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# taz.de -- Protestforscher über 1. Mai: "An Wut mangelt es nicht"
> Wir fühlen uns für das Scheitern selbst verantwortlich, sagt
> Protestforscher Roland Roth. Deshalb wird es keinen Aufstand geben - auch
> wenn das gesünder wäre.
Bild: Fühlen sich laut Roth als Rächer der Enterbten: Autonome bei Maiprotest…
taz: Herr Roth, beginnt am 1. Mai der Aufstand?
Roland Roth: Sicher nicht. Aber diesmal könnte es heftiger werden als in
den Vorjahren. Ein Teil der autonomen Szene wird sich als Rächer der
Enterbten fühlen und Krawall machen. Die abgefackelten Luxuskarossen der
vergangenen Monate waren dafür erste Zeichen.
Aber erwarten Sie die Unruhen, vor denen DGB-Chef Michael Sommer und
SPD-Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan warnen?
Nein, daran glauben die beiden doch selbst nicht. Eine Drohkulisse wird
symbolpolitisch genutzt: Wenn ihr das Sozialsystem weiter beschneidet,
müsst ihr mit Aufruhr rechnen. Ein ganz altes Spiel: Schon an der Wiege des
Sozialstaats stand die Angst der Besitzenden vor Unruhen. Und die schürt
man jetzt, ohne selbst für eine Protestbewegung zu mobilisieren. Weder
Gewerkschaften und SPD noch die CDU oder die Firmenchefs rechnen aktuell
wirklich mit einer Revolte.
Warum?
SPD und Gewerkschaften haben den Kontakt zum wachsenden Prekariat von
Arbeitslosen und Schlechtbeschäftigten weitgehend verloren. Sie könnten die
Drohung gar nicht wahrmachen und sich an die Spitze einer sozialen
Protestbewegung stellen. Andererseits könnten sie diese auch nicht steuern
oder verhindern, wenn es sie gäbe. Das wissen sie selbst.
Wer könnte das dann?
Niemand. Dass die stärkste soziale Protestbewegung der neuen
Bundesrepublik, die gegen die Einführung von Hartz IV, gescheitert ist,
wirkt noch immer lähmend. Es fehlt eine solide Infrastruktur, die eine
dauerhafte und wirkungsvolle Protestbewegung tragen könnte.
Die Krisendemonstrationen am 28. März versuchten den allgemeinen Unmut zu
kanalisieren. Warum gelang das nicht?
Gerade die sozial Benachteiligten sehen den direkten Nutzen solcher
Proteste für sich nicht. Die meisten Menschen schließen sich nur einer
Protestbewegung an, die Aussicht auf Erfolg hat. Die außerparlamentarische
Linke sieht einfach nicht wie ein Sieger aus. Sie wirkt zu schwach, um
wirklich etwas zu verändern.
Aber könnte es nicht so kommen wie bei der Französischen Revolution? Dort
wurde die unangreifbar scheinende Monarchie über Nacht zertrümmert.
Das ist völlig unwahrscheinlich. In der Französischen Revolution gab es mit
dem aufstrebenden Bürgertum einen Stand mit einem starken
Klassenbewusstsein: Für die damaligen Unternehmer standen auf der einen
Seite die Adligen - dekadente Schmarotzer, die in Luxus schwelgten. Auf der
anderen Seite stand man selbst - arbeitsam, sittsam und moralisch integer.
Man empfand sich selbst als eigentlicher Träger der Gesellschaft. Warum
sollte man prassende Höflinge alimentieren?
Genau die gleiche Frage ließe sich heute auch stellen.
Teile des Mittelstands wurden mit dem Konjunkturprogramm ruhiggestellt.
Diese Schichten glauben pathologisch an die selbstheilende Kraft des
Marktes. Und wenn der es nicht schafft, muss ihm eben der Staat helfen. Die
Idee einer anderen Gesellschaft existiert nicht. Natürlich stößt viele das
dekadente Verhalten der Finanzbranche und mancher Firmenbosse ab. Aber das
bleibt folgenlos.
Warum?
Weil ihr Verhalten nicht öffentlich geächtet wird. Medien und Politiker
warnten vorsorglich vor einem Manager-Bashing. Der Begriff "Bankster" wurde
bei uns nicht heimisch. In den Talkshows sitzen noch immer die alten
Figuren mit den immer gleichen Parolen. Auch der Chef der Deutschen Bank
hat schon verkündet, man mache weiter wie bisher. Die Situation erinnert an
Walter Benjamin: dass es so weitergeht, ist die Katastrophe.
Dann hoffen wir also mit Karl Marx aufs Proletariat?
Nicht hier. Da müssen wir schon nach Lateinamerika schauen, wo Arbeiter
bankrotte Fabriken übernommen haben. Das wäre selbst nach dem Abzug von
Nokia aus Bochum nicht denkbar gewesen. Es fehlt die Kultur des "Wir
schaffen das auch selbst". Weder bei den Bürgern noch bei den Arbeitern
existiert das Selbstbewusstsein, die tragende Schicht der Gesellschaft zu
repräsentieren.
Und die Unterschicht?
Die war schon während der Französischen Revolution eher eine
Verfügungsmasse, die benutzt wurde. Ähnliches droht heute. Die Finanzkrise
ist Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen mit ihrer Hetze gegen Wall
Street und Weltjudentum. Zum Glück steht die Szene derzeit so desolat und
organisatorisch geschwächt da.
Wie soll die Wut dann den extremen Rechten nutzen?
Die NPD erreicht heute soziale Milieus, die für die anderen Parteien schon
längst verloren sind. Ihre Abgeordneten kommen häufig aus unteren Schichten
und sind viel jünger. Ich befürchte keinen rechten Putsch. Aber die
Rechtsradikalen könnten aus der Krise gestärkter hervorgehen als die Linke.
Bisher wählen USA-Hasser aber lieber die Linkspartei.
Wenn die Krise mit Massenentlassungen und Betriebsschließungen voll
durchschlägt, wird das Placebo "Abwrackprämie" seine Wirkung einbüßen und
vermutlich eine radikalere Kritik der Verhältnisse an Boden gewinnen. Sie
wird auch eine eher traditionell sozialdemokratisch gestimmte Linkspartei
treffen, die mitregiert und das derzeitige System stabilisiert. Ihre
Mitglieder haben für Protestpolitik ohnehin nicht viel übrig.
Warum werden in Frankreich Manager als Geiseln genommen und hier nicht?
In Frankreich gibt es traditionell eine klare Frontstellung zwischen dem
Patron und den Beschäftigten. Bossnapping wird dort als gesteigerte Form
der Tarifverhandlung betrachtet. Hierzulande sitzen die Gewerkschaften mit
im Aufsichtsrat, diese Mitbestimmung hat Tradition.
Wie wirkt sich diese Betriebskultur auf Proteste aus?
Die traurige Seite der Tradition zeigte sich bei der Mobilisierung für Frau
Schaeffler. Nachdem ihr Continental-Coup krisenbedingt zu scheitern drohte,
demonstrierten Schaeffler-Beschäftigte für Staatshilfen. Warum unterstützen
sie ausgerechnet eine Frau, die jahrelang gewerkschaftliche Strukturen
missachtet hat, statt sich mit Continental-Arbeitern zu solidarisieren?
Aus Dummheit?
Es mangelt an Klassenbewusstsein und Solidarität. Die
Schaeffler-Beschäftigten haben sich von der Übernahme von Continental eine
Stärkung ihres Standorts versprochen. Ich würde es als betriebsborniert
bezeichnen.
Was muss passieren, damit die Wut hierzulande wächst?
An Wut mangelt es nicht. Zu Hause, am Stammtisch, in der Mittagspause auf
der Arbeit - da schimpfen die Menschen. Der moralische Kredit der
Wirtschaftseliten ist verspielt, niemand glaubt diesen Leuten mehr
irgendetwas. Aber es glaubt auch niemand, dass es ihm bessergeht, wenn er
diese Leute gefangen nimmt oder vermöbelt.
Also gibt es keine Revolte, und alles geht weiter wie bisher? Ist das Ihr
Fazit?
Nein. Protestbewegungen sind Teil einer demokratischen Kultur, durch die
sich ausgegrenzte Interessen immer wieder Gehör verschaffen. Aktuell droht
aber eher eine Erosionskrise. Dazu gehören vielfältige
Ausgrenzungserfahrungen: auf dem Arbeitsmarkt, in abgehängten Regionen, in
einer verfallenden öffentlichen Infrastruktur. Hierzulande wenden die
Menschen solche Erfahrungen aber eher gegen sich selbst - etwa in
Depressionen, Sucht oder Suizid. Wir erleben einen Zerfall des
gesellschaftlichen Zusammenhalts - keine Explosion, sondern eine Implosion.
Ist das typisch deutsch?
In Frankreich, den USA oder England richten sich Aggression und Wut heute
stärker nach außen, gegen die Verursacher der Finanzkrise. Dort werden
Banken umzingelt oder Manager gefangen gesetzt. Protest ist jedenfalls
gesünder, als die Wut in sich hineinzufressen.
Wieso ist das hier anders?
Wir haben eine Kultur der Selbstzurechnung. Das lernen wir schon in der
Schule: Jeder muss sich den gleichen Aufgaben stellen. Wer sie nicht
meistert, ist automatisch ein Versager. Diesen fatalen Mechanismus müssen
wir überwinden. Dafür braucht es tatsächlich den sozialen Protest, mit dem
andere scheinheilig drohen.
29 Apr 2009
## AUTOREN
Felix Lee
Daniel Schulz
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