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# taz.de -- "Negative Diskriminierung" von Robert Castel: Hör die Straße, Mar…
> Als 2005 die französischen Vorstädte brannten, war es ein Leichtes, die
> Jugendlichen zu kriminalisieren. Robert Castel hingegen zeigt: Die
> Banlieue-Jugendlichen sind Bürger zweiter Klasse und von Prekarität und
> Ausgliederung bedroht.
Bild: Mai 2013: Im Stockholmer Ortsteil Husby und anderen Regionen mit hohem Mi…
Verzweifelte taugen nicht als Helden, und Aufstände der Verzweiflung
schreiben keine Geschichte. Aufständen haftet etwas Konfuses und
Gewalttätiges an. Der Zorn, die Ängste, die an die Oberfläche gelangen,
sind unberechenbar, die Wut der Akteure unkanalisiert. Die Wut hat kein
politisches Programm, hat keine Führungsfiguren. Aufstände erinnern an
vorindustrielle Formen der Auseinandersetzung. Sie gebären keine Helden.
Aufstände werden auf den Moment ihres Ausbruchs reduziert, was die
Nichtbeteiligten von der Verantwortlichkeit entlastet. Diese Figur des
Aufständischen riefen auch Politik, Medien und Polizei auf, um die Unruhen
in den französischen Banlieues im Jahre 2005 zu charakterisieren. Man hat
noch die Worte des damaligen Innenministers und heutigen Präsidenten
Frankreichs im Ohr, der die Jugendlichen als asoziale, verlorene Geschöpfe
charakterisierte.
Die Unruhen in den französischen Vorstädten in ihren gesellschaftlichen
Zusammenhang zu stellen, ist das Bestreben einer kleinen, analytisch
genauen Schrift des französischen Soziologen Robert Castel, die nun in der
Hamburger Edition vorliegt. "Negative Diskriminierung - Jugendrevolten in
den Pariser Banlieues" heißt sie und ist 2007 im Original erschienen.
Castels Absicht, und das scheint plausibel, besteht zunächst darin, den
Diskurs um die Banlieues aus seinem aufgeheizten Modus zu befreien. Das
zielt auf das rassistisch geprägte Panikregime der politischen Rechten,
aber auch auf die verbalen Zuspitzungen, die in Teilen der Linken
kursieren. Beide Seiten bedienten sich des Ghetto-Vergleichs. Ihn entlarvt
Castel als Polizeiversion einerseits, die als Rechtfertigung für eine
quasimilitärische Rückeroberungsstrategie diene. Andererseits, und das ist
seine zentrale These, verdecke ein stereotypisiertes Bild der Banlieue den
konkreten historischen Kontext, denn: "Was als Vorstadtproblem
herausgestellt […] wird, ist nur ein […] Teil der Probleme, die in
Frankreich […] durch die Zunahme von sozialer Unsicherheit und Prekarität
und die Entwicklung von neuen Formen der Armut aufgeworfen werden."
Castel behandelt die Banlieue, die nicht immer als Ort des sozialen
Abstiegs galt, als Teil der neuen sozialen Frage. Das klingt zunächst nach
einer simplen Ableitung. Castel, der in Deutschland mit seinen Arbeiten
über Prekarität und die Krise des Sozialstaats bekannt geworden ist, zeigt
jedoch das Verwobensein von sozialer Frage und rassistischer
Diskriminierung, die er als Teil des postkolonialen Erbes Frankreichs
analysiert.
Die Banlieue zeigt sich als eine Art Verdichtung von rassistischer und
klassengeprägter negativer Diskriminierung. Eine komplexe Dynamik: Die
zunehmende Deindustrialisierung drängt diejenigen mit der schlechtesten
Ausbildung an den Rand, weil sich der Anteil so genannter unqualifizierter
Beschäftigung aufgrund der Veränderungen des Arbeitsmarkts verringert hat.
Die Ausbildungschancen jedoch sind nicht gleich verteilt. Vor allem die
Jugendlichen maghrebinischer oder subsaharischer Herkunft sind
benachteiligt. Selbst dann noch, so Castel, wenn sie bereits in dritter
Generation in Frankreich leben, französische Staatsbürger sind, keinerlei
Verbindung zum Herkunftsland ihrer Eltern oder Großeltern haben und zudem,
was das religiöse Stigma betrifft, zu 68 Prozent Laizisten sind, wie eine
Umfrage zeigte.
Castel ruft hier zur Erklärung eine marxistische Kategorie auf, die wegen
des ansonsten auffällig positiven Bezugs auf das republikanische Erbe
beinahe überrascht: die gefährliche Klasse und ihr Nutzen für die
Herrschaft. Was die Landstreicher für die vorindustrielle und das
Proletariat für die industrielle Gesellschaft gewesen, seien die
Banlieue-Bewohner für die postindustrielle Gesellschaft: Projektionsfläche
und Verkörperung einer neuen Unsicherheit, derjenige Ort, an den der
innergesellschaftliche Konflikt verschoben wird. Die gefährlichen Klassen
sind diejenigen, in denen man "den Kern eines Problems sieht, das weit über
sie hinausreicht, und dessen Opfer sie eher sind, als dessen Verursacher.
Aber genau das ist in der Ökonomie der sozialen Beziehungen auch ihre
Funktion."
Den Vorstadtjugendlichen nun, an den Rändern der sozialen Welt existierend,
werde eine überzogene Verantwortlichkeit in Bezug auf eine
Sicherheitsobsession aufgeladen, die die französische Gesellschaft aufgrund
von zunehmender Massenarbeitslosigkeit und des Abbaus von festen
Beschäftigungsverhältnissen durchdringe.
Castels vorläufiger Vorschlag besteht in Bildungsförderungsgesetzen und
einer Stadtteilpolitik, die den dort lebenden Migranten, aber nicht nur
ihnen, zugute kämen. Seine Vision ist die Herstellung einer vollwertigen
politischen und sozialen Staatsbürgerschaft für alle, eine
Staatsbürgerschaft, die nicht über Ausschluss funktioniert, sondern
Ausdruck einer wirklich pluriethnischen und plurikulturellen Republik ist.
Die Banlieue, so sein Fazit, ist kein Ghetto, sondern eine Baustelle. Oder
wie es in einem französischen Rap-Song heißt: "Die Straße spricht, kein
Grund zur Panik!"
Robert Castel: "Negative Diskriminierung. Jugendrevolten in den Pariser
Banlieues". Aus dem Französischen von Thomas Laugstien. Hamburger Edition,
Hamburg 2009, 122 Seiten, 15 Euro
16 Apr 2009
## AUTOREN
Tania Martini
## TAGS
Husby
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