# taz.de -- Interview mit Jorge Semprún: "Sozialist ohne Partei" | |
> Der Schriftsteller Jorge Semprún hat ein KZ überlebt, war im Untergrund | |
> und als Kulturminister tätig. Ein Gespräch vor seinem 85. Geburtstag über | |
> die Entwicklung der Linken und den Sinn von Militanz. | |
Bild: Mahnmal von Peter Cremer vor dem ehemaligen KZ Buchenwald. | |
taz: Herr Semprún, wann haben Sie sich zum letzten Mal entrüstet? | |
Jorge Semprún: Ich entrüste mich jeden Tag. In den letzten Tagen hat sich | |
meine Wut vor allem gegen das Spektakel gerichtet, das die französische | |
Parti Socialiste (PS) bietet. Diese Unfähigkeit, das richtige Programm und | |
die richtige Person zu finden. Dieser kollektive Selbstmord. | |
Wer ist verantwortlich? | |
Ich mache keinen Qualitätsunterschied zwischen Ségolène Royal und Martine | |
Aubry. Auch wenn sie in programmatischer Hinsicht unterschiedlich sind. | |
Die Sozialdemokratie steckt auch anderswo in der Krise. | |
Stimmt. Die Sozialdemokratie hat vor einigen Jahren sehr viele europäische | |
Länder regiert. Jetzt ist sie fast überall in der Minderheit. Aber die | |
französische Ausformung dieser Krise ist die traurigste, die | |
enttäuschendste und die karikaturenhafteste von allen. | |
Warum passiert es gerade bei der PS? | |
Die PS hinkt in ihrem Denken hinterher. Sie versucht sich verspätet auf dem | |
Terrain von Modernität und Globalisierung und in der Beziehung zur | |
Marktwirtschaft. Sie hat weder wie die Deutschen ihr programmatisches Bad | |
Godesberg gehabt noch sich wie die spanischen Sozialisten gegen den | |
Kapitalismus des franquistischen Staates positioniert. Die französische PS | |
hat den jakobinischen Zentralismus nie infrage gestellt. Sie hat das | |
französische Erbe einfach übernommen. | |
Hat die PS noch eine Zukunft? | |
Ich fürchte eine lange Krise, die die PS unfähig machen wird zur Opposition | |
gegen das Regime von Sarkozy. Ich fürchte nicht ihr Verschwinden. Sondern | |
ihre Spaltung, ihren Einflussverlust, ihr Abdriften an den Rand. | |
Ihr Abschied vom Kommunismus reicht mehr als vier Jahrzehnte zurück. Wie | |
bezeichnen Sie sich heute? | |
Zur Zeit der Komintern gab es Leute, die sich als "Bolschewiken ohne | |
Partei" definiert haben. Ich würde mich heute als "Sozialist ohne Partei" | |
bezeichnen. | |
Wie hat sich Ihr politisches und moralisches Engagement mit dem Alter | |
verändert? | |
Mein politisches Denken führt nicht mehr dazu, dass ich mich militant | |
engagiere. | |
Was verstehen Sie unter Militanz? | |
Direkte und praktische Beteiligung. Das echte Kriterium ist die Praxis. Ich | |
habe ein wenig das Syndrom der Résistance. Für mich bedeutet "militant" | |
sein: zur Waffe greifen. | |
Was kann das in einer Demokratie bedeuten? | |
Sich am Wahlkampf beteiligen. Wenn ich jünger wäre, würde ich mich in | |
Spanien in den Kampagnen gegen die Xenophobie engagieren. Oder gegen den | |
Machismo. Es gibt echte soziale Bewegungen heute. Aber ich bin heute ein | |
aktiver Sympathisant. Wenn man mich um meine Unterschrift bittet, gebe ich | |
sie. | |
Ist Schreiben für Sie eine Form der Militanz? | |
Nein. Das ist es nie gewesen. Im Gegenteil. Es ist das Ende der Militanz. | |
Ich schreibe nie ein Buch, um eine Sache zu verteidigen, oder eine Idee zu | |
verbreiten. Sondern, weil es Personen und Situationen gibt, die mich | |
interessieren. Ich arbeite langsam. Ich bin kein leichter Schriftsteller. | |
Ich bin nicht überzeugt, dass das, was ich schreibe, interessant ist. Ich | |
habe immer drei oder vier Projekte. Zu viele für die Zeit, die mir noch | |
bleibt. Aber ab und zu bringe ich eines zu Ende. | |
Wenn Sie über Buchenwald schreiben … | |
… ist das nicht militant für mich. | |
Verfolgen Sie dabei eine pädagogische Absicht? | |
Nein. Die grundlegende Idee ist, dass die meisten Leute, die etwas zu sagen | |
haben, tot sind. Das hat Schweigen zur Folge. Man muss versuchen, dem | |
abzuhelfen, dieses auszugleichen. Dabei ist man zwangsläufig ungeschickt. | |
Denn wir wissen nicht, was die Toten gesagt hätten. Damit hängt eine | |
weitere Sache zusammen, die aber zweitrangig ist: Über die Lager zu | |
sprechen, ist für mich eine Art, meine Erinnerung zu finden. Ich habe dort | |
meine Identität geschmiedet. Inklusive der als Militanter. | |
Sie werden in wenigen Tagen 85. Aber Ihre Identität beziehen Sie aus dem | |
Konzentrationslager, wo Sie als 20-Jähriger waren. | |
Ja. | |
Was bedeutet das konkret? | |
Die Erfahrung der persönlichen Freiheit. Die bewirkt, dass man sich unter | |
extremen Bedingungen entscheiden kann, Widerstand zu leisten oder zu | |
kapitulieren. | |
Es ist ein Ort des Todes. | |
Im Unterschied zum normalen Leben essen Sie im Lager weniger, schlafen | |
weniger und sterben leichter. Aber der Hauptunterschied ist, dass Sie die | |
freie Wahl haben. Im normalen Leben haben die Leute kaum eine Entscheidung | |
zu treffen. Das wird von der Gesellschaft, von der Familie et cetera für | |
sie erledigt. Aber unter den extremen Bedingungen des Konzentrationslagers, | |
wo alles beschleunigt ist und schärfer und stärker als irgendwo sonst, ist | |
die Wahl entscheidend. Die Wahl, Widerstand zu leisten. Die Wahl, | |
solidarisch zu sein. Die Wahl, nicht vor einem SS-Mann zu kapitulieren, um | |
eine zusätzliche Brotration zu bekommen. | |
In der größten Unfreiheit haben Sie die Freiheit der Wahl entdeckt. | |
Die menschliche Freiheit. Und zugleich das radikal Böse. Die Freiheit, das | |
Böse zu tun. Das ist eine grundlegende Erfahrung für mich. Die meine | |
Persönlichkeit bestimmt und strukturiert hat. | |
Ihr anderes großes Thema ist der spanische Bürgerkrieg und der Untergrund | |
in den Jahren danach. Haben Sie auch da keine Absicht, Geschichte zu | |
vermitteln? | |
Ich mag die Formel "Geschichtsunterricht" nicht. Aber ich habe ein neues | |
Projekt, das noch keine Struktur hat. Es geht um die Debatte über die | |
Erinnerung in Spanien. Heute kommt sie im Galopp zurück. Das ist ein Thema, | |
das mich viel beschäftigt. Ich habe Lust, es zu behandeln. Ich weiß noch | |
nicht, in welcher Form. Ob als Roman oder Essay. Oder als Abhandlung. | |
Warum tut Spanien sich so schwer mit der Erinnerung? | |
Die transición [demokratischer Übergang; d. Red.] ging mit Amnesie einher, | |
mit Kompromissen und freiwilligem Vergessen. Stärker für die Linken als für | |
die Rechten. Aber heute ist die spanische Demokratie trotz des baskischen | |
Terrorismus konsolidiert genug, um sich den Luxus einer Erinnerung zu | |
leisten. | |
Wie erklären Sie, dass Argentinien und Südafrika sich leichter getan haben | |
mit der Gedächtnisarbeit? | |
Es gibt eine Reihe von Faktoren. In Spanien ist die Gedächtnisarbeit auch | |
heute noch sehr schnell von Parteinahme und Rache getrübt. Das macht | |
Spanien zu einer negativen Ausnahme. Intellektuell ziehe ich den | |
argentinischen, chilenischen oder südafrikanischen Prozess vor. | |
Das 20. Jahrhundert ist auch eine Folge von linken Niederlagen. Darunter im | |
spanischen Bürgerkrieg und durch den deutschen und italienischen | |
Faschismus. Welche erfolgreichen Experimente der Linken gibt es in der | |
Geschichte? | |
Es bleiben die Erfahrungen von Kämpfen und einer populären Erfindungsgabe | |
in den Momenten des Kampfes. Aber am Ende steht immer ein Scheitern. Das | |
Scheitern der Sowjetunion war das schwerwiegendste. Und das | |
entscheidendste. | |
Sehen Sie wirklich nichts Positives in der Geschichte der Sowjetunion? | |
Ich sehe jede Menge positive Dinge. Im Allgemeinen sind sie nicht | |
institutionell. Der Elan der Revolution hat die ganze Welt in Bewegung | |
versetzt. Die Politik in der Krise von 1929 zum Beispiel war in großen | |
Teilen nicht nur gegen die Wirtschaftskrise gerichtet, sondern auch gegen | |
die ersten Erfolge der Fünfjahrespläne. Der New Deal wäre nicht | |
verständlich ohne die Planwirtschaft der Sowjetunion. Man kann auch die | |
Dichter lesen. Brecht. Oder Alberti. Oder Aragon. In der europäischen | |
Poesie gibt es einen oft sehr schönen, wunderbaren Reflex dieses großen | |
Lichtes des Oktobers. Das ist positiv. Das bleibt. | |
Sehen Sie die Linke langfristig auf Utopie festgelegt statt auf | |
Realpolitik? | |
Die Frage ist ein echtes Dilemma. Es kommt nicht auf die Richtigkeit oder | |
die ideologische Wahrheit an, sondern den praktischen Erfolg. Man muss | |
Schluss damit machen, dass die Rechten die Gegenwart regieren und die | |
Linken von der Zukunft träumen. | |
Wird das 20. Jahrhundert als Katastrophenjahrhundert in den | |
Geschichtsbüchern bleiben? | |
Es war das Jahrhundert der Konzentrationslager, des Scheiterns der | |
kommunistischen Revolution. Aber es ist zugleich das Jahrhundert der | |
Emanzipation der Frau. Das Jahrhundert der Emanzipation der kolonisierten | |
Völker. Das Jahrhundert der Verlängerung des menschlichen Lebens. Man kann | |
einen pessimistischen Blickwinkel wählen. Man kann sagen, es ist das | |
Jahrhundert der Extreme, wie Hobsbawm. Aber man kann auch sehr positive | |
Dinge sagen. | |
Sie selbst haben sich nicht viel um diese positiven Dinge gekümmert. | |
Aus persönlichen Gründen. Meine Erfahrung ist eher die des Scheitern. Das | |
Scheitern der kommunistischen Revolution. Der Sieg der Nazis mit seinen | |
Folgen für die Lager. Aber das ist eine persönliche Frage. Diese Erfahrung | |
hat mich zu einem bestimmten Typ von Texten getrieben. Literatur des | |
Nachdenkens. Aber das 20. Jahrhundert ist nicht nur das. | |
6 Dec 2008 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
Dorothea Hahn | |
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Maxim Gorki Theater | |
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