# taz.de -- Chinesischen Jurist ausgezeichnet: Das Gewissen der Anwälte | |
> Zhang Sizhi hat den schwierigen Weg Chinas in Richtung Demokratie und | |
> Freiheit vorangetrieben - und selbst durchlitten. Der Anwalt verteidigte | |
> Dissidenten sowie die Mao-Witwe. | |
Bild: Leidet mit an einer "Regierung, der der Mut für Reformen fehlt": Rechtsa… | |
Für Rechtsanwalt Zhang Sizhi sind Wörter die besten Waffen. Wenn er das | |
Wort ergreift, spannt sich sein Körper, die Augen funkeln. Seine Sprache | |
ist klar, scharf, aber nie verletzend. Kein Satz ist Schmuck, jede Antwort | |
treffend. Zhang redet hoch konzentriert, stundenlang und ohne große Gesten. | |
Der charismatische Mann mit dem vollen weißen Haar braucht sie nicht. Sein | |
Beruf ist seine Berufung. "Als Rechtsanwalt bin ich von Natur aus | |
Menschenrechtler", sagt er. | |
Geschmackvoll-funktional ist sein Wohnbüro im achten Stock eines Hochhauses | |
im Südosten Pekings eingerichtet. Im Wohnzimmer stehen helle, dezente | |
Möbel, im Arbeitszimmer Regale voller Bücher. Bände mit klassischen | |
Gedichten reihen sich an Romane und Fachbücher. Zhang trennt Beruf und | |
Privatleben. Das Wohnbüro hat ihm ein Freund überlassen. Er ist oft nur zu | |
Besuch zu Hause, bei seiner Frau. Er erzählt ihr nichts von seiner Arbeit. | |
Zhang will seine Familie schützen. Denn sein Ringen mit der Kommunistischen | |
Partei um die alleinige Herrschaft des Rechts hat einen Preis: Zhang steht | |
unter ständiger Beobachtung. | |
Der Rechtsanwalt hat seit Anfang der 1980er-Jahre all die politisch | |
schwergewichtigen, vom chinesischen Staat als "Verräter" oder "Umstürzler" | |
angeklagten Aktivisten für Freiheit und Demokratie verteidigt: den | |
Soziologen Wang Juntao, der 1989 die Studenten auf dem Tiananmenplatz | |
beriet; Wei Jingsheng, der Ende der 1970er-Jahre seine politische | |
Forderungen mit Wandzeitungen verbreitete; oder Bao Tong, den Sekretär des | |
politisch liberalen Exparteichefs Zhao Ziyang. Für keinen hat Zhang | |
Gerechtigkeit erringen können. Alle wurden unschuldig verurteilt. Seine | |
Plädoyers enthüllten die lücken- und fehlerhaften Anklageschriften des | |
Staates. | |
Die Regierung hat ihn, den viele chinesische Juristen als das "Gewissen der | |
Anwälte" bezeichnen, nie für sein juristisches Wirken eingesperrt. Er hat | |
keine Auszeichnung für seine Arbeit erhalten. Aber während der offiziellen | |
Feier zu seinem 50. Dienstjubiläum 2006 würdigten ihn Vertreter der | |
chinesischen Staatsanwaltschaft und des Volksgerichts als großen Anwalt. | |
Zhang Sizhi steht für die tragische und oft widersprüchliche Entwicklung | |
des chinesischen Rechtssystems. Er hat wie kein anderer den bis heute | |
schwierigen Weg Chinas in Richtung Freiheit und Demokratie begleitet. Er | |
hat ihn mit durchlitten. | |
Mit einem humanistischen Geist und dem Streben nach Freiheit ist Zhang, | |
geboren am 12. November 1927 in der zentralchinesischen Provinz Henan, | |
aufgewachsen. Er erlebte die Wirren des Krieges gegen Japan. Sein Vater, | |
ein engagierter Arzt, nährte sein Interesse an Politik. In den | |
1940er-Jahren studierte er Jura in Peking, trat der Kommunistischen Partei | |
- damals noch im Untergrund - bei und erlebte die Gründung der | |
Volksrepublik China. Er durfte jedoch nur ein Jahr als Rechtsanwalt für sie | |
arbeiten. Dem zunehmenden Dogmatismus der Führung wollte Zhang nicht | |
folgen. 1957 wurde er zu 15 Jahren Zwangsarbeit in einem Lager auf dem Land | |
verurteilt. "Zwei Dinge habe ich dort für mein Leben gelernt", sagt Zhang, | |
"meine Menschlichkeit zu prüfen und Bitterkeit zu ertragen." Nach der | |
Entlassung aus dem Lager arbeitete Zhang als Lehrer und glaubte, eine neue | |
Berufung gefunden zu haben. | |
Doch das nach dem Chaos der Kulturrevolution sich langsam wieder erholende | |
Justizministerium brauchte Anwälte für den öffentlichen Prozess gegen die | |
"Viererbande" um Mao Zedongs Frau Jiang Qing. Die Justizbehörde der Partei | |
erinnerte sich an Zhang und trug ihm die Leitung der Verteidigung für die | |
"Viererbande" auf. Zhang wollte nicht. Doch schließlich musste er sich - | |
als rehabilitiertes Parteimitglied - der Gruppe fügen. Zhangs Berufsethos | |
gewann die Oberhand. Er nahm die Aufgabe, den Mitgliedern der "Viererbande" | |
durch eine faire Verteidigung ein gerechtes Urteil zukommen zu lassen, sehr | |
ernst. | |
Als "kleinen Schritt" von einer rechtlosen Gesellschaft zu einer | |
Rechtsgesellschaft bezeichnet er den Prozess rückblickend. Doch damals wie | |
heute klagt Zhang die Partei für ihre politische Instrumentalisierung des | |
Rechts an. Auch mit sich selbst geht er hart ins Gericht. Die Sätze "Ich | |
war nicht gut genug", "Ich habe nicht genug getan" wiederholt Zhang immer | |
wieder. Nach jedem Fall gehe er in Selbstrevision, erzählt der Anwalt. "Man | |
darf die eigenen Schwächen nicht auf das politische System schieben." | |
Seine Härte gegen sich selbst macht auch seine Kritik an der chinesischen | |
Führung und dem politischen System so glaubwürdig. Er kritisiert scharf, | |
aber analytisch und präzise. Er hasst die Führung in Peking nicht, im | |
Gegenteil: Er leidet mit an einer "Regierung, der der Mut für Reformen | |
fehlt". Zhang will Chinas Führung nicht provozieren. Deshalb verzichtet er | |
weitgehend auf bei der Regierung ungeliebte Interviews mit ausländischen | |
Medien. Es geht ihm um seine Arbeit als Anwalt und den Aufbau eines | |
funktionierenden chinesischen Rechtssystems. Wie kann es sein, dass die | |
Parteiinstitutionen Anwälten und Richtern Urteile vorschreiben, wie kann es | |
sein, dass die Behörden Beweise fälschen, wie kann es sein, dass die | |
Regierung den UN-Pakt über zivile und bürgerliche Rechte schon so lange | |
verabschiedet, aber nicht ratifiziert hat"?, fragt Zhang immer wieder | |
ruhig. Er ist um eine Antwort nicht verlegen: "Solange eine Partei allein | |
regiert, wird sie die Rechtsstaatlichkeit nicht vorantreiben." | |
Zhang wirkt wie ein Musterbeispiel an Selbstdisziplin. Aber er ist nicht | |
abgebrüht, sondern lässt Gefühle zu und zeigt sie auch. Auf seinem | |
Nachttisch liegt eine CD mit der Mondscheinsonate von Beethoven. Er liebt | |
Musik, sagt er, sie berührt ihn. Tränen treten ihm in die Augen, wenn er | |
über die von Studenten initiierte Protestbewegung 1989 spricht. "Ich habe | |
damals jeden Tag geweint", sagt Zhang, "und ich wäre bei ihnen gewesen, | |
aber irgendetwas hat mich Ende Mai zu einer Konferenz nach Wuhan fahren | |
lassen." Weil nach seinem Verlassen Flughafen und Bahnhöfe abgesperrt | |
wurden, erlebte er das blutige Ende der Protestbewegung am 4. Juni aus der | |
Ferne. | |
Selten hat sich Zhang politisch brisante Fälle selbst ausgesucht. Aber wenn | |
Klienten ihn um Verteidigung baten, hat er sie nie abgelehnt. So bat ihn | |
1991 der Sozialwissenschaftler Wang Juntao, der laut Zhang von der Partei | |
als Vermittler in der Protestbewegung aufgerieben worden ist, um | |
Verteidigung. Er war als Drahtzieher der Protestbewegung angeklagt. Die | |
Behörden machten Zhang klar, dass es keinen Freispruch, nicht mal ein | |
Plädoyer auf Freispruch geben dürfe. Also entlarvte der Rechtsanwalt die | |
Punkte in der Anklageschrift Schritt für Schritt in gründlicher und | |
präziser Manier als haltlos. Aber er lavierte in seinem Plädoyer mit | |
einigen Fehlern und einer Teilschuld seines Mandanten. Das wirft er sich | |
bis heute vor. Als Wang zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weinte | |
Zhang zu Hause. | |
Der Fall von Bao Tong, Privatsekretär des nach dem Tiananmen-Massaker | |
abgestraften Parteisekretärs Zhao Ziyang, hätte Zhangs Karriere als Anwalt | |
dann beinahe beendet. Denn für Bao plädierte er auf Freispruch, überzeugend | |
wie ihm einige später signalisierten. Er war ausnahmsweise relativ | |
zufrieden mit seinem Plädoyer. Doch dann bekam Bao sieben Jahre Gefängnis. | |
Die chinesische Partei wollte nichts wissen von Recht und Gerechtigkeit. | |
Und sie wollte Zhang nun seine Anwaltslizenz entziehen. Durch geschicktes | |
Stillhalten und Rabatzmachen im rechten Augenblick bekam er sie zurück. | |
"Letztlich habe ich durch den Fall Bao sehr viel Selbstbewusstsein | |
gewonnen", sagt Zhang, "denn ich habe gemerkt, ich kann solche Fälle | |
souverän handhaben." | |
Er ist nicht verbittert, sondern sieht es als Aufgabe seines Berufsstandes | |
an, den chinesischen Rechtsstaat in kleinen Schritten zu erstreiten. Auch | |
nach 2000 übernahm er eine Reihe politisch sensibler Fällen, u. a. die | |
Verteidigung seines Kollegen Zheng Enchong, der sich für Betroffene von | |
Zwangsumsiedlungen in Schanghai eingesetzt hatte. | |
Zhang umgibt die Aura eines Einzelkämpfers. Er vertraut am meisten sich | |
selbst. Dennoch sorgt er sich wie ein Vater um die junge Generation von | |
Rechtsanwälten. In den letzten zwei Jahren hat er durch das Engagement der | |
jungen Rechtsanwälte wieder neue Hoffnung für die Zukunft Chinas geschöpft. | |
"Sie müssen nur die richtige Balance zwischen Selbstschutz und | |
kämpferischem Engagement finden", sagt Zhang. Um einige macht er sich | |
Sorgen, denn sie riskieren zu schnell die eigene Karriere und Freiheit. Mit | |
einer radikalen Konfrontationsstrategie schaden manche außerdem ihren | |
Mandanten. | |
Auch das Ausland kann bei der Entwicklung des chinesischen Rechtssystems | |
helfen, so Zhang. Der Rechtsstaatsdialog zwischen der deutschen und der | |
chinesischen Regierung öffnet vielen Kadern die Augen für den dominierenden | |
Trend in puncto Recht auf der Welt, formuliert Zhang höflich. Auch wenn ihm | |
Peking noch nicht unbedingt folgen mag, fügt er hinzu. "Jedoch sollten | |
ausländische Organisationen stärker mit Partnern vor Ort, mit Universitäten | |
und mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten", wünscht er sich. | |
Er selbst engagiert sich weiter für Chinas Rechtsstaatlichkeit. Der agile | |
81-Jährige ist noch immer als Anwalt aktiv und reist durchs ganze Land. | |
Familie und Freunde haben ihn wiederholt gebeten, etwas kürzerzutreten. | |
"Aber ich fühle mich auf dem Stuhl bei Gericht am lebendigsten und am | |
wohlsten", lacht Zhang. Es sei noch so viel zu tun, für die Freiheit, für | |
die Gerechtigkeit und für China. | |
2 Dec 2008 | |
## AUTOREN | |
Kristin Kupfer | |
## TAGS | |
China | |
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