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# taz.de -- Trotz Anschwärzverdacht bei der Stasi: Kundera will von Verrat nic…
> Der tschechische Schriftsteller soll einen westdeutschen Agenten bei der
> Stasi angeschwärzt haben, behauptet jedoch, sein Opfer nicht gekannt zu
> haben.
Bild: Kundera ist "von dieser ganzen Sache vollkommen überrascht".
"Ein Attentat. Ein Attentat auf einen Autor. Und das am Vorabend der
Frankfurter Buchmesse," wütet Milan Kundera. Der wohl berühmteste lebende
tschechische Schriftsteller ist in Erklärungsnot. Er soll vor 58 Jahren
einen westdeutschen Agenten an die tschechoslowakische Staatssicherheit
verraten haben.
Das belegt ein Dokument, das das tschechische Institut zum Studium
totalitärer Regime jetzt ausgegraben hat. "Am heutigen Tag, um 16 Uhr
erschien hier der Studierende Milan Kundera, geboren am 1. 4. 1929 in
Brünn", beginnt die verräterische Aktennotiz der Staatssicherheit vom 14.
März 1950. Kundera habe zu Protokoll gegeben, zwei seiner Mitbewohner aus
dem Studentenheim hätten Kontakt zu einem gewissen Miroslav Dvoracek, der
aus der Armee nach Westdeutschland desertiert war.
Aufgrund von Kunderas Aussage, Dvoracek würde noch seinen Koffer im
Studentenheim abholen, wurde der noch am selben Tag verhaftet. "Bei einer
Personenuntersuchung wurde bei ihm ein Personalausweis auf den Namen
Miroslav Petr sichergestellt, zu dem Dvoracek erklärt, er habe ihn in
Deutschland von einer Firma erhalten, die ihn mit dem Auftrag,
geschäftliche Kontakte mit dem Ministerium für Technik zu knüpfen, in die
Tschechoslowakei geschickt hatte", heißt es weiter im Stasi-Protokoll.
Außerdem sollte Dvoracek in besagtem Ministerium einen Agenten anwerben,
schließt das Dokument. Der verratene westdeutsche Agent wurde zu 22 Jahren
Zuchthaus verurteilt, von denen er 13 absaß.
"Ich bin von dieser ganzen Sache vollkommen überrascht. Ich kannte diese
Person doch überhaupt nicht", verteidigt sich nun Kundera gegenüber der
tschechischen Nachrichtenagentur CTK in seinem ersten tschechischen
Interview seit 25 Jahren. Das ganze Dokument sei für ihn ein einziges
Mysterium, beharrt der Schriftsteller.
"Schade, dass er sich den Tatsachen nicht stellt," sagt Adam Hradilek vom
Institut zum Studium totalitärer Regime. Der Historiker hat die
inkriminierenden Materialien gefunden und würde gerne mehr von Kundera
hören als ein "ich wars nicht".
Das Archivmaterial spricht eindeutig gegen die Erinnerungen des fast
80-Jährigen. "Es gab keine vernünftigen Gründe, das Material anzuzweifeln",
erklärt das Institut. Kunderas literarische Mitstreiter sind da etwas
vorsichtiger. "Ich glaube es nicht", erklärt Ludvik Vaculik, ein weiterer
literarischer Kritiker des kommunistischen Systems.
Trotz allem, und darüber ist man sich in Tschechien und anderswo einig,
verliert Kunderas Werk ("Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins") durch
die neuesten Erkenntnisse nichts an Wert. Der liegt darin, dass Kundera es
wie kein anderer verstanden hat, die Atmosphäre des kommunistischen Systems
in Worten darzustellen. Er ist der Textkonstrukteur des
tschechoslowakischen Realsozialismus, der die diktatorischen Absurditäten
der Fünfzigerjahre genauso rüberbringt wie die emotionale Kälte des Regimes
und seiner Opfer.
Viele Tschechen betrachten diesen Verrat als Jugendsünde eines 21-Jährigen.
Zu einer Zeit, in der jeder ein potenzieller Feind war, in der
Schauprozesse und Hinrichtungen den Menschen Angst einjagten. Kundera hat
sich durch seinen Verrat keinen Vorteil verschafft. Nicht wie tausende
andere, die den Nachbarn oder den Arbeitskollegen anschwärzten, um an
dessen Wohnung oder Job zu kommen. Sein Name ist in einem Protokoll
vermerkt, sonst taucht er im gesamten Stasi-Archiv nicht wieder auf. Nur,
einmal reicht: denn die moralische Autorität des Milan Kundera dürfte für
immer beschädigt sein.
15 Oct 2008
## AUTOREN
Sascha Mostyn
## TAGS
Tschechien
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