# taz.de -- Überall neue Gesichter: An die Hand genommen | |
> Im Reich der Mitte sind Reiseführer meist unverzichtbare Helfer im Umgang | |
> mit der fremden Kultur. Sie ermöglichen oft auch einen sehr privaten | |
> Blick auf ein Land, das zwischen kommunistischer Vergangenheit und | |
> kapitalistischer Moderne seinen Weg in die Zukunft sucht | |
Bild: Shanghai | |
In Lijiang sind wir ganz früh aufgestanden, um mit Fahrer und Führer über | |
einsame Straßen nach Shigu zu fahren. Die typische chinesische Fahrweise | |
hat uns nach dem Einfädeln in den Verkehr blitzartig von unserer Müdigkeit | |
befreit. Vor jeder Kurve und während jedes Überholvorgangs wird mit Hingabe | |
gehupt. Die PS-Zahl bestimmt im chinesischen Straßenverkehr die Rangordnung | |
- wer sich zu Fuß oder mit einem Zweitakter fortbewegt, muss ausweichen. | |
Nach einer ersten kurzen Irritation haben wir uns schon während unserer | |
ersten Etappe in Shanghai an dieses darwinistische Verkehrsprinzip gewöhnt. | |
Nun stehen wir in Shigu auf einem Hügel vor einem mächtigen grauen Denkmal. | |
Es zeigt einen Soldaten, der einem Bauern die Hände reicht. Alles sehr | |
heroisch inszeniert. Es war hier, in Shigu, in den Bergen von Yunnan, wo | |
Mao Zedong mit einem Teil seiner roten Armee den Yangtse überquerte, | |
damals, 1936, wieder einmal auf der Flucht vor der Nationalarmee. | |
Unterstützt wurden Maos Truppen von den Bauern, auch hier in Shigu am | |
Oberlauf des goldenen Flusses soll das so gewesen sein. Zum Dank gabs | |
später dieses Denkmal. | |
Die historische Bedeutung des Ortes würdigt Zhang Liang mit nur wenigen | |
Worten. Er erzählt lieber von den Dorfbewohnern, den Naxi, einer der vielen | |
Minderheiten im großen Reich der Mitte. Es sind die Han-Chinesen, die mit | |
91 Prozent die Mehrheit der Bevölkerung der Volksrepublik Chinas stellen. | |
Zhang Liang ist Han-Chinese. Er ist unser Reiseführer für die drei Tage, | |
die wir in Lijiang verbringen. Während wir den Hügel wieder herabsteigen | |
und das Denkmal hinter uns lassen, erzählt Zhang Liang, dass das Dorf sehr | |
alt ist. Dass die Dorfbewohner arm sind, erzählt er nicht. Aber das ist | |
auch nicht notwendig, man sieht es auch so. | |
Wir haben uns entschlossen, dieses Mal "nur" den Süden Chinas zu bereisen. | |
Unsere Reiseroute haben wir in Deutschland geplant, vor Ort kümmert sich | |
die staatliche Reiseagentur CITS um uns. Sie stellt auch die Reiseführer. | |
An jedem Flughafen erwartet uns ein neues Gesicht. Fliegen ist nahezu | |
unumgänglich in einem Land, das immerhin 27-mal so groß ist wie | |
Deutschland. Wer zum ersten Mal eine Reise nach China plant, muss sich | |
entscheiden, ob er individuell oder organisiert, ob er mit oder ohne Führer | |
reisen will. | |
Es gibt viele Gründe, die für eine gut organisierte Reise sprechen. | |
Chinesisch lernt man nicht einfach mal vorm Urlaub, und nur wenige Chinesen | |
können Englisch. Daneben spricht aber vor allem der menschliche Aspekt für | |
eine geführte Reise. Die meisten Guides fungieren nicht nur als Bindeglied | |
zwischen den Kulturen, sondern ermöglichen oft auch einen Einblick ins | |
private chinesische Leben. Bei Zhang Liang zum Beispiel dauert es nicht | |
lange, und er erzählt uns beim Schlendern durch die Gassen seiner | |
Heimatstadt Lijiang aus seinem Leben. | |
Er ist 23 und spricht gut Englisch. Erst vor kurzem ist er mit seinem | |
Studium fertig geworden. Wegen der Familienpolitik der Regierung ist er wie | |
die meisten Chinesen ein Einzelkind. Er hat eine Freundin, die ist, so | |
erzählt er mit entwaffnender Offenheit, zwar nicht so hübsch, dafür aber | |
sehr lieb. Gerne würde er mit ihr zusammenziehen, aber das geht nicht, noch | |
fehlt das Geld, und auch die Familien wären dagegen. Liang ist stolz auf | |
sein Land und vor allem auf seine Stadt. 30.000 Menschen leben in Lijiang, | |
das fast an der Grenze zu Tibet liegt und zum Unesco-Weltkulturerbe gehört. | |
Die Altstadt verzückt die Massen und vor allem chinesische Touristen mit | |
ihren kleinen Bächen, in denen das klare Wasser von den Bergen herabfließt, | |
und mit den zahllosen Brücken, die darüber hinweg führen. | |
Nicht entzückt ist Liang vom schlechten Benehmen seiner Landsleute: "Die | |
Chinesen schmatzen beim Essen und spucken auf die Straße. Sie stellen sich | |
nie in einer Schlange an und sind schrecklich laut." | |
Der Lärm in Lijiangs bunten Einkaufstraßen macht die Verständigung | |
schwierig. Erst spät in der Nacht wird es ruhiger, wenn die Tagestouristen | |
wieder abgereist sind. Auch wir bleiben nie lange an einem Ort. Vor zwei | |
Nächten noch waren wir in Dali am Rande des Cang-Shan-Berges. Dort hat uns | |
Song Huo, unsere einzige Führerin auf dieser Reise, am Flughafen abgeholt. | |
Song Huo gehört der Minderheit der Bai an. Zuerst vermuten wir in ihrer | |
eigentümlichen Tracht eine Verkleidung für die Touristen. Die 23-Jährige | |
ist jedoch keineswegs die einzige, die in Dali und Umgebung das | |
traditionelle Gewand ihrer Volksgruppe trägt. Über weißen Hosen und einem | |
weißen Oberteil tragen hier fast alle junge Mädchen einen breiten Haarring, | |
der prächtig mit bunten Stickereien verziert ist. Ein langer Zopf aus | |
weißen Fäden hängt an einer Seite bis über die Schulter herab und zeigt | |
jedem jungen Mann, dass dieses Mädchen noch zu haben ist. Mit der Verlobung | |
und der Heirat wird der Zopf immer kürzer und verschwindet in hohem Alter | |
schließlich ganz. | |
Bei Huo wippt er noch fröhlich hin und her, während sie mit uns zum Boot | |
läuft, das uns über den Er-Hai-See zur Insel Jinsuo Dao bringt. Die Bai auf | |
der Insel sind ebenfalls arm, sie leben vom Fischfang und von den | |
Touristen. Die Insel ist nicht sehr groß, und die Häuser sind alt, viele | |
stehen kurz vor dem Verfall. Eine Stunde laufen wir durch die Gassen, es | |
ist Mittagszeit, die meisten Menschen sind beim Essen, das Dorf wirkt leer. | |
Es beginnt zu regnen, als uns das Boot zurück nach Dali bringt. Huos | |
Tagestour durch die 18.000-Einwohner-Siedlung führt uns zu den drei | |
Pagoden, dem Wahrzeichen der Stadt. Seit dem letzten Erdbeben sind sich die | |
drei Türme näher gekommen und neigen sich - schräger als der schiefe Turm | |
von Pisa - einander zu. | |
Während wir die traditionelle chinesische Baukunst würdigen, gibt uns Huo | |
einen Einblick in ihr Leben. Auch sie ist gerade erst mit ihrem Studium | |
fertig geworden. Ihre Eltern sind Bauern. Deshalb, und weil sie einer | |
Minderheit angehören, erlaubte ihnen der Staat zwei Kinder. Ihr Bruder | |
allerdings, der eigentlich das Stück Land hätte übernehmen sollen, starb | |
mit 18 Jahren an einem Hirntumor. Um ihrer aller Zukunft zu sichern, drängt | |
ihre Mutter sie, bald zu heiraten, aber, so erklärt Huo mit todernstem | |
Gesicht: "There are only few good men here." Zum Glück versteht der junge | |
Fahrer, der uns begleitet, kein Englisch. | |
Auf dem Weg nach Lijiang besuchen wir dann, wie auf dieser Reise schon | |
vorher ein ums andere Mal, eines dieser riesigen Touristengeschäfte, die | |
irgendwie immer aus dem Nichts vor uns auftauchen. Westliche Reisende, die | |
das "wahre China" suchen, mögen irritiert sein vom Nepp und der Massenware, | |
die hier verkauft wird. Man kann auch nicht immer sicher sein, echte Jade, | |
echte Perlen und echte Handarbeit angeboten zu bekommen. Die chinesischen | |
Touristen stört das wenig, voll bepackt kommen sie aus den riesigen | |
Verkaufshallen und zeigen stolz ihre neuesten Errungenschaften. Westliche | |
Touristen sollten diese Reiseunterbrechungen mit Geduld ertragen, denn in | |
der Regel sind die Führer verpflichtet, diese Tempel des modernen Konsums | |
anzufahren. Täten sie es nicht, müssten sie dem chinesischen | |
Reiseveranstalter eine Konventionalstrafe zahlen. | |
Mr Wang, unser Guide in Shanghai, dem Endpunkt unserer Reise, erzählt uns, | |
wie viel er im Monat verdient: umgerechnet 100 Euro. In einer modernen | |
Großstadt wie Shanghai reicht das kaum zum Leben, selbst kleine Geldstrafen | |
tun da weh. Mr Wang ist um die 50 und hat schon bessere Tage erlebt. Früher | |
hat er als Dolmetscher für die Wirtschaft gearbeitet und fühlte sich | |
geachtet. Für eine chinesische Firma reiste er sogar schon einmal ins | |
Allgäu und hat dort das Hefeweizen lieben gelernt. Heute führt er die | |
Touristen durch seine Heimatstadt und ist auf gute Trinkgelder angewiesen. | |
Außerdem muss er Rede und Antwort stehen und Erklärungen suchen für die | |
Gegensätze, die sich den Fremden bei der Besichtigung der 14 Millionen | |
Einwohner großen Metropole aufdrängen. | |
In Chinas größter Handels- und Hafenstadt leben die Superreichen, die sich | |
fast jeden westlichen Luxus leisten können, neben den Ärmsten der Armen, | |
den ungezählten Wanderarbeitern, die zwischen den Straßenschluchten ums | |
Überleben kämpfen. Und da ist die moderne Stadt mit den gigantischen | |
Hochhäusern, die sich unaufhörlich ins alte Gesicht der Stadt frisst und | |
gnadenlos alte Viertel verschluckt. Nur wenig ist übrig geblieben vom | |
historischen Shanghai, touristengerecht aufbereitet und konserviert. | |
Mr Wang hat es eilig. Noch stehen der Jadebuddha-Tempel und das Teehaus auf | |
dem Programm. Erst an der berühmten Uferpromenade Shanghais wird er | |
gesprächiger und erzählt mit einer Spur von Bitterkeit von den Problemen, | |
die die Öffnung seines Landes mit sich gebracht hat. Er redet von Armut und | |
Not, von Korruption und Umweltverschmutzung. Am Ufer des Huangpu-Flusses | |
wird das auch für uns sichtbar: chinesische Flaneure in Designerklamotten | |
neben armen Straßenverkäufern. | |
Die Skyline mit dem berühmten Fernsehturm auf seinen drei Beinen versinkt | |
am anderen Ufer im Smog. Shanghai sei das Schaufenster chinesischer | |
Reformpolitik, kann man in den Reiseführern lesen. Mr Wang sieht das | |
anders: "Shanghai verliert seine Tradition und verkauft seine Geschichte." | |
Dann hetzt er auch schon wieder weiter, als wäre er auf der Suche nach | |
diesem verlorenen China, das er uns noch gerne zeigen würde. Und wir eilen | |
hinterher. | |
Anm. der Red.: Die Namen der chinesischen Reiseführer wurden geändert. | |
26 Nov 2008 | |
## AUTOREN | |
Nicole Asmuth | |
## TAGS | |
Reiseland China | |
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