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# taz.de -- Debatte Norman Birnbaum: Die Schwelle, an der wir stehen
> Sollte Obama gewinnen, haben die USA die Chance, ihr Denken dem 21.
> Jahrhundert anzupassen. Gewinnt McCain, dann gilt der Satz Dantes:
> "Lasset alle Hoffnung fahren".
Die amerikanischen Wahlen haben schon jetzt begonnen. Bis zum Wahltag am 4.
November werden sich drei von zehn Wählern für einen Kandidaten entschieden
haben. In Reaktion auf die exzellente Organisation von Barack Obamas
Wahlkampagne sind die Republikaner zur selben Strategie übergegangen, die
sie schon beim ambivalenten Wahlsieg von 2004 und im Jahr 2000 angewendet
haben, um die Wahl zu stehlen: Systematisch blockieren sie den Zugang
wahrscheinlich demokratisch wählender Bürger zum Wahlsystem.
Die von Demokraten geführte Regierung des Bundesstaats Ohio befindet sich
bereits in einem Rechtstreit darüber. In einem Wettkampf, in dem es für
beide Kandidaten wahrscheinlich sehr eng werden wird, sind diese Fragen
genauso wichtig wie der Zusammenprall von Persönlichkeiten,
Interessengruppen und Ideen.
Wenn wir den Umfragen Glauben schenken, liegt Senator Obama mit einem
erheblichen Vorsprung bundesweit vor McCain - und hat sogar gute
Umfragewerte in den Staaten, die früher traditionell republikanisch gewählt
haben. Das Problem ist nur, dass man diesen Zahlen nicht trauen kann. Jede
Umfrage wendet ihre eigene Methode an.
Wir können nicht wissen, wer von den Befragten tatsächlich zur Wahl gehen
wird. Und die acht Prozent der Wähler, die sich selbst noch als
"unentschlossen" bezeichnen, haben sich eventuell schon längst entschieden,
und mitunter gegen Obama, weil er zur Hälfte ein Schwarzer und zu gebildet
ist oder auf andere Weise bedrohlich wirkt. Obama und seine Berater ruhen
sich in jedem Fall nicht selbstzufrieden auf ihren Lorbeeren aus. Und auch
McCain ist trotz seiner wenig überzeugenden Leistung im letzten
Fernsehduell immer noch der Meinung, dass er diese Wahl gewinnen kann.
Die Wirtschaftskrise hat Obama einen Vorteil verschafft, indem sie McCains
ohnehin vollkommen dubiosen Qualifikationen auf dem Gebiet der
Verteidigungspolitik irrelevant gemacht hat. Obwohl die Republikaner die
historische Sozial- und Wirtschaftspolitik des New Deal kontinuierlich
angegriffen haben, obwohl die Demokraten ihr sozialdemokratisches Erbe
verleugnet haben und obwohl die kollektive Erinnerung an die
Errungenschaften des Rooseveltschen New Deal weitgehend ausgelöscht wurden:
Eine Mehrheit der Amerikaner versteht den Staat immer noch als einen
Rückhalt gegen Verarmung und als eine unabdingbare Instanz, die ihnen
Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung ermöglicht.
Die unnachgiebige Beschleunigung der Wirtschaftskrise hat viele Wähler
nicht nur an den Wohlstand erinnert, der ihnen abhandenzukommen droht,
sondern auch an die Jahrzehnte der langsamen Senkung ihres Lebensstandards,
die der jetzigen Wirtschaftskrise vorangingen. Franklin D. Roosevelt
entschied die Wahlen 1932 nach drei Jahren anhaltender Rezession für sich;
Barack Obama könnte dieses Jahr aufgrund extremer Angst vor einer ähnlichen
Entwicklung gewinnen.
Dessen ungeachtet bestehen große Unterschiede zwischen den Wahljahren 1932
und 2008. Erstens verfügt heute der hoch verschuldete US-amerikanische
Staat nicht über dieselbe wirtschaftliche Souveränität. Sollten asiatische,
arabische und europäische Staaten, einzeln oder getrennt, ihre
US-Schatzbriefe als ökonomisches oder politisches Druckmittel einsetzen,
würde jede US-Regierung diesen Forderungen angesichts eines drohenden
Staatsbankrotts nachkommen.
Zweitens hat unsere waghalsig unverantwortlich agierende imperiale Elite
den Staat mit einem kolossalen Militärbudget belastet. Kurz bevor über das
700 Milliarden Dollar umfassende Bankenrettungspaket debattiert wurde, das
Präsident Bush sowie der Finanzminister und ehemalige
Goldman-Sachs-Vorsitzende Henry Paulson vorgeschlagen haben, hat der
amerikanische Kongress widerspruchslos einer Mittelzuteilung für das
Pentagon zugestimmt, die fast ebenso hoch war.
Prekärerweise beinhaltete diese nicht einmal die außerordentlichen Kosten
der Katastrophe im Irak und des Debakels in Afghanistan. Die Idee, unsere
Verteidigungskräfte zu reduzieren, um für sinnvolle Sozialausgaben zu
zahlen, ist für amerikanische Politiker nicht plausibel.
Drittens verbindet sich der Verdacht vieler Amerikaner, dass sie von den
Wirtschaftsexperten betrogen wurden, nicht mit einem kohärenten Überblick
über ökonomische und soziale Alternativen. Die Bürger, die von den
staatlichen Renten des Social-Security-Systems und der
Seniorenkrankenversicherung Medicare abhängen, sind intellektuell nicht in
der Lage, vom Erfolg dieser Programme die generelle Notwendigkeit eines
größeren Sozialstaats abzuleiten.
Die Republikaner ihrerseits haben Obama fälschlicherweise als "Linken"
beschrieben. Dabei ist er ein hochintelligenter und vorsichtiger
Technokrat, dessen Idee des "Wandels" Amerikas davon bestimmt ist, welches
Amerika die Unterstützung eines Eliteabsolventen der Harvard University
verdient hat. Das ist sehr viel besser als McCains zunehmend verworrener
Dusel. Aber es ist absolut unklar, ob das ausreichen wird, um der sich
vertiefenden Krise Herr zu werden. Sollte McCain Präsident werden, fielen
mir nur Dantes Worte ein, mit denen er die Pforte zur Hölle beschreibt:
"Wer hier eintritt, lasse alle Hoffnung fahren".
Es ist an der Zeit, dass Europa sich nicht nur als unabhängig von den
Vereinigten Staaten versteht, sondern mehr noch sich zutraut, auch Einfluss
auf den großen Bruder auszuüben. Frankreich und Deutschland haben bereits
den Grundstein dafür gelegt, indem sie sich verweigerten, Georgien als ein
unschuldiges Opfer von Russlands Raubzug anzuerkennen und der Aufnahme der
Ukraine in die Nato zuzustimmen.
Das Ende der aussichtslosen Militärpräsenz in Afghanistan, Druckausübung
für das Ende der Besatzung Iraks und die Abkopplung Europas von den
geopolitischen Funktionsstörungen und moralischen Lasten der amerikanischen
Allianz mit Israel - das wäre eine Politik, die einen Präsidenten Obama
dazu zwingen könnten, auf innovative Berater zu hören. Wenn McCain
Präsident wird, würden ihn solche europäischen Initiativen zur Weißglut
bringen - diese Wut jedoch bliebe eine ohnmächtige.
Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass es davor zu einem anderen
Problem kommt: Nehmen wir einmal an, dass das Bush-Cheney-Kabinett - trotz
der offensichtlichen Gräben in der imperialen Elite und trotz der Anflüge
von Rationalität, die Verteidigungsminister Robert Gates und
Außenministerin Condoleezza Rice gelegentlich haben - sich dazu
entschließt, McCain unter die Arme zu greifen, indem es zum Beispiel einen
militärischen Konflikt mit dem Iran lostritt. Natürlich ist das alles nur
Spekulation.
Nicht spekulativ aber ist die Tatsache, dass eine Wiederbelebung des
europäischen Sozialmodells im Rahmen eines Aufbaus neuer, internationaler
Wirtschaftsinstitutionen beträchtliche Auswirkungen auf unsere heimischen
Debatten hätte. Die Faszination, die Europa unseren Wahlen entgegenbringt,
legt nahe, dass es etwas verstanden hat, mit dem wir uns als Amerikaner
schwertun: die Tatsache nämlich, dass die alten Trennlinien zwischen
Innenpolitik und internationalen Beziehungen keinen Sinn mehr ergeben.
Man muss schauen, ob das diesjährige Wahlergebnis und die daraus
resultierende neue Richtung der amerikanischen Politik eine neue Art von
transatlantischer Politik ermöglichen - oder aber, ob sich die schon
existierenden Gräben endgültig vertiefen.
Aus dem Amerikanischen von Daniel Schreiber
20 Oct 2008
## AUTOREN
Norman Birnbaum
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