# taz.de -- Chaos bei Chiles ÖPNV: Fahrrad wiederentdeckt | |
> Weil Busse und Metros immer unzuverlässiger fahren, kommen viele Chilenen | |
> mit dem Fahrrad zur Arbeit. Nun soll das Radwegenetz stark erweitert | |
> werden | |
Bild: Metro in Santiago | |
Ihr gemeinsames Feindbild heißt „Mosquito“. Damit ist aber nicht das | |
stechende Insekt gemeint, sondern eine Art Fahrrad mit Motor. Die | |
„Mosquitos“ sind das negative Resultat des Fahrradbooms, der seit rund zwei | |
Jahren in der Millionenstadt Santiago anhält. Das führte zum Erstarken von | |
NGOs wie „Bicicultura“ oder „Movimiento Furiosos Ciclistas“. „Nein zum | |
Mosquito!“, protestieren sie, „Ein Fahrrad mit Motor ist kein Fahrrad!“ V… | |
allem aber setzen sie sich für die Rechte der Radfahrer ein, organisieren | |
Festivals und Fahrraddemos und arbeiten an einem Vorschlag für ein | |
Fahrradgesetz. | |
Die wichtigsten Punkte des geforderten Gesetzes, erläutert | |
Bicicultura-Mitglied Carlos Martínez, seien die flächendeckende Einrichtung | |
von Fahrradwegen, die Unterstützung bei der Entwicklung einer Fahrradkultur | |
sowie die sonntägliche Sperrung von weiten Gebieten der Innenstadt | |
zugunsten des Radverkehrs. Vorbild hierbei sei die kolumbianische | |
Hauptstadt Bogotá, wo bereits seit 1976 sonn- und feiertags die meisten | |
Hauptstraßen für Autos gesperrt seien. „Wir stoßen damit bei einigen | |
Politikern durchaus auf offene Ohren“, so Martínez. | |
Aber auch so hat die Politik bereits das Potenzial entdeckt, das im Fahrrad | |
steckt. Die Gemeinde Providencia hat ein Verleihsystem eingeführt mit dem | |
erklärten Ziel, verstopften Straßen und Luftverschmutzung entgegenzuwirken. | |
Der Service wird gut angenommen, und man brüstet sich damit, die Ersten in | |
Südamerika mit solch einem System „nach europäischem Vorbild“ zu sein. Und | |
laut offizieller Planung soll das Radwegenetz Santiagos in den nächsten | |
eineinhalb Jahren um 100 Kilometer erweitert werden. | |
Dabei lässt sich der Fahrradboom durchaus als ein Zufallsprodukt von | |
verfehlter Verkehrsplanung bezeichnen. Vor gut zwei Jahren wurde das | |
hiesige Nahverkehrssystem von einem Tag auf den anderen komplett | |
umgekrempelt. Dabei wurde nicht nur die Farbe der früher für Santiago so | |
typischen gelben Busse geändert. Da wurde eine völlig neue Linienführung | |
entwickelt, wurden Haltestellen gebaut, die es vorher nicht gab, ein | |
anderes Bezahlsystem wurde eingeführt. Mit der Folge, dass es zu mehr als | |
überfüllten Bussen und Metros kam und die Leute Stunden brauchten, um nach | |
Hause zu kommen - wenn es denn überhaupt noch eine Linie gab, die dorthin | |
fuhr. Nachdem sich der Volkszorn etwas gemildert hatte, aber dennoch keine | |
wirkliche Besserung in Sicht war, besann man sich auf etwas anderes: das | |
Fahrrad. | |
Heute ist es in Santiago überall zu sehen, der Anzugträger auf dem Weg zur | |
Arbeit benutzt es ebenso wie das Pärchen zum Wochenendausflug oder der | |
Fitnessbegeisterte als Sportgerät. Aber wie fast überall sind Autofahrer | |
auch hier natürliche Feinde. Besonders arg ist die Situation, weil die | |
Autofahrer überhaupt nicht daran gewöhnt sind, mit Radfahrern im | |
Straßenverkehr umzugehen. „Noch viel schlimmer aber sind die Busfahrer“, | |
erklärt Martínez, „darum fahren hier in den Straßen, die ja meistens | |
Einbahnstraßen sind, so viele Radfahrer auf der linken Seite - da gibt es | |
keine Busse.“ | |
Man darf sich also nicht vorstellen, in Santiago herrschten bereits | |
niederländische Verhältnisse. Die Anzahl der Autos steigt im smogbelasteten | |
Santiago mit dem in Chile in den letzten Jahren steigenden Wohlstand stark | |
an. Gehören Radfahrer heute aber immerhin zum gewohnten Straßenbild, wurden | |
sie noch vor zwei Jahren angestarrt wie Außerirdische, und auch die | |
„Mosquitos“ waren noch unbekannt. Während sich Letztere jedoch als | |
Modeerscheinung entpuppen dürften, wird sich der Siegeszug des Fahrrads | |
fortsetzen. | |
28 Mar 2009 | |
## AUTOREN | |
Karsten Höhnke | |
## TAGS | |
Reiseland Chile | |
Elektrofahrrad | |
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