# taz.de -- die wahrheit: Schötanno und die Armee der Unsichtbaren | |
> Der rumänische Bettler vor dem Supermarkt hatte eine neues Wort gelernt: | |
> "Schötanno". Bislang empfing er jeden mit der immer gleichen | |
> Begrüßungsformel: "Alloh"... | |
Der rumänische Bettler vor dem Supermarkt hatte eine neues Wort gelernt: | |
"Schötanno". Bislang empfing er jeden mit der immer gleichen | |
Begrüßungsformel: "Alloh". Ein Singsang, den er in den rund zehn Stunden, | |
die er als Torwächter vor dem Geschäft täglich arbeitete, wohl tausendmal | |
von sich gab: "Alloh". Eine universelle Begrüßung, die leicht zu verstehen | |
war. Aber was bedeutete "Schötanno"? Das klang wie ein Japaner, der ein | |
niedliches Kätzchen lockt, um es zu streicheln: "Schötanno". | |
Ich brauchte ein kleines Viertelstündchen, um auf die Lösung zu kommen. | |
Schließlich erinnerte ich mich daran, dass "Alloh", wie er inzwischen | |
überall genannt wurde, eines Tages mit seinem knochensteifen Bein in den | |
Supermarkt gehumpelt war, um sich ein trockenes Brötchen und eine Flasche | |
Wasser zu kaufen. Die Kassiererin hatte ihn wie jeden anderen Kunden mit | |
routinierter Freundlichkeit verabschiedet: "Schönen Tag noch." Strahlend | |
verließ der Bettler als König das Geschäft. Offenbar hatte er seine eigene | |
Kurzversion entwickelt: "Schötanno". Seither heißt Alloh nur noch | |
Schötanno. | |
Mit seiner stets gleichbleibenden devoten Verbeugung und dem servilen | |
Grinsen war Alloh bislang kaum beachtet worden. Doch jetzt blühte Schötanno | |
auf - und prompt fand er Verbündete in der Armee der Unsichtbaren. | |
Plötzlich marschierten sie vor ihm auf: die alten, grauhaarigen, in | |
farblosen Rüstungen steckenden Frauen, die ansonsten völlig übersehen | |
werden, weil sie ihre sexuelle Ausstrahlung verhüllt oder längst verloren | |
haben. Dafür besitzen sie nun die Fähigkeit, sich vollkommen unsichtbar zu | |
machen. | |
Schötanno flötete sein neues Zauberwort, und eine alte Dame blieb abrupt | |
stehen. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, hatte sie ihn sofort | |
verstanden, ja es kam zum Äußersten: ein Dialog! "Danke, bis morgen dann", | |
sagte die Graue. "Morgen nein!", erklärte Schötanno trotz der abschlägigen | |
Auskunft freudestrahlend, denn er hatte noch eine wichtige Information für | |
seine Gesprächspartnerin: "Morgen Bruder." - "Bruder?", wiederholte sie | |
staunend, "kommt der auch zur Arbeit?" Schötanno schüttelte energisch den | |
Kopf: "Bruder neu, kommt von …", Schötanno zeigte mit ausgestrecktem Arm | |
nach Süden, drehte sich dann um und wies ins Ungefähre: "… dann anders | |
Arbeit." Die Graue nickte verständig und hob ihren Einkaufsbeutel in die | |
Höhe und griff hinein. Dann überreichte sie Schötanno eine Kleinigkeit, die | |
er unter mehrmaligen Dankesbekundungen entgegennahm, um die alte Dame dann | |
gebührend zu verabschieden: "Schötanno". | |
Schötanno wird seinem Bruder von seinem großen Erfolg berichten, dass er | |
das in der Bettlerschule erlernte "Alloh" eigenständig revolutioniert hat. | |
Und sein Bruder wird ihm nacheifern. Wenn dann Schötanno und sein Bruder im | |
Winter heimkehren, werden sie einiges zu erzählen haben, vor allem aber | |
werden sie die fremde Zauberformel "Schötanno" wirken lassen. Und sie wird | |
ihre Wirkung nicht verfehlen. Sie wird sich in ihrer Heimat weit | |
verbreiten. Eines Tages wird jedes Kind "Schötanno" sagen, wenn es sich bei | |
Wind und Wetter über widrigste Umstände hinweghelfen muss. Denn merke: Ein | |
freundliches Wort - und ein Bettler wird zum König. | |
17 Apr 2009 | |
## AUTOREN | |
Michael Ringel | |
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