# taz.de -- Erziehungsheime: Heimkinder sollen entschädigt werden | |
> In Niedersachsen leben 50.000 ehemalige Heimkinder, die in der | |
> Nachkriegszeit von Erziehern misshandelt wurden. Sozialministerin | |
> Ross-Luttmann und Landesbischöfin Käßmann versprechen den Opfern nun eine | |
> Entschädigung. | |
Bild: Erziehungsmaßnahme: Wie im Kinderheim Glückstadt mussten auch niedersä… | |
Etwa eine halbe Million Kinder wurden in den 50er und 60er Jahren in | |
kirchlichen Erziehungsheimen misshandelt. Dieses Kapitel der deutschen und | |
insbesondere der kirchlichen Geschichte ist bis heute nur ansatzweise | |
aufgearbeitet. Das Land Niedersachsen macht nun einen ersten Schritt, um | |
das erlittene Unrecht wieder gutzumachen. | |
Am Donnerstag sprach sich Sozialministerin Mechthild Ross-Luttmann (CDU) | |
für eine Entschädigung der Betroffenen aus. Wer wie viel erhalte, | |
entscheide letztendlich aber das Schicksal jedes Einzelnen, sagte die | |
Ministerin dem NDR. Diese offizielle Aussage ist bundesweit ein Novum. | |
Weder hat die Bundesregierung das erlittene Unrecht der Heimkinder | |
anerkannt, noch bekommen sie derzeit finanzielle Entschädigungen. | |
Auch die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannover geht offen mit dem | |
bisherigen Tabu-Thema um. Als eine der ersten Landeskirchen überhaupt | |
veröffentlichte sie im Herbst eine Studie, die sich mit den Zuständen in | |
christlichen Kinderheimen der 50er und 60er Jahre befasst. Unter der Obhut | |
der Landeskirche gab es zu dieser Zeit zehn Jugend- und Kinderheime. | |
Wie alle freien Träger durften die kirchlichen Einrichtungen weitgehend | |
autonom über die Erziehungspraxis entscheiden. Das damals gültige | |
Jugendwohlfahrtsgesetz beschützte die Heime sogar vor einer "Einmischung | |
des Staates" in die erzieherischen Aufgaben. Heute leben in Niedersachsen | |
rund 50.000 Menschen, die in den Einrichtungen gedemütigt, geschlagen und | |
missbraucht worden sind. | |
"Ich schäme mich dafür, dass so etwas in kirchlichen Heimen überhaupt | |
möglich war", sagte Landesbischöfin Margot Käßmann in einer Themensendung | |
des NDR. Sie sei erschüttert über die Berichte der Betroffenen. "Mit | |
Nächstenliebe hatte das nichts zu tun", sagte sie. Käßmann sprach sich | |
ebenfalls für eine individuelle Entschädigung der Betroffenen aus. | |
Michael-Peter Schiltsky hält eine pauschale Entschädigung von ehemaligen | |
Heimkindern gleichermaßen für falsch. Der 61-Jährige kam als Kind in ein | |
christliches Erziehungsheim nach Nordhessen, wo er von Erziehern | |
missbraucht und geschlagen wurde. Heute kämpft der Künstler für die | |
Anerkennung des Unrechts sowie für eine angemessene und gerechte | |
Entschädigung der Opfer. Denn viele Heimkinder der Nachkriegszeit hätten | |
noch schlimmere Erfahrungen als er machen müssen. | |
"Jemand, der als Säugling in ein Heim gekommen ist, hat natürlich ein | |
anderes Schädigungsmuster als ein 14-Jähriger", sagt Schiltsky. Er selbst | |
sei einer der wenigen, die nach dem Heimaufenthalt eine weiterführende | |
Schulen besuchten, Abitur machten und sogar studierten. Der Bericht der | |
niedersächsischen Landeskirche belegt, dass die untersuchten Heime den | |
Jugendlichen nur selten Bildung ermöglichten. | |
Stattdessen ließen die christlichen Brüder ihre Zöglinge auf dem Acker und | |
in Betrieben schuften. So berichtete ein Betroffener von seinen Erlebnissen | |
im Fürsorgeheim Freistatt bei Diepholz. Dort habe man von morgens bis | |
abends in schweren Kettenhosen Torf abbauen müssen. Angetrieben wurden sie | |
dabei von ihren Diakonen. | |
Heute leiden die Betroffenen nicht nur an den seelischen Folgen, sondern | |
auch an den Lücken in ihrer Versicherungsbiographie. Denn die als | |
Erziehungsmaßnahmen deklarierten Arbeiten werden von der Rentenversicherung | |
bisher nicht berücksichtigt. Der Petitionsausschuss des Bundestages | |
kritisiert deshalb, dass die ehemaligen Heimkinder bei den Rentenzahlungen | |
entsprechend benachteiligt seien. Auch bei der Opferentschädigung hinkt man | |
den bestehenden Ansprüchen noch hinterher. Ein Großteil der Betroffenen sei | |
zwischen 60 und 75 Jahren alt, sagt Schiltsky. Wolle man diese mit einer | |
Opferrente angemessen entschädigen, müsse sich die Regierung beeilen. Eine | |
Einmal-Zahlung lehnt Schiltsky ab. "Das würde nichts bringen", sagt er. | |
Schließlich sei den Heimzöglingen der Umgang mit Geld oft nicht beigebracht | |
worden. Schiltsky glaubt auch, dass viele aus diesem Grund kriminell | |
geworden seien. | |
Vorerst jedoch steht die finanzielle Entschädigung nur theoretisch zur | |
Debatte. Erst vor drei Wochen hat der Bundestag beschlossen, einen runden | |
Tisch mit Vertretern der Länder, Betroffenen und Experten einzurichten. Bis | |
auf die offiziellen Aussagen von Sozialministerin Ross-Luttmann und | |
Landesbischöfin Käßmann ist noch keine konkrete Maßnahme in Sicht. Im | |
Mittelpunkt der Nationalen Konferenz steht denn auch die historische | |
Aufarbeitung der Heimerziehung. Im Frühsommer 2009 soll ein erster | |
Zwischenbericht vorgelegt werden. | |
21 Dec 2008 | |
## AUTOREN | |
Uta Gensichen | |
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