# taz.de -- Interview mit Martha Nussbaum: "Gerechtigkeit ist ein Ideal" | |
> Hoffnung allein, sagt Martha Nussbaum, reicht nicht. Eine bessere Welt | |
> herbeizuführen sei harte Arbeit. Die Philosophin wird heute in Berlin mit | |
> dem A.SK Social Science Award geehrt. | |
Bild: Kommt sie wieder? "Dazu braucht es harte Arbeit", meint Martha Nussbaum. | |
taz: Frau Nussbaum, wie können wir Gerechtigkeit überhaupt messen? | |
Martha Nussbaum: Sowohl Philosophen als auch Wissenschaftler haben dazu | |
interessante Vorschläge gemacht. Die Ansicht, die ich über die Jahre hinweg | |
vertreten habe, ist, dass wenigstens ein Mindestmaß an Gerechtigkeit, wenn | |
vielleicht auch nicht in Gänze, daran gemessen werden kann, ob alle | |
Menschen gewisse Grundansprüche haben, die ich als "Capabilities" | |
bezeichne. Diese Grundansprüche sollten in mindestens zehn Bereichen | |
vorhanden sein, die ich als zentral dafür sehe, ein menschenwürdiges Leben | |
führen zu können. | |
Geht Gerechtigkeit nur zu fühlen? | |
Ich glaube, sie wird eher selten gefühlt. Menschen gewöhnen sich an die | |
Situation, in der sie sind. Reiche Leute denken oft, dass die Dinge gut | |
laufen, wenn sie mehr als andere haben. Sozial benachteiligte Menschen | |
dagegen fühlen die Ungerechtigkeit und Ungleichheit, aber nicht immer: Wenn | |
Frauen zum Beispiel im Glauben daran erzogen werden, dass sie nicht die | |
gleichen Rechte wie Männer besitzen sollten, werden sie ihre Situation auch | |
häufig als richtig und angemessen erachten. Wir brauchen also ein | |
objektives Maß, und wir müssen uns jeden Einzelnen anschauen und wie er | |
zurechtkommt. | |
Wenn Gerechtigkeit nicht präzise zu umreißen ist - was ist dieses Wort dann | |
mehr als eine womöglich theologisch inspirierte Chiffre? | |
Besonders theologisch ist das nicht. Diese Idee der Gerechtigkeit hat einen | |
Platz in allen Gesellschaften, ob westlich oder nicht, manchmal in | |
Verbindung mit Religion, aber auch oft ohne diese Verbindung. Wir sollten | |
so viel wie möglich von diesen verschiedenen Traditionen lernen. Die Idee | |
der Hindus von Dharma beispielsweise ist eine, mit der sich die westlichen | |
Forscher näher beschäftigen sollten. | |
Und wenn Gerechtigkeit aber doch als solche Chiffre gesehen wird: Taugt sie | |
dann noch? | |
Sie "taugt" nicht, wenn sie mit "taugen" meinen, dass sie vorhanden ist. | |
Keine Gesellschaft in der heutigen Welt ist gerecht. Aber Gerechtigkeit ist | |
eine Hoffnung und ein Ideal, nach dem zu streben durchaus realistisch ist. | |
Ist Gerechtigkeit vielleicht ein eherner Bestandteil der Weltüberlieferung | |
von dem, was Ernst Bloch als das "Prinzip Hoffnung" verstanden hat? | |
Gerechtigkeit ist ein Ziel, auf das die Hoffnung gerichtet ist, aber sie | |
ist nicht das Gleiche wie Hoffnung. Und Hoffnung alleine wird das nicht | |
erreichen können. Dazu braucht es harte Arbeit: intellektuelle Arbeit, | |
taktische Arbeit und der Arbeit vor Ort von Millionen von mutigen | |
Aktivisten. | |
Ist Gerechtigkeit der Schmierstoff auf der ewigen Suche für eine bessere | |
Welt? | |
Ich verstehe diese Metapher nicht wirklich. Ich glaube aber, dass | |
Gerechtigkeit ein Ziel ist, ein Bestimmungsort, und daher würde es der | |
Punkt sein, auf den wir uns zubewegen. | |
Was könnte eine bessere, gerechtere Welt sein? | |
Eine, in welcher alle Weltbürger zumindest einen minimalen Schwellenwert | |
der zehn "Capabilities" auf meiner Liste erreichen würden. [siehe kleiner | |
Text rechts] | |
Ist eine bessere Welt denn überhaupt möglich? | |
Ja, aber wir müssen hart daran arbeiten, um diesen Zustand zu erreichen. | |
Können Kriege eine bessere Welt befördern? Denken Sie an die Normandie 1944 | |
und den Irak 2003. | |
Manchmal ist Krieg die einzig mögliche Antwort auf schreckliche Gräueltaten | |
und Angriffe, aber es sollte immer nur ein letzter Ausweg sein, nachdem die | |
Diplomatie versagt hat. | |
Ist ein kriegerischer Zustand logischerweise das Gegenteil von | |
Gerechtigkeit? | |
Nein, und zwar genau wegen der Gründe, die ich früher genannt habe: | |
Manchmal ist Krieg notwendig, um schreckliche Ungerechtigkeiten zu | |
verhindern, und deshalb glaube ich, dass es so etwas wie einen gerechten | |
Krieg gibt. | |
Sind die USA das ambitionierteste Angebot für eine gerechte Welt? | |
Nein. Es gibt andere Nationen, die viel weiter gegangen sind, um allen | |
Bürgern die zehn "Capabilities" zu bieten: zum Beispiel einige europäische | |
Nationen. Es gibt ärmere Nationen, die ihre Bestrebungen sehr viel genauer | |
durch ihre Verfassungen definiert haben: Indien und Südafrika zum Beispiel. | |
Ist Kapitalismus mit Gerechtigkeit vereinbar? | |
Ja, aber es muss ein Kapitalismus der besonderen Art sein, einer, in dem | |
die Märkte reguliert sind, um die wesentlichen Ansprüche der Bürger zu | |
sichern. | |
Wie soll das gehen, da dieses marktwirtschaftliche System doch von | |
Konkurrenz, Rivalität und im Grunde dem "Survival of the toughest" lebt? | |
Nun ja, wir haben einiges seit der Großen Depression gelernt: Die Programme | |
des New Deal repräsentierten einen vielversprechenden Weg, die Märkte zu | |
erhalten und sie gleichzeitig einzuschränken, um die Verwundbaren zu | |
schützen. Aber wir müssen noch viel lernen darüber, wie wir dies besser | |
machen können. | |
Stünde das nicht im Gegensatz zu einem Ausgleich? Oder ist dieses Wort | |
Ausgleich schon eine Überkonkretion dessen, was Gerechtigkeit als | |
Beweggrund meinen könnte? | |
Da sollten wir besser sehr präzise sein und die besten Modelle anwenden, | |
die die Wirtschaft und die politische Theorie hergeben. Sonst machen wir | |
einen schlechten Job. Die Idee, mit Gerechtigkeit auf eine verschwommene | |
und romantische Art umzugehen, gefällt mir nicht. | |
Steht Religion im Gegensatz zu Gerechtigkeit? | |
Absolut nicht. Ein wesentlicher Bestandteil von Gerechtigkeit ist gleicher | |
Respekt für alle, unabhängig ihrer religiösen oder nichtreligiösen | |
Zugehörigkeit. Das bedeutet starken politischen Schutz für | |
Religionsfreiheit und bedeutet außerdem die Abschaffung jeglicher | |
religiöser Führungsschicht. | |
Ist das jenseitige Heilsversprechen nur eine symbolisch unterfütterte | |
Ausrede für das Unvermögen, auf Erden so etwas wie Gerechtigkeit zu | |
befördern? | |
Ich halte es nicht für angebracht, abwertend über die religiöse Ansichten | |
anderer Menschen zu sprechen. Wenn sie mich nach meiner persönlichen | |
Meinung fragen, werde ich ihnen antworten, aber ich werde mich hüten, ihnen | |
zu sagen, was sie denken sollten. | |
17 Feb 2009 | |
## AUTOREN | |
M. Barmeyer | |
J. Feddersen | |
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Friedenspreis des Deutschen Buchhandels | |
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