# taz.de -- Zuerst dieser Brunftgeruch, dann röhrt es: Hirscharena in den Schw… | |
> 70 Prozent der Besucher des Schweizerischen Nationalparks reisen mit dem | |
> Privatauto an. Nun ist er das neueste "Fahrtziel Natur" der Bahn | |
Bild: Die Natur ganz sich selber überlassen | |
Fünftausend verschiedene Tierarten gibt es im Schweizerischen Nationalpark. | |
97 Prozent von ihnen sind Insekten und Wirbellose. Macht nichts, die | |
Besucher kommen ohnehin nur wegen der restlichen 3 Prozent. Wegen der | |
Huftiere, erzählt Nationalparkführer Stefan Triebs zu Beginn unserer | |
Wanderung. 2.000 Hirsche, 1.600 Gämsen und 400 Steinböcke streifen durch | |
den Park. Mit bloßem Auge hat Triebs mit geübtem Blick einen Steinbock | |
erspäht, schaut zur Kontrolle durch seinen Habicht AT 80 mit 60facher | |
Vergrößerung, bevor er uns den Feldstecher weiterreicht. Wie hingemalt | |
liegt der stattliche Bock auf der Krete über der Felswand. | |
Der Schweizerische Nationalpark, mit 170 Quadratkilometern so groß wie das | |
Fürstentum Liechtenstein, liegt im Kanton Graubünden in der östlichen Ecke | |
der Schweiz. Er ist der zweitkleinste der 14 Nationalparks der Alpen, aber | |
der älteste seiner Art. Naturwissenschaftler gründeten im Jahr 1914 das | |
Reservat, um "die noch erhalten gebliebene ursprüngliche Tier- und | |
Pflanzenwelt" rund um den Ofenpass mit seinen wilden Seitentälern zu retten | |
und Forschung im Naturlaboratorium zu betreiben. Sie hatten die Notbremse | |
gezogen, denn über viele Jahrhunderte bereits hatte der Mensch die Natur in | |
dieser hochalpinen Region ausgebeutet. Schon seit dem frühen Mittelalter | |
wurde hier Eisenerz abgebaut und der Wald für Holzkohle abgeholzt. | |
Schafherden zerbissen die Weiden, Berg- und Seilbahnen erschlossen die | |
Gipfel für den aufkommenden Tourismus. | |
Von Zernez, dem "Tor zum Nationalpark", sind wir mit der Rhätischen Bahn, | |
die für "Steinbockstarke Bahnerlebnisse" wirbt, nach S-chanf (sprich | |
Sch’tschampf) gefahren. Wohli, der bärtige Kutscher, holt uns mit dem | |
Planwagen vom Bahnhof ab. Mit drei Pferdestärken zuckeln wir zur Parkhütte | |
Varusch. Dahinter beginnt der Nationalpark, von der Weltnaturschutzunion | |
als Gebiet mit dem höchsten Schutzstatus eingestuft: "Strenges | |
Naturreservat". Auf der Informationstafel des "Parc Naziunal Svizzer", wie | |
der Park auf Rätoromanisch heißt, lesen wir die Verbote und Gebote gleich | |
in fünf Sprachen. "Man wird mit 500 bis 1000 Franken gebußt", erklärt | |
Wanderführer Triebs, "wenn man mit dem Hund in den Park reinspaziert." Oder | |
jagt, angelt, Feuer macht, biwakiert. Auf den 21Wanderrouten von 80 | |
Kilometer Länge herrscht striktes Wegegebot. Acht Parkwächter schauen nach | |
dem Rechten. | |
Langsam stiefeln wir bergan durch das Trupchun-Tal entlang der Ova da | |
Trupchun, ehe wir den rauschenden Gebirgsbach bei der früheren Schweinealp | |
Purcher überqueren, um dann dem Höhenweg durch den herbstlich gelben | |
Lärchen-Arven- Wald zu folgen. An einer Arve macht Triebs Halt. Arven oder | |
Zirbelkiefern seien die letzten Bäume vor der Waldgrenze und könnten | |
tausend Jahre alt werden, sagt er. Am Beispiel von Arve und Tannenhäher | |
demonstriert Triebs "das perfekte Zusammenspiel in der Natur". Bis 1961 war | |
der Tannenhäher, der dem Park als Logo dient, noch zum Abschuss | |
freigegeben, weil er angeblich den Arvenbestand ausrottete. Denn im Herbst | |
hortet der schlaue Rabenvogel einen enormen Vorrat für kalte Tage. Er | |
verbuddelt im Waldboden 100.000 Nüsse in 25.000 Verstecken. Ganz ohne GPS | |
findet er im Winter 80 Prozent der Nüsse wieder; aus den restlichen 20 | |
Prozent wachsen genug neue Arven. | |
Die Waldhänge sind weiß bedeckt. Schon Anfang September hat es geschneit. | |
Plötzlich zieht eine strenge Duftwolke vorbei, der Brunftgeruch der | |
Hirsche; wenig später röhrt es. Lang gezogen und gewaltig. Das Val Trupchun | |
ist nicht nur das wildreichste Tal der ganzen Alpen, die "Serengeti der | |
Alpen", sondern auch die "Hirscharena der Alpen". Allein 400 der 2.000 | |
Parkhirsche haben hier im Tal ihr Revier. Jetzt im Frühherbst ist | |
Brunftzeit. Wegen dieses imposanten Naturspektakels kommen viele | |
Schaulustige. Die beste Loge ist der markierte Rastplatz Val Mela. Auf | |
Baumstämmen hocken rund hundert Hirschspotter in bunten Outdoorjacken und | |
richten ihre stativgestützten Fernrohre auf den schneebedeckten Nordhang. | |
Zunächst hören wir die Rothirsche herzzerreißend in der Kulisse röhren, | |
dann sehen wir erst einen, Minuten später noch einen Geweihträger durch die | |
Waldlichtung schreiten. | |
Am Ende der Wanderung stärken wir uns auf der Terrasse der Varusch-Hütte. | |
Bei köstlichen Pizzochieri, einem Buchweizennudelgericht aus dem nahen | |
Veltlin, erzählt uns Triebs von einst bereits ausgerotteten Tierarten, die | |
wieder zurück im Park sind. Schon im Jahr 1920 wurden Steinböcke | |
ausgesetzt, 1991 wurden am Ofenpass 27 Bartgeier ausgewildert. Von ganz | |
allein sind aus dem nahen Italien Wölfe eingewandert. Im Sommer 2005 wurde | |
erstmals seit hundert Jahren auch wieder ein Braunbär gesichtet, man taufte | |
ihn Lumpaz, Rätoromanisch für Lausbub, und im vergangenen Jahr raubten bei | |
Zernez zwei andere Lausbuben Bienenhäuser aus. | |
Naturschutz, Forschung, Information lauten die drei Ziele des | |
Nationalparks. Im Vordergrund steht der Prozessschutz; absterbende Bäume, | |
Schneelawinen, Murgänge aus Schlamm und Geröllwerden nicht weggeräumt; die | |
Natur im Park bleibt sich selbst überlassen. Der Mensch ist willkommen, | |
darf aber keine Spuren hinterlassen. Seit letztem Jahr ist der | |
Schweizerische Nationalpark das neueste "Fahrtziel Natur". Mit diesem | |
Projekt werben die Deutsche Bahn und die vier Umweltverbände WWF, Nabu, | |
BUND und VCD für mittlerweile 17 Großschutzgebiete, für einen nachhaltigen | |
Tourismus und die umweltfreundliche Anreise mit der Bahn. Obwohl die | |
Schweiz das gelobte Bahnland ist, Züge auf Haupt- und Nebenlinien im | |
Stundentakt verkehren und am Bahnhof schon der Postbus wartet, trotz all | |
dieser Angebote im öffentlichen Nah- und Fernverkehr reisen 70 Prozent der | |
Nationalparkbesucher weiter im Privatauto an. | |
150.000 Naturfreunde besuchen pro Jahr das Schutzgebiet, von ihnen | |
profitieren auch die fünf Nationalparkgemeinden und die benachbarten | |
Engadiner Bergdörfer. Mit einem Postbus- Oldtimer tuckern wir hinauf nach | |
Guarda, das hoch über dem Inn auf einer sonnigen Südterrasse liegt und von | |
zackigen Dreitausendern wie dem Piz Buin und dem Piz Linard umrahmt wird. | |
"Wir wollen unser Dorf vor Spekulanten schützen", sagt Maria Morell, die | |
Gemeindepräsidentin, beim Spaziergang durch die von sgraffitodekorierten | |
Häusern gesäumte Dorfstraße. Die Bäuerin, die mit ihrem Mann eine | |
Ziegenkäserei betreibt, und andere Einheimische riefen die Stiftung Pro | |
Guarda ins Leben. Mit Spendengeldern kaufen sie leer stehende Häuser und | |
veräußern sie günstig an "Neuzuzüger", besonders gern an junge Familien. | |
Wie vielerorts in den Bergen ist die Landwirtschaft stark geschrumpft, | |
viele leben vom Tourismus, neben den alteingesessenen Hotels und | |
Restaurants gibt es inzwischen neue Kleinbetriebe wie Kräuteranbau und | |
Korbflechterei, Keramikatelier und Webstube. | |
Auf der Ofenpassstraße queren wir den Nationalpark, passieren das Hotel Il | |
Fuorn, das an frühere Kalköfen in der Gegend erinnert, kommen durch das | |
winzige Tschierv ("Hirsch"), fahren das sonnenreiche Val Müstair entlang | |
und landen kurz vor der Grenze zum Südtiroler Vinschgau im Kloster Sankt | |
Johann von Mustair. Das ehemalige Männerkloster, anno 775 von Karl dem | |
Großen gestiftet, wurde 1983 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt, vor | |
allem wegen der karolingischen Dreiapsidenkirche und ihrer einzigartigen | |
romanischen und karolingischen Fresken. Zwölf Benediktinerinnen leben hier | |
nach dem Grundsatz "Ora et labora": sommers im biologisch nach dem | |
Mondkalender bewirtschafteten Klostergarten, winters beim Sticken. | |
Der gelbe Postbus bringt uns zurück nach Zernez zum Bahnhof. Gerade fährt | |
die rote Rhätische Bahn ein. Mit "A revair! verabschiedet sich Stefan | |
Triebs. "Hoffentlich kommen in Zukunft mehr Gäste mit der Bahn zum | |
Nationalpark." Beim Einsteigen schauen wir zurück und lesen auf der | |
Kreidetafel: "Wo ist das Wild? Am Bahnhöfli von Zernez: schon auf dem | |
Teller!" | |
8 Oct 2008 | |
## AUTOREN | |
Günter Ermlich | |
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Reiseland Schweiz | |
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