# taz.de -- Brasiliens arbeitslose Fußballer: Mannschaft der Verlierer | |
> Brasilien ist Fußball-Exportweltmeister. Und obwohl viele Spieler nicht | |
> gut genug sind für Europas Ligen, geben sie ihre Hoffnung nicht auf und | |
> trainieren bei den "Talentos de Futebol". | |
Bild: Der Brasilianer Grafite (l) hat es geschafft: Er spielt für den VfL Wolf… | |
Wenn Edson Moraes Filho einen Pass aus 50 Metern annimmt, sieht er ein | |
bisschen aus wie ein Ballett-Tänzer. Er streckt den Fuß und hebt den Arm, | |
schon klebt die Kugel an seinem Spann. "Doppelpass" ruft er und schlenzt | |
sie grazil weiter. Er tänzelt über den Platz. Zehn Uhr morgens, 30 Grad im | |
Schatten. In São Paulo trainiert die Mannschaft der Verlierer. "Talentos do | |
Futebol" nennen sie sich: Fußballtalente. | |
Sie alle haben eins gemein: Sie sind arbeitslose Kicker im Land des | |
Fußballs. Ehemalige Profispieler, die ausgemustert wurden, oder | |
Jugendliche, die den Sprung in den bezahlten Fußball bislang nicht | |
geschafft haben. Und sie wollen alle das selbe: aufsteigen, in den | |
Profifußball. Für dieses Ziel sind sie alles bereit in Kauf zu nehmen. | |
"Bei uns landen die schwierigen Fälle, und wir päppeln sie wieder auf", | |
sagt Trainer Rubens Correa, den alle nur Rubão nennen. Gerade psychologisch | |
sei seine Arbeit extrem anspruchsvoll: "Es hängt doch eigentlich alles am | |
Selbstbewusstsein der Spieler. Sie müssen denken: Ich kann das schaffen!" | |
Libellen schwirren über den roten Schotterplatz wie kleine | |
Senkrechtstarter. Der Himmel ist wolkenverhangen, was die Hitze noch | |
drückender macht. "Lauf schneller", bollert Rubão zu Edson rüber. Der | |
21-Jährige trabt Richtung Mittellinie. Es muss sich an das Tempo erst noch | |
gewöhnen. "Ja, ja", japst er. Mit schönem Spiel allein wird man kein Profi. | |
Die Idee für das Projekt entstand vor drei Jahren in den Reihen des | |
Zweitligisten Nacional Atlético Clube in São Paulo aus einer | |
Stammtischlaune heraus. Sie schien revolutionär: Man nehme professionelle | |
Trainingsbedingungen und biete sie denen, die im Leistungssport keiner mehr | |
haben will. 350 Reals bezahlt jeder der 31 Spieler bei Talentos do Futebol. | |
Das entspricht etwa 130 Euro - ein ganzer brasilianischer Mindestlohn. | |
Dafür bekommen sie alles, was auch ein richtiger Club bietet: Hart- und | |
Rasenplätze, Kraftraum, Massage, Wasseraerobic und regelmäßige Spielpraxis. | |
"Natürlich haben viele von ihnen keine Chance", sagt Trainer Rubão, "aber | |
wir nehmen jeden auf, der es versuchen will." Oft kratzt die ganze Familie | |
des Spielers unter großen Entbehrungen gemeinsam Monat für Monat den | |
Beitrag zusammen. Die Hoffnung: Irgendwann zahlt sich das für alle aus. | |
Manche haben auch einen persönlichen Sponsor, der im Erfolgsfalle Prozente | |
vom abgeschlossenen Vertrag mit einem Verein abkassiert will. | |
Am Anfang hieß das Projekt noch anders: "Tô! sem clube - Ich bin ohne | |
Verein" stand auf den Trikots der Spieler. "Aber das wirkte zu negativ. | |
Fußballtalente klingt viel frischer", findet Mario Hila Rocha, | |
Marketing-Direktor bei Nacional Atlético. Er klappt seinen Laptop auf wie | |
ein heiliges Buch, um die Erfolge von Talentos do Futebol vorzuführen. | |
Immerhin: Zwei Spieler schafften es jüngst zu brasilianischen Erstligisten. | |
Vor zwei Jahren wurde der Spieler Moreno Aoas Vidal zum FC Schaffhausen in | |
die Schweiz transferiert. Das mutet spärlich an, die breite Masse gibt | |
irgendwann auf. Was Rocha nicht erzählt: Der Gründer des Projektes Paulo | |
Sérgio Tognasini, den alle nur "Paulinho" nennen, hat den Verein längst | |
verlassen. Die Idee warf langsam Geld ab und schon stritten sich die | |
Vereinsfunktionäre darum, wem dieses nun zustünde. "Die haben mich | |
betrogen", keilt Paulinho heute nach. | |
Der Fußballverband des Bundesstaates São Paulo schätzt, dass allein in | |
seinem Gebiet 6.000 arbeitslose Kicker leben. Eine Gewerkschaft wie in | |
Deutschland die Vereinigung der Vertragsfußballspieler (VDV), die sich um | |
diese Klientel kümmert, gibt es in Brasilien nicht. Und im Lande des | |
Fußball-Exportweltmeisters wird selbst der Traum von einer Karriere noch zu | |
Geld gemacht. Allein 1.000 Spieler verlassen Brasilien Jahr um Jahr ins | |
Ausland. Ob an den Flussläufen des Amazonas oder in den Slums von Rio de | |
Janeiro - überall wachsen sie heran, die neuen Ronaldinhos. | |
Überall lauern sogenannte "Olheros", die Talentspäher. "In Brasilien | |
züchten wir das beste Spielermaterial. Es sind so viele, wir schaffen es | |
noch nicht einmal, alle potentiellen Superspieler rechtzeitig zu | |
entdecken", sagt Talentspäher Wildson Magalhães. Er reist durch den | |
gesamten Bundesstaat São Paulo - immer auf der Suche nach neuen | |
Rohdiamanten des Sports. | |
Für ihn bedeuten die Spieler Geld, Gewinn, Prozente. Dass viele auf dem Weg | |
nach oben straucheln, dass bei einigen schwere Verletzungen die Träume | |
zunichte machen, dass wieder andere dem psychischen Druck nicht standhalten | |
- all das interessiert ihn nicht. "Wir sind doch nicht von der Kirche", | |
sagt er mit schnarrender Stimme. Paul Breitner, Weltmeister von 1974, sieht | |
gerade in der Armut Brasiliens den Motor für dessen fußballerischen Erfolg: | |
"In Deutschland konnte man nach dem Zweiten Weltkrieg durch Fußball sozial | |
aufsteigen, das ist heute passé, uns geht`s zu gut. Deshalb bringt | |
Brasilien mehr Talente hervor." | |
Für Edson Moraes Filho schien alles schon bestens zu verlaufen. Der | |
zentrale Mittelfeldspieler spielte im vergangenen Jahr beim Schweizer | |
Drittligisten FC Grand-Saconnex und wechselte dann zu Castelnuovo | |
Garfagnana, 3. italienische Liga. "Alles war perfekt, aber dann bekam ich | |
Probleme mit dem Visum." Edson hat angeblich italienische Vorfahren und | |
wollte sich einbürgern lassen. Denn mehr als drei Nicht-Europäer dürfen in | |
den europäischen Profiligen nicht auf dem Platz stehen. Doch sein Name war | |
auf einem Dokument falsch geschrieben. Die Italiener witterten Betrug und | |
Edson war draußen. Dazu kamen auch noch Meniskus-Probleme. | |
Edson wohnt jetzt wieder zu Hause bei seiner Mutter im | |
Mittelklasse-Stadtteil Tatuapé und träumt weiter von Europa. An der Wand | |
hängen Bilder von Basel und dem Matterhorn neben der Mickey-Maus. "Auch auf | |
der Insel Mainau war ich. Wunderschön! Ich würde gerne in Deutschland | |
spielen", sagt Edson. Er trägt die pechschwarze Haartracht im | |
Schweini-Look. Heimweh habe er selten gehabt. "Nur die Hintern der | |
Schweizerinnen sind nicht so rund wie die brasilianischen", sagt er | |
grinsend. Und wenn es nicht klappt mit der Fußballer-Karriere? | |
Kopfschütteln. "Es muss einfach klappen. Ich will irgendwann Ferrari | |
fahren." Seine Mutter Ivanilde Madrona unterstützt seine Ziele. Ingenieur | |
wäre zwar auch ein guter Beruf gewesen, aber beim Fußball erobere ihr | |
Filius doch viel mehr Frauenherzen. "Er hat sich schon als Kind immer | |
heimlich aus dem Haus geschlichen, nur um noch mehr zu kicken. Edson hat | |
den Ball im Blut." Während seine Kumpels später den ersten Joint | |
durchzogen, ging Edson eisern trainieren. Er trinkt bis heute keinen | |
Alkohol, isst nichts Süßes. | |
Für Edsons Mitspieler Wendel Ribeiro Nunes, 20, kommt auch nichts in Frage | |
außer einer Fußballer-Karriere. Er stammt anders als Edson aus wirklich | |
ärmlichen Verhältnissen und für ihn bedeutet Fußball den Aufstieg. "Ich | |
will meine Familie damit ernähren." Seine Eltern, der Bruder und die | |
Schwester - alle hoffen mit ihm darauf, dass er bald wieder Geld mit dem | |
Kicken verdient. Wendel sitzt auf dem Trainingsplatz im Schneidersitz. Auf | |
sein weißes Trikot ist neben dem Projekt-Namen die brasilianische Flagge | |
aufgedruckt. Seit vier Monaten ist er schon bei Talentos do Futebol. Davor | |
hat er für den Zweitligisten Kashima Antlers im Bundesstaat Paraná | |
Linksaußen gespielt. In der Spielzeit 2005/2006 gelangen ihm sogar 25 Tore. | |
"Aber dann hat der Sponsor dem Verein den Vertrag gekündigt und ich wurde | |
wegrationalisiert", sagt Wendel ingrimmig. So langsam wird er nervös: | |
"Fußball ist doch das Einzige, was ich gut kann." | |
Viele können im fünftgrößten Land der Welt nur Fußball. Mittlerweile wird | |
aber wenigstens darauf geachtet, dass die allerjüngsten Talente nicht | |
schamlos verschachert werden: das FIFA-Reglement bezüglich Status und | |
Transfer von Spielern, Artikel 12, verbietet den Wechsel von unter | |
18-Jährigen in die EU. Möglich wird der nur, wenn die Eltern "aus Gründen, | |
die nichts mit dem Fußballsport zu tun haben, Wohnsitz im Land des neuen | |
Vereins" nehmen. Seit 2001 will der Weltverband so Kinderhandel als | |
verantwortungsloses Talentehamstern verhindern. Für Heraldo Panhoca, Anwalt | |
für Sportrecht in São Paulo, reicht das trotzdem noch nicht. "Es wird | |
getrickst, wo es nur geht." Oft nähmen die Eltern dann eben zum Schein eine | |
Arbeit im Zielland an, um das Reglement der FIFA zu umgehen. | |
Panhoca hat am brasilianischen Lei Pelé mitgeschrieben, einem Gesetz, das | |
ebenfalls dazu dient, dass Talente nicht verheizt werden. Bis 14 darf ein | |
Spieler nicht als Athlet eingestuft werden, er ist Kind, weder | |
professionelles Trainieren noch höhere Liga-Wettbewerbe sind erlaubt. Ein | |
Profivertrag darf erst mit 16 unterschrieben werden. "Leider scheren sich | |
Vereine und Eltern oft nicht darum." | |
Trotz Gefahren, wie eine Studie der Universität São Paulo offenbart: drei | |
von vier Kindern, die unter 14 in Brasilien Leistungssport betreiben, | |
stecken vor ihrem vollendeten 17. Lebensjahr auf wegen psychischer oder | |
körperlicher Überlastung. Auch Edson und Wendel haben ihre Körper von klein | |
auf geschunden, um irgendwann oben anzukommen. "Viele Talente sind schon | |
kaputt, ehe sie überhaupt in höheren Ligen kicken", sagt Panhoca. Er weiß | |
aber auch, dass in einem Land mit viel Armut ein "craque", so werden die | |
Wunderknirpse genannt, oft die goldene Henne ist, die jeder rupft: | |
Talentspäher, Berater, Clubs, die eigene Familie. André Fontenelle, | |
Szenekenner beim Nachrichtenmagazin "Veja", drückt es drastischer aus. | |
Breitensport ade, der Spieler sei nur da, um Geld zu verdienen. "Und ohne | |
Armut wären wir nie fünfmal Weltmeister geworden", ist er sich mit Paul | |
Breitner einig. | |
Osvaldo Coelho ist mächtig sauer auf die Europäer. Der Sport-Kolumnist | |
polemisiert gerne, er ist selbst Jugendtrainer. "Die Europäer holen uns die | |
Talente weg und wir können sie nicht mehr sehen. Sie werden immer jünger | |
und das bedeutet, dass sie bald auch für fremde Nationalteams abgeworben | |
werden. Das ist Raubtierkapitalismus!" Im prominenten Fall Deco hat er | |
bereits Recht behalten: Der gebürtige Brasilianer kickt inzwischen für die | |
portugiesische Nationalelf. | |
Trainer Rubão will zu Wendel oder Edson keine Prognose abgeben: "So genau | |
kenne ich sie auch nicht. Ich weiß nicht, ob sie es schaffen können", | |
bemerkt er ausweichend, während er einen Einkaufswagen voller Fußbälle vom | |
Platz schiebt. Später beim Mittagessen räumt er ein: "Es ist sehr | |
schwierig, mit über 18 Jahren im brasilianischen Profifußball noch etwas zu | |
werden." Der Markt schreie nur nach den jungen Talenten. Sie seien für den | |
europäischen Markt doch viel interessanter. | |
Edson und Wendel sind heute beim Training auch ein paar Mal ausgespielt | |
worden. Der Star bei Talentos do Futebol ist der 16-jährige Jardel. Er muss | |
die Teilnahmegebühr nicht bezahlen. "Den werden wir sicher bald an einen | |
großen Club vermitteln", feixt Rubão. Der Verein überlegt nun, mit dem | |
Projekt in andere brasilianische Großstädte zu expandieren. Rubãos | |
Vorgänger Ivair Ferreira war als Trainer der Arbeitslosen-Mannschaft vor | |
sieben Monaten entlassen worden. Er hatte sich am Verkauf von Talenten | |
persönlich bereichert. | |
Drei Monate später: Edson hält sein Handy ans Ohr und ruft den Reporter in | |
Deutschland an. Er klingt weinerlich: "Ich bin wieder in Italien. Aber die | |
wollen mich nicht mehr. Ich bin wieder ohne Club." Wenn die Leistung nicht | |
gleich stimmt, drängen schon wieder die nächsten Talente nach. Und mit 22 | |
ist er jetzt eigentlich schon zu alt. | |
Die echten Supertalente schaffen den Durchbruch lange vorher - oder gar | |
nie. So rechnen zumindest ihre Entdecker in Brasilien. "Kannst du mich | |
nicht an einen deutschen Club vermitteln?", fragt Edson. Stille in der | |
Leitung. "Oder weißt du: Ich würde auch etwas anderes arbeiten. Kellner in | |
einer Bar vielleicht. Hauptsache ich kann Geld verdienen. Scheiße!" | |
Edson ist nur einer unter vielen, die es nicht geschafft haben. Aber der | |
Traum bleibt. Dem Verein "Talentos do Futebol" wird der Nachwuchs nicht | |
ausgehen. | |
4 Feb 2009 | |
## AUTOREN | |
Christoph Wöhrle | |
## TAGS | |
Fußball | |
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