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# taz.de -- Die Schweiz wird gewöhnlich: Der helvetische Mauerfall
> Ein Land geprägt von Exklusivität, Schönheit, Stil, Kapitalismus und
> Unschuld - das ist Geschichte! Auch die Eidgenossen bemerken nach 20
> Jahren das Ende des Kalten Krieges.
Bild: Schönes Panorama am Ende der Eiszeit zwischen den Machtblöcken: Der "Gl…
Am nächsten Wochenende stimmt die Schweiz über die sogenannte
Personenfreizügigkeit ab. Das hat mit unzüchtigem Benehmen und anderen
Verschwitztheiten nichts zu tun - zumindest auf den ersten Blick nicht. Es
geht vielmehr darum, die Beschränkung der europäischen Einwanderung in den
Schweizer Arbeitsmarkt für Bulgarien und Rumänien aufzuheben. Da die
Schweiz nicht Mitglied der EU ist, stimmt man bereits zum dritten Mal in
diesem Jahrzehnt über die eine oder andere Personenfreizügigkeit ab (es hat
immer für ein Ja gereicht). Doch dieses Mal scheint die Angst besonders
groß zu sein. Auf beiden Seiten. Die Befürworter, fast alle mitsamt der
Wirtschaftsverbände, weisen darauf hin, dass im Falle eines Neins die
bilateralen Verträge mit der EU neu verhandelt werden müssen. Das würde
Jahre dauern und derweil eine unsichere Grundlage für ausländische
Investitionen bedeuten. Die Gegner sagen dasselbe, nennen es aber
Erpressung. Das zieht.
Verschwiegen wird oft, dass selbst bei einem Ja am kommenden Sonntag eine
Übergangsregelung von sieben Jahren gilt, während derer die Zulassungen für
Bürger der neuen EU-Staaten nach wie vor beschränkt bleiben werden. Derweil
können der Rumäne und die Roma-Sippe aus Sofia vor den Toren noch in Schach
gehalten werden.
Es geht somit, auf den zweiten Blick, wohl doch um eine Metaphorik der
Invasion. Um einen penetrierten Volkskörper, der allerdings jederzeit
zurückpenetrieren kann: Wie viele Sexworkerinnen aus diesen Ländern in der
Schweiz arbeiten, steht immer weit vorne in der Berichterstattung über das
Rotlichtgeschäft. Die Personenfreizügigkeit kehrt auf den zweiten Blick in
ihrer verschwitzten Bedeutung wieder.
Noch mächtiger als die ängstliche Erotisierung des Ostens erscheint aber
das Ende einer Fiktion, das in der Schweiz mit zwanzigjähriger Verspätung
eintritt: Es ist das Ende des Kalten Krieges. Die Schweiz wird daran
erinnert, dass die Mauer tatsächlich gefallen ist. Das tut weh. Denn für
die Schweiz war der Kalte Krieg vielleicht so identitätsbildend wie für
niemand sonst.
Der Kalte Krieg sicherte der Schweiz den Fortbestand der Ideologie des
Sonderfalls: Die Neutralität als Unique Selling Proposition. Heute benutzen
deutsche Staatsmänner wie Peer Steinbrück deutliches Vokabular, um das
helvetische Steuerrecht zu geißeln. Dabei ist man schon einiges gewohnt:
Die Swissair in deutscher Hand, das Nazigold der Banken, das Bankgeheimnis
unter weltweitem Beschuss, sogar von König Obama. Die Schweiz wird langsam
gewöhnlich.
Dass zur selben Zeit, in der man laut die Personenfreizügigkeit diskutiert,
die Schweiz eher still Teil des Schengen-Raumes geworden ist, macht das
Land gleich noch gewöhnlicher. Indes: An den Flughäfen ist Schengen noch
nicht in Kraft getreten, da werden die Schweizer Pässe noch kontrolliert
(bis Ende März, sagte mir kürzlich eine Zollbeamtin, die so freundlich wie
eine Service-Angestellte auf einer Automesse war und damit irgendwie
unglaubwürdig: die Grenze ist doch kein Karneval!). Zum letzten Mal kann
man als Eidgenosse auf europäischen Flughäfen leise fluchen, dass man sich
in die lange Schlange stellen muss, aber stiller frohlocken, dass man als
mindestens so speziell angesehen wird wie der Afrikaner vor einem, einfach
minus des möglichen Rassismus. Auch damit ist bald Schluss (mit der
Schlange, nicht mit dem Rassismus).
Die "Demokratie zu Demonstrationszwecken", wie der Schriftsteller Peter
Bichsel sein Land 1967 kritisch genannt hat, ist noch nicht einmal mehr ein
"Museum". Auch weil es keinen Checkpoint Charlie gibt, keinen einzelnen
Ort, der diese Verwurzelung im Kalten Krieg symbolisiert. Aber es gibt
Bilder des Sonderfalls, die daran erinnern, was erst jetzt endgültig
erodiert.
Die Bilder sind ja längst dabei, die Grenzen zu überschreiten. Google hat
im Auftrag von Time Warner begonnen, das Bildarchiv der Zeitschrift Life
ins Netz zu stellen. Für private Zwecke kostenlos. An die zehn Millionen
Stück sollen es werden, doch die Katalogisierung ist katastrophal. Man kann
zum Beispiel nicht nach Fotografen suchen. Und das bei einer Zeitschrift,
die als erste das Bild stärker gewichtet hat als den Text. Das ändert
nichts daran, dass man tolle Sachen findet. Zum Beispiel die
Farbfotografien von Loomis Dean aus den - geschätzten - späten
Fünfzigerjahren, im Bild jeweils die Kundschaft des mondänen
Wintersportortes St. Moritz (wenn man bei der Bildsuche von Google "St.
Moritz source:life" eingibt, findet man die Loomis-Dean-Serie, allerdings
verstreut).
Ein Bild aus dieser Serie zeigt eine blonde Frau auf der Corviglia, einer
der schönsten Skipisten der Schweiz. Die Frau posiert dynamisch zwischen
den Pfeilern eines großen Schildes, auf dem viersprachig und orthografisch
unsicher steht: "Corviglia Ski Club - Privat Besitz. Für Nicht Mitglieder
Eintritt verboten". Im Hintergrund sieht man ein Engadiner Haus und nur
einen kleinen Teil des atemberaubenden Panoramas - es wird uns vom Bild
konsequenterweise vorenthalten: auch die Gipfelsicht ist Privatbesitz. Wir
sehen eine Schweiz, wie sie mehrmals in James-Bond-Filmen um die Welt
geschickt wurde. Eine Schweiz geprägt von Exklusivität, Schönheit, Stil,
Kapitalismus und Unschuld. Da waren die Grenzen für den Massentourismus
noch dichter, für die verwandten Grenzen der Migration galt das genauso.
Eine Nation als Sonderfall der Reichen, früh dabei, seine Landschaften mit
unbewohnten Ferienhäusern zu bestücken.
Doch als Ideologie griff der Sonderfall Schweiz vor allem von innen.
Kürzlich stieß ich auf eine Ausgabe der Zeitschrift Du von 1967, in der
Henri Cartier-Bresson den Auftrag erhielt, die Schweiz zu fotografieren.
Wir sehen die sich mit Brille und Pfeife optisch ähnlichen Dichterfürsten
des Kalten Krieges, die den gefrorenen, und das heißt immer:
übersichtlichen Verhältnissen etwas Zweifel und Hohn beigemischt haben
(Dürrenmatt stärker als Frisch). Wir sehen viele Alte. Und ja, es gibt auch
den Appenzeller Viehmarkt neben der modernen Architektur der Hochschule St.
Gallen.
Der bereits zitierte Peter Bichsel schreibt in seinem einleitenden Aufsatz
"Des Schweizers Schweiz", den er später redigiert hat, Cartier-Bresson sehe
zum Glück nicht die "typische" Schweiz des Sonderfalls, sondern die
"gewöhnliche".
Bichsel fehlte vielleicht die Distanz. Denn Cartier-Bresson fotografierte
durchaus Typisches. Oder was wir heute dafür halten. Eine Doppelseite
bringt es auf den Punkt. Links überquert ein junger Mann in einfachem Anzug
und Sandalen mit Wollsocken eine Straße, auf dem Rücken das Sturmgewehr der
Schweizer Armee. Die Waffe im Kleiderschrank, das war normal. Weil man sie
nie brauchen musste, hat man so lange an sie geglaubt. Rechts zeigt
Cartier-Bresson eine mehrfach gespiegelte Außenansicht der Migros, des
größten Detailhändlers. Heute kämpft selbst die Migros mit der Konkurrenz
aus Europa, aus Deutschland mit Aldi und Lidl.
Die rasant angestiegene Einwanderung gut qualifizierter Deutscher war denn
auch ein Dauerthema der letzten Jahre. Prostituierte aus dem Osten oder
Asylbewerber aus Afrika oder Südamerika kann man verdrängen. Die Deutschen
nicht, von denen versteht man ja jedes Wort, zumal wenn der Chef es
ausspricht. Es brauchte die kulturelle Nähe, um die Differenz durchsickern
zu lassen, dass die Schweiz keine Insel mehr ist, als die sie sich im
Kalten Krieg stets fühlen durfte. Die Personenfreizügigkeit ist nur noch
einmal ein klareres Bild, um diesen Verlust zu vergegenwärtigen. Die Mauer
ist damit auch in der Schweiz gefallen. Im Jahr 2009.
2 Feb 2009
## AUTOREN
Tobi Müller
## TAGS
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