Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Seniorensport: Der Turnlehrer
> Bewegung bis ins hohe Alter: Ein polnischer Ex-Fußballprofi macht in
> Hamburg alten Menschen Beine, die ohne ihn nicht mehr vor die Tür gehen
> würden. So auch einer Dame in den Elbvororten, deren Familie wollte, dass
> er sie herumrennen lässt. Ein Spaziergang.
Bild: Endlich wieder raus: Auf dem Elbwanderweg kommt Marianne Vorwerk so richt…
Aus einem Nebenzimmer hallen die Schläge einer Standuhr hinüber, tief,
gemessen, gewichtig. "Halb vier", sagt Marianne Vorwerk, "dann wird… dann
kommt…Wie heißt er noch gleich?" Ja, so sei das mit dem Gedächtnis, sagt
die alte Dame und richtet sich auf der Chaiselonge auf: "Ich kann mich sehr
genau an das herrlich beruhigende, kaum hörbare Klappern der falschen Zähne
meines Großonkels beim Mittagessen erinnern. Nicht aber an den Namen dieses
Mannes. So geht es mir mit fast allen Namen." Sie deutet auf einen
Gehwagen, der neben der Chaiselonge steht. "Da, im Korb, der Zettel, was
steht da drauf?" "Jacek, 4. September, 15.30 Uhr."
"Jacek, genau. Dann kommt er jetzt schon seit ungefähr sechs Wochen zu mir,
immer um 15 Uhr 30. Das war eine Idee meiner Familie. Jacek hatte eine
Bekannte von uns nach einer Krebsoperation fabelhaft wieder in Schwung
gebracht. Da meinten sie alle, er könne ja auch mich wieder herumrennen
lassen."
Das mit dem Herumrennen war bei Marianne in den letzten Jahren etwas
zurückgegangen. Noch bis zur Küche kam sie und wieder zurück und bei
schönem Wetter kamen ein paar Schritte auf der Veranda dazu, das wars. Was
Marianne ihrem Alter, 96 Jahre, aber durchaus angemessen erschien. Was will
ich, sagt sie: "Die meisten liegen in meinem Alter nur noch herum. Wenn
nicht schon längst unter der Erde."
Ein kurzes Klopfen an der Tür und Jacek tritt ein. Weder jung noch alt,
geschätzte 45, sieht er aus und als wäre ihm Sport eine
Herzensangelegenheit: Er trägt ein beiges Cord-Cappy, das tief ins Gesicht
gezogen auf dem schlanken Metallic-Gestell der Brille aufsetzt. Ein dunklen
Fleece-Pullover, dessen Reißverschluss am Kinn schließt. Eine schnörkellos
geschnittene Bluejeans. Und - unvermeidlich - Turnschuhe, wieder in Beige.
Sein Lehrsatz ist denkbar einfach. "Alles, was lebt, braucht Licht und
Bewegung." Den Alten werde aber oftmals diese Selbstverständlichkeit
verweigert. Weils was kostet, sagt Jacek. Er erzählt von einer Frau, die
nach einer Operation fünf Monate lang im Krankenhaus lag: "Manchmal kam
eine Krankenschwester vorbei. Die sagte dann: Frau Meier, stehnse doch mal
auf - und zog und zerrte an der Frau rum." Idiotisch, dieser Versuch, sie
auf die Beine zu stellen, sagt Jacek: "Natürlich wurde der Frau Meier dabei
schwindelig, mulmig im Bauch. Was die Krankenschwester zur Diagnose
verleitete, sie sei noch zu schwach und müsse eben liegen bleiben. Und so
blieb Frau Meier liegen und liegen und liegen und wäre bestimmt in
absehbarer Zeit gestorben. Weil das für die Gesellschaft nun mal die
billigste Lösung ist."
Während er erzählt, hat er Marianne Vorwerk in den Mantel geholfen. Sie
hakt sich mit ihrem linken Arm bei ihm ein. Rechts stützt sie sich auf
einen Rohrstock. "Ich habe mit Frau Meier ganz langsam angefangen", sagt
Jacek, "die ersten Tage nur Beinarbeit: Beugen und Strecken. Dann Aufstehen
üben. Dann die ersten Schritte. Dann raus aus dem Zimmer und immer längere
Spaziergänge. Am Ende brauchte mich Frau Meier nicht mehr, sie geht jetzt
alleine."
Jacek war mal Fußballprofi, Kattowitz in der zweiten polnischen Liga über
Jahre sein Verein. Nebenher studierte er an einer Sportakademie. Nach einer
Verletzung hat er noch eine Weile als Schiedsrichter, danach als
Sportlehrer gearbeitet. Leben konnte er davon allerdings nicht. "Lehrer
werden in Polen so schlecht bezahlt", sagt Jacek, "dass man den Beruf nur
als Hobby ausüben kann." Deshalb ging Jacek vor sechs Jahren nach
Deutschland, als Sportlehrer. Nur dass er jetzt nicht mit jungen, sondern
alten Leuten turnt.
Marianne Vorwerk hat mit ihm den den Weg zur Elbe eingeschlagen. Vorsichtig
setzt die alte Dame einen Fuß vor den anderen, die Lippen gespannt, den
Blick auf ihre schwarzen kunstledernen Schuhe gerichtet. Ihr einziges Paar,
sagt sie, seit fünf Jahren schon. Abnutzungsspuren sind an ihnen nicht zu
erkennen. "Ich bin ja kaum rausgekommen", sagt sie. Es könnte aber auch
einen anderen Grund geben: Marianne Vorwerk ist klein, unendlich schlank,
feingliedrig, ihr Körper, möchte man sagen, von einer nahezu vollkommenen
Schwerelosigkeit. Bei jedem ihrer kleinen Schritte hat man den Eindruck,
als verfehlten sie auf seltsame Weise den Boden, und weder der Kies vor dem
Haus, noch das Laub auf der Straße, gab einen Laut, als sie darüber hinweg
schritt.
An der Elbchaussee angelangt, flutet reißender Verkehr an ihnen vorüber.
Schwere, neue Autos, an denen man ablesen kann, dass Geld in diesem Teil
Hamburgs dazugehört, zum Leben. Marianne Vorwerk bemerkt zuerst, dass die
Ampel umgesprungen ist. "Grün", ruft sie, und ruckelt dabei mit dem
eingehakten Arm, ungeduldig wie ein kleines Mädchen an der Hand seiner
Mutter. Gemeinsam stürzen sie auf die Straße.
Auf dem Elbwanderweg kommt Marianne Vorwerk so richtig in Fahrt. Sie schaut
kaum noch auf ihre Fußspitzen, alles Ängstliche, alle Zögerlichkeit ist von
ihr abgefallen. Als sie am Arm von Jacek an einem Herren vorbeizieht, der
höchstens auf 80 Jahre kommt, kann sie ein Siegerlächeln in den Mundwinkeln
nicht unterdrücken.
"Jetzt sind wir eine halbe Stunde gegangen", sagt Jacek mit Blick auf seine
Uhr, die über ein klassisches Ziffernblatt und eine Digitalanzeige verfügt.
Die beiden lassen sich auf einer Bank nieder. "Bevor wir zum ersten Mal zur
Elbe gegangen sind, wusste ich gar nicht mehr, was Wind ist", sagt Marianne
Vorwerk. Auch jetzt bläst er wieder und wühlt in ihrem vollen, hier und da
noch blondem Haar.
"Nicht nur Licht und Bewegung sind wichtig", sagt Jacek, "sondern auch,
dass man etwas erlebt, etwas von der Welt sieht. Die Schiffe auf der Elbe,
wie es drüben bei der Baustelle weitergeht oder all die verschiedenen Leute
hier. Gestern haben wir einen Bekannten von Ihnen getroffen, Frau Vorwerk,
nicht wahr?" Die alte Dame lächelt: "Den Lotsen, ein alter Nachbar. Ich
habe ihm vorgeschlagen, dass er Herr von Buddenbrook heißt. Damit lag ich
leider wieder falsch."
20 Apr 2009
## AUTOREN
Maximilian Probst
Maximilian Probst
## TAGS
Leichtathletik
## ARTIKEL ZUM THEMA
Leichtathlet Knabe über das Altern: „Ich will mir selbst noch etwas beweisen…
Dreispringer Wolfgang Knabe macht noch mit 65 Jahren weiter. Ein Gespräch
mit dem Weltrekordler über Motivation, Seniorensport und Vergänglichkeit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.