# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Arbeitsplatz Grenze | |
> Geschäfte mit Schmuggelware wie Zigaretten und Wodka ernähren im | |
> strukturschwachen östlichen Polen ganze Ortschaften. Ein Reisebericht der | |
> anderen Art. | |
Bild: Ein bisschen schmuggeln, um die magere Rente aufzubessern | |
Es ist Anfang Februar. Auf dem Parkplatz einer polnischen Kleinstadt in der | |
Nähe der russischen Grenze steht eine Gruppe von Frauen. Sie sind zwischen | |
Ende vierzig und sechzig Jahre alt, Frührentnerinnen oder arbeitslos. Die | |
Sonne steht schon tief am Horizont. Es sind acht Grad unter null. Ein | |
Reisebus kommt an. Sieben mit prall gefüllten Plastiktüten bepackte | |
Passagiere steigen eilig aus. Zwei etwa dreißigjährige Männer fahren in | |
einem japanischen Sportwagen vor, zünden sich Zigaretten an und beginnen | |
eine Unterhaltung mit dem Busfahrer. Währenddessen wird ein Benzinkanister | |
aus dem Laderaum des Busses geholt und in den Kofferraum des Sportwagens | |
gestellt. | |
Es sind Schmuggler, die sich auf eine Fahrt zur russischen Grenze | |
vorbereiten. Drüben wollen sie Zigaretten und Wodka kaufen, Waren, die man | |
in Polen mit gutem Gewinn weiterverkaufen kann. Den Kontakt habe ich über | |
Kaja (Name anonymisiert) bekommen, einer quirligen Frau Ende fünfzig, die | |
versucht, mit dem Schmuggel ihre magere Rente aufzubessern. Kaja hat eine | |
Gruppe von Frauen organisiert, die in das Schmuggelgeschäft einsteigen | |
wollen. Heute sollen sie erst einmal nur mitfahren und zugucken. Wenn es | |
richtig losgehen soll, wird ihnen der Besitzer des Reisebusses auch einen | |
Bus zur Verfügung stellen. So warten wir jetzt nur noch auf den "Chef", wie | |
Kaja den Eigentümer der Busse nennt. | |
Der "Chef" kommt nach kurzer Wartezeit in einem älteren Audi angefahren. | |
Mittlerweile hat auch eine zweite Gruppe von sechs Frauen und zwei Männern | |
im Bus Platz genommen. Ka-jas Gruppe wird noch nichts schmuggeln, als | |
Gegenleistung sollen sie nur die zugelassene Menge an Zigaretten und Wodka | |
mitbringen. Als wir anderthalb Stunden später an der Grenzstation ankommen, | |
werden zunächst Zloty in Dollar umgetauscht, da man trotz des | |
Wechselkursverlustes mit Dollar noch günstiger einkaufen kann. Die | |
Grenzformalitäten dauern eine Stunde. Gegen 19 Uhr halten wir auf | |
russischer Seite wenige hundert Meter hinter den Grenzanlagen an einer | |
Tankstelle, neben der mehrere einfache Holzbuden stehen. | |
Zielstrebig verteilt sich die Gruppe auf drei Läden, besondere Absprachen | |
müssen nicht getroffen werden. Gemeinsam mit Kaja betrete ich einen Laden. | |
Ein schlichter Verkaufsraum, linker Hand eine Theke, dahinter die | |
Warenpalette: Zigaretten russischer Produktion und Westmarken, verschiedene | |
Wodkasorten sowie russische Süßigkeiten. Die Läden wurden eigens für die | |
Schmuggler aus Polen eingerichtet. Jede Holzbude besteht aus zwei Räumen; | |
vorne werden die Waren ausgegeben, und in einem Nebenzimmer befindet sich | |
die Minimalausstattung durchwachter Nächte: Fernseher, Bett und | |
Campingtoilette. Als wir eintreten, kommt eine junge Frau aus dem | |
Hinterzimmer und stellt sich mit gelangweilter Miene hinter die Theke. Im | |
Radio spielt ein russischer Sender Popmusik. | |
Jeder aus der Gruppe kauft 25 bis 30 Stangen Zigaretten verschiedener | |
Marken. Mit geübten Handgriffen wird in der nächsten Stunde die Ware zum | |
Verstecken vorbereitet: Einige Päckchen werden mit Klebeband am Körper | |
befestigt, der Rest wird in verschiedenen Formaten zusammengeschnürt und | |
anschließend mit dunklen Plastiktüten umwickelt. Schließlich wird der Bus | |
mit einem Teil des Schmuggelguts präpariert. | |
An der Grenze entrichten alle den üblichen Betrag von einem Euro pro | |
Zigarettenstange. Nach dem Verfall des Dollar hatte der russische Zoll | |
seinen Bestechungstarif vor wenigen Monaten von Dollar auf Euro umgestellt. | |
Die russische Grenzabfertigung ist schnell passiert, doch dann kommt der | |
polnische Zoll, der uns einer zweistündigen Kontrolle unterzieht. Es werden | |
25 Stangen Zigaretten gefunden, für die 1 000 Zloty Strafe zu entrichten | |
sind. Im Bus herrscht eine sichtlich gedrückte Stimmung. Doch kaum haben | |
wir den letzten Kontrollpunkt passiert, hellen sich die Mienen wieder auf. | |
Die zerknirschten Gesichter waren nur eine Show gewesen, um die Zöllner und | |
Grenzsoldaten in dem Glauben zu wiegen, dass sie ihre Arbeit gründlich | |
gemacht haben. Möglicherweise wären sie sonst auf den Gedanken gekommen, | |
weiterzusuchen. | |
In der ersten Ortschaft halten wir an einer Bushaltestelle. Einer der | |
Schmuggler hatte sich schon kurz zuvor alte Sachen übergezogen und kriecht | |
nun unter den Bus. Nacheinander wirft er seinen Kollegen die schwarzen | |
Plastiktüten zu, die sie im Bus verstauen. Nach wenigen Minuten ist die | |
Sache erledigt, und wir setzen unsere Fahrt fort. Der Bus meidet jetzt die | |
grenznahe Straße, auf der wir am Nachmittag gefahren sind. Stattdessen | |
nehmen wir einen weiten Umweg, bis wir uns wieder unserem Zielparkplatz | |
nähern. In einem Waldstück werden, bei einem zweiten Halt, auch die | |
restlichen Zigaretten unter dem Fahrzeug hervorgeholt und unter den | |
Mitfahrenden aufgeteilt. | |
## Das soziale Netz hält nicht, was es verspricht | |
Im Schatten der Erfolgsberichte über die polnische Wirtschaft steht bis | |
heute eine große Gruppe, denen der Anschluss an die wirtschaftliche | |
Entwicklung, seit Beginn der Systemtransformation Anfang der 1990er-Jahre, | |
nicht gelungen ist. Betroffen sind vor allem die traditionell | |
landwirtschaftlichen Regionen im Nordosten und Osten von Polen, aber auch | |
Schlesien mit seiner sich im wirtschaftlichen Niedergang befindlichen | |
Bergbauregion. Zwar nehmen die offiziellen Arbeitslosenzahlen seit einigen | |
Jahren kontinuierlich ab, doch die Dunkelziffer von permanent | |
unterbeschäftigen Personen, die gerade in landwirtschaftlichen | |
Kleinstbetrieben ihr Überleben sichern, ist weiterhin hoch. Über das ganze | |
Land hat sich derweil eine ökonomische Schattenwirtschaft von Arbeitslosen | |
organisiert. Während arbeitslose Bergleute in Walbrzych (Niederschlesien) | |
auf eigene Rechnung Kohle brechen und verkaufen, bieten Kleinhändler | |
geschmuggelte Zigaretten, Wodka, Benzin und Diesel an. | |
Obwohl Polen über ein soziales Sicherungssystem verfügt, erweist sich dies | |
in der Praxis für Arbeitslose als trügerisch. Die Dauer der Zahlung von | |
Arbeitslosenunterstützung richtet sich nach dem offiziellen Umfang der | |
Arbeitslosenzahlen in der Wojewodschaft, in der ein Arbeitsloser seinen | |
Wohnsitz hat. Selbst in den relativ stark betroffenen Wojewodschaft | |
Warmia-Mazury wurde der Bezugszeitraum von 18 auf 6 Monate gekürzt.(1) Im | |
Anschluss steht dem Arbeitslosen die Unterstützung durch die Gemeinde zu. | |
Da sich diese aber aus einer Vielzahl von spezialisierten Einzelhilfen | |
zusammensetzt, bleibt das System für die Betroffenen undurchsichtig. Sie | |
erleben den breiten Entscheidungsspielraum der Sachbearbeiter als Willkür. | |
So reduziert sich der Kreis von Sozialhilfeempfängern auf Personen, die | |
aufgrund eines physischen oder psychischen Handicaps nicht den Zugang zum | |
Arbeitsmarkt finden, sowie auf alleinerziehende Mütter. | |
Auf die Frage, in welchem Umfang ein vierzigjähriger Arbeitsloser ohne | |
gesundheitliche Einschränkungen Anspruch auf Unterstützung habe, gab der | |
stellvertretende Bürgermeister einer Kleinstadt mit schlechter | |
Infrastruktur und überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit die | |
lakonische Antwort: "Keine. Wenn er gesund ist, dann kann er auch Arbeit | |
finden!" Allenfalls im Winter könnte er einmalig eine kleine Zuwendung | |
erhalten. Das System wird mittlerweile von den Betroffenen klaglos | |
akzeptiert. Wie die Leiterin des Sozialamts bestätigt, würden Arbeitslose | |
in den Sommermonaten kaum Anträge stellen, da sie wüssten, dass diese | |
abgelehnt werden. | |
In einem Armutsbericht der polnischen Regierung heißt es, das | |
Existenzminimum sei erreicht, wenn "der Konsumlevel die biologische | |
Auszehrung gerade noch verhindert".(2) Und im Armutsbericht der EU wird | |
erwähnt, dass jeder achte polnische Staatsbürger vom Existenzminimum lebt. | |
So wundert es nicht, wenn Pfarrer Dariusz Kruczynski, Direktor der Caritas | |
der Diözese Elk, erzählt, er habe Familien zu versorgen, deren | |
Lebensverhältnisse man sonst nur aus der "Dritten Welt" kenne. | |
Einzig ein Anrecht auf Lebensmittelhilfe wird den Arbeitslosen zuerkannt, | |
soweit die Gemeinde sich an der Verteilung von Lebensmittelspenden über die | |
Bank Zywnosci SOS(3) beteiligt. In der Gemeinde Sepopol organisieren das | |
Sozialamt und der örtliche "Verein der Arbeitslosen" gemeinsam die | |
Lebensmittelversorgung. Gegen einen monatlichen Mitgliedsbeitrag von 3 | |
Zloty erhält der Arbeitslose für jedes Familienmitglied pro Quartal | |
Lebensmittel im Wert von etwa 12 Zloty (rund 4 Euro). | |
Tatsächlich erfordert die Verteilung der Lebensmittel einen umfangreichen | |
personellen und technischen Einsatz, so dass man sich fragt, ob der | |
Warenwert noch in angemessenem Verhältnis zum Aufwand steht: Ein | |
Unternehmer verleiht kostenlos einen Lkw mit Fahrer, der die Waren aus dem | |
100 Kilometer entfernt liegenden Zentrallager in Olsztyn (Allenstein) holt; | |
die Waren müssen vor Ort eingelagert werden; der Arbeitslosenverein führt | |
Listen über die Verteilung der Waren; sofern die Arbeitslosen nicht | |
motorisiert sind, müssen sie den Transport der Lebensmittel (bei einem | |
Vierpersonenhaushalt ungefähr 28 Kilogramm) irgendwie anders organisieren. | |
Seit Öffnung der Grenzen sichert der illegale Kleinhandel, vor allem mit | |
Russland und der Ukraine, das Einkommen der Bewohner im grenznahen Bereich. | |
Allein an der etwa 200 Kilometer langen Grenze zwischen der russischen | |
Exklave Kaliningrad und der polnischen Wojewodschaft Warmia-Mazury leben | |
nach Schätzungen bis zu 10 000 Personen(4) vom Schmuggel. Da es keine | |
offiziellen Zahlen gibt, kann man den Umfang nur aufgrund von Beobachtungen | |
und der beschlagnahmten Warenmenge schätzen.(5) Man kann davon ausgehen, | |
dass über 95 Prozent des privaten Reiseverkehrs an den drei Grenzübergängen | |
zwischen Polen und der Kaliningrader Oblast allein dem Warenschmuggel | |
dient.(6) Dabei sind es in der Regel nicht die Ärmsten, denen man beim | |
Schmuggel begegnet, denn das Geschäft setzt voraus, dass man die Waren | |
kaufen und regelmäßig fällig werdende Geldstrafen bezahlen kann. | |
Das System wird von allen Beteiligten toleriert, da es eine gewisse | |
wirtschaftliche und soziale Stabilität bietet. Für die Gemeinden bedeutet | |
der Schmuggel nicht nur einen Zufluss an Kaufkraft, sondern vor allem eine | |
konkrete Einsparung bei den Sozialleistungen. Wie uns glaubwürdig mehrfach | |
bestätigt wurde, werden Arbeitslose in Vier-Augen-Gesprächen beim Sozialamt | |
von den Sachbearbeitern mit der Bemerkung abgewiesen, "warum sie es denn | |
noch nicht an der Grenze probiert hätten" - so die übliche Umschreibung für | |
den Schmuggel. Und der Bürgermeister einer weiter östlich gelegenen | |
Grenzstadt hat in einer öffentlichen Veranstaltung an die Schmuggler | |
adressierte Tipps verraten, wie sie die Grenzformalitäten umgehen können. | |
Den Arbeitslosen wird vorgeworfen, sie würden den Schmuggel und andere | |
informelle Erwerbsformen einer legalen Arbeit vorziehen, um sich so auf | |
bequeme Weise ein überdurchschnittliches Einkommen zu sichern. Gerade in | |
abgelegenen Ortschaften sind die Löhne besonders niedrig: So bleiben nach | |
Abzug der Fahrtkosten am Monatsende netto 800 Zloty (rund 250 Euro) übrig, | |
bei einem Preisniveau, das nur ungefähr 25 Prozent unter dem deutschen | |
liegt. Professionelle Schmuggler erzielen dagegen ein monatliches Einkommen | |
von 1 500 bis 2 500 Zloty (zirka 500 bis 800 Euro). Am niedrigsten sind die | |
Verdienstmöglichkeiten in der Landwirtschaft. Bei der Erdbeerernte werden | |
für einen Zweikilokorb 2 Zloty (zirka 0,70 Euro) gezahlt, und selbst eine | |
geübte Pflückerin verdient in einer zehnstündigen Schicht nicht mehr als 40 | |
Zloty (zirka 13 Euro). | |
## Am Ende der Reise warten die Polizisten | |
Der Reisebus trifft morgens um 4 Uhr wieder auf dem Parkplatz ein, wo | |
unsere Fahrt vor über zwölf Stunden begonnen hatte. Ein Polizeiwagen rollt | |
langsam heran. Die Schmuggler ducken sich schnell zwischen die parkenden | |
Autos und verstecken sich hinter den Büschen. Nur Kajas Gruppe steht noch | |
auf dem Platz und Michal (Name anonymisiert), einer der Schmuggler. Die | |
Frauen schlendern zu ihm und stellen ihre Taschen ab. Sie könnten auch eine | |
Gruppe Reisende sein. Die Polizisten warten bei laufendem Motor im Wagen. | |
Michal ruft über sein Handy eine Kollegin an, die immer noch im Gebüsch | |
kauert, damit sie für uns ein Taxi bestellt. Als wir wegfahren, bleibt | |
Michal allein auf der Bank zurück. Die anderen Frauen hocken noch immer in | |
ihren Verstecken und beobachten die beiden Polizisten, die ausgestiegen | |
sind und sich vom anderen Ende des Parkplatzes langsam nähern. | |
Fußnoten: | |
(1) Das Urzad Statystyczny w Olsztynie gibt für 2006 in der Wojewodschaft | |
Warminsko-Mazurskie die Arbeitslosenquote mit 23,6 Prozent an, von denen | |
17,8 Prozent kein Arbeitslosengeld erhalten. Eurostat gibt für die Region | |
2006 lediglich 16 Prozent Arbeitslose an (Pressemitteilung vom 11. 12. | |
2007). | |
(2) Siehe Feature von Achim Nuhr, "So viel Armut gab's noch nie". Die | |
Verlierer des polnischen Wirtschaftsbooms, Deutschlandfunk, 16. Dezember | |
2008. [1][www.dradio.de/download/95828/]. | |
(3) Die Bank Zywnosci SOS (Deutsch: SOS-Lebensmittelbank) ist eine | |
humanitäre NGO, die 1993 auf Initiative von Jacek Kuron gegründet wurde; | |
siehe auch [2][www.bzsos.pl/]. | |
(4) Geht man davon aus, dass es sich um Familien handelt, so leben | |
annähernd 40 000 Personen in der Wojewodschaft teilweise vom Schmuggel. | |
(5) Die Schätzungen beruhen auf offiziellen Daten der polnischen | |
Zollbehörde sowie auf Untersuchungen der Universität Bielefeld, der | |
Warschauer Hochschule für Sozialpsychologie und der Kaliningrader | |
Immanuel-Kant-Universität aus den Jahren 2005 bis 2008; siehe auch | |
[3][www.uni-bielefeld.de/(de)/ | |
soz/iw/publikationen/forschungsberichte.html]. | |
(6) Ausgenommen der Lkw-Verkehr, der sich vermutlich nicht am Schmuggel | |
beteiligt. Die im Jahr 2005 beschlagnahmte Menge von zirka 65 Millionen | |
Zigaretten entspricht nach Schätzungen noch nicht einmal 2 Prozent der | |
Schmuggelware. | |
© Le Monde diplomatique, Berlin | |
20 Mar 2009 | |
## LINKS | |
[1] http://www.dradio.de/download/95828/ | |
[2] http://www.bzsos.pl/ | |
[3] http://www.uni-bielefeld.de/(de)/soz/iw/publikationen/forschungsberichte.ht… | |
## AUTOREN | |
Mathias Wagner | |
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