon gesehen und versucht, was kann sie noch tun?
Sie führt die beiden erst mal wieder in Richtung der Schmiedgasse und fragt
eine Frau, die aus ihrem Vorgarten heraus schon vorher Härtling und
Diefenbach beäugt hatte, ob sie mit den Bildern etwas anfangen könne.
Evelyna nimmt Diefenbach die Bilder ab, reicht sie der Frau, drall, in
Leggins und grell lackierten Fingernägeln, über den Zaun. Ihr Haus steht
auf der Ecke, dahinter geht ein schmaler Pfad ab. Es folgt ein Gespräch,
das sich auf Polnisch so schnell wie eine wilde Diskussion anhört.
Diefenbach erklärt, die Frau, deren Hund unablässlich hinter dem Zaun
bellt, ebenfalls, und Evelyna wendet immer wieder etwas mit sanfter Stimme
ein. Härtling zieht sich aus dieser Runde zurück, schaut sich um und zündet
eine Zigarette an.
Ein älteres Ehepaar stößt zur Diskussion dazu, es kommt gerade vom
Einkaufen - Tesco steht auf den Tüten - und beginnt gleichfalls zu
diskutieren. "Kommen Sie," ruft Diefenbach Härtling zu. "Ich glaube, wir
haben Ihr Elternhaus gefunden." Tatsächlich hat das Paar mit den
Plastiktüten auf den Bildern sein eigenes Haus erkannt. Es liegt am Ende
des Pfades, am Rande der Siedlung. Härtling folgt Diefenbach misstrauisch
und gewappnet. Diefenbach dagegen wirkt stolz, schließlich hat er wieder
einen Menschen zu seinem Ursprung zurückgeführt.
Der Psychologe David MacAdams teilt das Leben in drei Abschnitte der
Identitätsentwicklung: einem pränarrativen, einem narrativen und einem
postnarrativen. In dieser dritten Phase ist der Mensch seiner Theorie nach
darum bemüht, eine gewisse Integrität im Leben zu erlangen. Auch durch die
Überprüfung der Vita, die ja maßgeblich durch die diffusen Erzählungen der
Eltern geprägt wird. Die Lebensgeschichte des Menschen ist nahezu
abgeschlossen, aber Zeit für einen Rückblick gibt es noch, der über Annahme
oder Ablehnung entscheidet. Geht das Leben seinen gewohnten Gang, so sind
diese leicht zu überprüfen. Bei einer gebrochenen Vita wie der von Gerd
Härtling aber bedarf es besonderer Maßnahmen - und genau die hat er
ergriffen.
So kommt es, dass er im Sonnenschein auf einem Grundstück am Rande von
Obryzcko steht, an das er so viele Erinnerungen hat, auch wenn es nicht
seine eigenen sind. Hier erlangt er die Gewissheit, dass alles das, was ihm
jahrelang erzählt wurde, wahr ist. Die Familie besaß ein großes Stück Land,
in einer hübschen kleinen Stadt. Sie waren Bauern, und nicht gerade
ärmlich. Härtling fotografiert, wie vor ihm schon sein Bruder, und das soll
helfen, die Vergangenheit nicht ganz verschwinden zu lassen.
Alles, was er sehen wollte, liegt hier. An dem Rundgang durch Obrzycko, zu
seiner Taufkirche, einem evangelischen Gotteshaus, das leer und
barrikadiert ist, hat er wenig Interesse. Eveylna zeigt es ihm stolz,
Diefenbach liefert die Hintergrundinformation über konfessionelle Fragen im
Polen der Zwischenkriegszeit. Härtling hört es sich geduldig an, pocht dann
aber darauf, bald essen zu gehen. Er müsse weiter, zu der Familie in den
Harz. Seine Heimatreise nach Polen ist beendet.
* Name von der Redaktion geändert
NATALIE TENBERG, Jahrgang 1976, lebte die ersten zwei Jahre in Jakarta und
war seitdem nicht mehr dort. Gerne möchte sie das Haus sehen, in dem sie
jene Zeit erlebte.
5 Oct 2008
## AUTOREN
Natalie Tenberg
Natalie Tenberg
## TAGS
Frankfurt Oder
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