# taz.de -- Missbrauch von geistig Behinderten: Ideale Opfer | |
> In Lüneburg stand ein Pfleger vor Gericht, der eine geistig behinderte | |
> Heimbewohnerin vergewaltigt hat. Strafverfolgung und Aufklärung sind in | |
> diesem Bereich besonders schwierig. | |
Bild: Bianca W. war weder in der Lage, einen Notrufknopf zu betätigen, noch wu… | |
LÜNEBURG/CELLE taz | Bianca W. brachte am 12. Februar 2006 einen Sohn zur | |
Welt. Die Pflegerinnen fanden das Kind in ihrer Windel. Der Fötus war 22 | |
Wochen alt, so vermutet das gerichtsmedizinische Institut. Wäre Bianca W. | |
nicht schwanger geworden, wäre es nie zu dem Prozess gegen den Pfleger | |
gekommen, der sie vergewaltigt hat. Bianca W. ist das, was man das ideale | |
Opfer nennen könnte: Sie kann sich nicht verständlich machen. Seit sie als | |
neun Monate altes Kind Hirnhautentzündung bekam, ist sie auf dem Stand | |
einer Einjährigen stehengeblieben. | |
Experten schätzen, dass das Risiko behinderter Heimbewohnerinnen, sexuelle | |
Gewalt zu erleiden, doppelt so hoch ist wie das nicht behinderter Frauen. | |
Aber die Öffentlichkeit nimmt das nicht wahr. "Behinderte Menschen gelten | |
als sexuell nicht attraktiv", sagt Julia Zinsmeister, Professorin am | |
Institut für Soziales Recht an der Fachhochschule Köln. "Und offenbar wird | |
allgemein angenommen, dass nur attraktive Menschen sexuell missbraucht | |
werden." | |
Die Forschung beschäftigt sich allmählich mit dem Thema, doch bislang | |
fehlen genaue Zahlen. Bei einer Befragung in Berliner Heimen für geistig | |
Behinderte nahmen die Leiter bei jeder vierten Bewohnerin zwischen 12 und | |
25 Jahren an, dass sie von sexueller Gewalt betroffen war. Die Befragung | |
fand 1999 statt, zwischen 1991 und 2001 wurde der Berliner Heimaufsicht | |
jedoch kein einziger Fall sexueller Gewalt in Behinderteneinrichtungen | |
gemeldet. "Heime sind, ebenso wie Familien, keine sicheren Orte", sagt | |
Julia Zinsmeister. "Aber das Bewusstsein dafür setzt sich erst langsam | |
durch." | |
Bianca W.s Missbrauch wäre schwierig zu vertuschen gewesen. Nach der | |
Fehlgeburt benachrichtigte die Leitung der Diakonie Lobetal im | |
niedersächsischen Celle die Polizei. Die veranlasste einen Massen-DNA-Test, | |
der schließlich auf die Spur von Peter S. führte. Im April dieses Jahres | |
steht er wegen sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person vor | |
dem Landgericht Lüneburg. | |
Peter S. ist 49 Jahre alt, er stammt aus Polen und trägt einen blauen Anzug | |
und eine dunkle Hornbrille, er sieht aus wie ein osteuropäischer Dissident | |
aus den 80er-Jahren, für den die Zeit stehen geblieben ist. Bianca W. wird | |
nie artikulieren können, was die Vergewaltigung für sie bedeutet hat. Peter | |
S., so scheint es, wird diese Tat lange, vielleicht immer, verfolgen. "Ich | |
glaube, ich gehöre für immer ins Käfig", hat er aus dem | |
Untersuchungsgefängnis an seine Frau geschrieben. "Ich werde Schuldgefühl | |
und Ekel nie überwinden. Es gibt keine Wiedergutmachung." | |
Tabuisierte Sexualität | |
Es ist im Nachhinein nicht mehr genau zu rekonstruieren, an welchem Tag im | |
September oder Oktober 2005 Peter S. Bianca W. vergewaltigte. Sie wohnte | |
gemeinsam mit einer anderen Frau in einem Doppelzimmer, zu diesem Zeitpunkt | |
war sie allein. Peter S. kleidete Bianca W. zum Waschen aus, dann zog er | |
seine Hose hinunter und drang, so zumindest stellt es das Gericht in seinem | |
Urteil fest, in sie ein. Peter S. will sich daran nicht erinnern können. | |
"Als ich merkte, was ich tat, habe ich sofort aufgehört" ist alles, was er | |
dazu sagen kann und will. Anschließend wickelte er Bianca W. und verließ | |
das Zimmer. | |
"Hat Frau W. Sie sexuell erregt?", fragt ihn der Richter. "Das ist doch | |
eine arme Frau", antwortet Peter S. Bianca W. wiegt bei einer Größe von | |
1,59 cm 39 Kilogramm. Ihre Beine sind so stark kontrahiert, dass sie bei | |
der Ausschabung nach der Fehlgeburt von zwei Helfern auseinandergezogen | |
werden müssen. Sie verbringt ihre Tage in der Sitzschale eines Rollstuhls, | |
das Einzige, was sie bewegen kann, sind ihre Hände. Aber nicht so | |
zielgerichtet, dass sie in der Lage wäre, den Notrufknopf in ihrem Zimmer | |
zu betätigen. Sie weiß aber auch nicht, was ein Notrufknopf ist. Als | |
"fröhlich" beschreiben sie die Pflegerinnen. Sie lächelt sie manchmal an, | |
und wenn sie Musik hört, bewegt sie sich dazu. Außerhalb des | |
Pflegepersonals hat kaum jemand Kontakt zu Bianca W. Von ihren Eltern ist | |
im Prozess nicht die Rede, der gesetzliche Vertreter lässt sich wegen | |
Grippe entschuldigen. | |
Bianca W. ist darauf angewiesen, dass der Sozialleistungserbringer, so | |
heißt es im Behördendeutsch, es gut mit ihr meint. Dass er sie vor | |
Übergriffen schützt. Dass er, wenn es dazu gekommen ist, dafür sorgt, dass | |
sie sich nicht wiederholen. "Ich würde eine Einrichtung nicht allein danach | |
beurteilen, ob es dort zu sexueller Gewalt kommt. Sondern danach, wie dann | |
damit umgegangen wird", sagt Julia Zinsmeister. Bislang sei oft versucht | |
worden, Vorfälle unter den Tisch zu kehren und die Täter, sofern es | |
Mitarbeiter waren, mit einem guten Zeugnis wegzuloben. In vielen Häusern | |
sei die Sexualität der Bewohnerinnen und Bewohner tabuisiert und stark | |
reglementiert. "Aus wohlmeinender Fürsorge", sagt Julia Zinsmeister, doch | |
die Folgen seien oft fatal: "Ein solcher Umgang macht die Menschen | |
sprachlos. Wenn sie ihre Sexualität nicht selbstbestimmt leben, finden sie | |
auch nicht heraus, was sie mögen und was nicht." | |
Peter S. soll hysterisch gelacht haben, als er von der Fehlgeburt erfuhr. | |
Man kann es sich schlecht vorstellen, er wirkt viel zu verschlossen dazu | |
und in sich gekehrt. So beschreiben ihn auch die Kolleginnen: als | |
zurückhaltend und jemand, der seine Arbeit immer sehr gut machte. Eine | |
Zeugin sagt, dass er sich nach der Fehlgeburt geweigert habe, alleine zu | |
Frau W. ins Zimmer zu gehen oder sie zu duschen. Außerdem habe er begonnen, | |
sich in den Pausen zu den anderen zu setzen, doch an den Spekulationen über | |
den Täter habe er sich nie beteiligt. Einige Wochen nach der Fehlgeburt | |
kündigte Peter S. in Lobetal, aber da er schon lange angekündigt hatte, | |
weggehen zu wollen, überraschte das niemanden. | |
Warum hat Peter S. die Frau, die er pflegen sollte, vergewaltigt? Der | |
Prozess gibt nicht wirklich eine Antwort darauf. Peter S. führte eine | |
schwierige Ehe mit einer Alkoholikerin, die nach jahrelangem Auf und Ab | |
wieder drohte rückfällig zu werden. Das hat er gegenüber der Polizei | |
ausgesagt, auch gegenüber dem Gericht erklärt er das. Damit, so sagt er, | |
wolle er aber keineswegs ihr die Schuld geben, es soll nur das erklären, | |
was er sich eigentlich nicht erklären kann. | |
Natürlich sind es solche Fragen, die das Gericht interessieren. Aber für | |
die Frage, wie es den Bewohnern von Lobetal geht, ist das, was in | |
Nebensätzen gesagt wird, ungleich wichtiger. Das Beharren auf | |
Fehlerlosigkeit. Das Unwissen. "Es gibt bei uns kein zu kaltes oder zu | |
warmes Wasser", antwortet eine Pflegerin auf die Frage des Richters, ob | |
Bianca W. Unbehagen darüber zeigen könnte. Und eine Hausleiterin ist sich | |
unsicher, ob festgelegt ist, dass Männer von Männern und Frauen von Frauen | |
gepflegt werden. | |
In Lobetal werden 800 geistig und teilweise zudem körperlich Behinderte | |
betreut. Es wirkt wie eine eigene Siedlung mit seinen roten | |
Backsteinhäusern und den breiten Wegen dazwischen. Der Leiter von Lobetal, | |
Pastor Carsten Bräumer, hat sich dazu entschieden, auf Presseanfragen zu | |
antworten - aber wirklich viel erfährt man nicht. Anfang des Jahres ist | |
hier ein zweiter Fall von sexuellem Missbrauch bekannt geworden. Ein | |
Erziehungshelfer soll eine geistig behinderte Frau über Jahre hinweg | |
missbraucht haben, aus der Beziehung ist ein Kind hervorgegangen, zu dessen | |
Vater falsche Angaben gemacht wurden. Nun gibt es eine Arbeitsgruppe, die | |
aufklären soll, wie es dazu kommen konnte. Dabei ist auch eine Bewohnerin. | |
Frage des Menschenbildes | |
Ein Mitarbeiter des psychologischen Dienstes, Andreas Lemli, ist nun | |
offiziell Ansprechpartner für Heimbewohner in Fällen sexueller | |
Grenzüberschreitungen. Die Mitarbeiter von Lobetal können sich an | |
Vorgesetzte oder an den psychologischen Dienst wenden. Gibt es weitere | |
Konsequenzen aus den Vorfällen? "Irgendwie haben wir alles richtig gemacht | |
und es ist trotzdem passiert", sagt Carsten Bräumer. "Das ist schwieriger, | |
als wenn wir klar eine Lücke benennen könnten." Die Heimaufsicht habe keine | |
Versäumnisse festgestellt und keine weiteren Auflagen gemacht. | |
Lobetal ist sicherlich in manchem vorbildlich. "Es gibt hier seit 30 Jahren | |
das Recht, Sexualität auszuleben", sagt Bräumer. In langjährigen | |
Beziehungen und sogenannten geschützten Ehen, die von Paten begleitet | |
werden. Die Fachkräftequote liegt bei 60 Prozent, das sind 10 Prozent über | |
dem Durchschnitt. Aber was ist mit der Stärkung der Selbstbehauptung der | |
Bewohnerinnen und Bewohner, wie sie Julia Zinsmeister als wichtigsten | |
Präventionsschritt fordert? Dem schließt man sich in Lobetal an - aber wie | |
es konkret umgesetzt wird, ist kaum zu erfahren. Selbstbehauptungskurse | |
soll es im Jahr 2010 geben. | |
"Man muss es im Alltag verankern", sagt Andreas Lemli. "Die Basisversorgung | |
Schwerstbehinderter ist ja eigentlich per se jeden Tag eine | |
Grenzüberschreitung." Selbstbehauptung fange schon lange vor der sexuellen | |
Eigenverantwortlichkeit an, nämlich schon bei der Entscheidung, ob man | |
tatsächlich eine Jacke anziehen wolle, wenn der Pfleger einen dazu | |
auffordere. Lemli sagt, dass man sich klarmachen müsse, was für eine Macht | |
der einzelne Mitarbeiter unvermeidbar habe - aber wann und wo man sich das | |
bewusst macht, sagt er nicht. Das neue Pflegeversicherungsgesetz sieht vor, | |
dass Heimbewohner ein Anrecht auf Intimpflege durch gleichgeschlechtliche | |
Pfleger haben. "Das ist unser Grundsatz", sagt Carsten Bräumer. Aber es | |
gebe zu wenig Männer im Pflegebereich. "Und was", so sagt er, "wenn eine | |
Frau von Männern gepflegt werden will?" Wenn man Julia Zinsmeister fragt, | |
ob das gewachsene Problembewusstsein angesichts von Pflegenotstand und | |
Kostendeckelung ins Leere laufe, antwortet sie erstaunlich optimistisch. | |
"Viele Maßnahmen kosten kein Geld, sie erfordern ein Umdenken. Es ist eine | |
Frage des Menschenbildes." | |
Das Landgericht Lüneburg verurteilt Peter S. zu 3 Jahren und 4 Monaten | |
Haft. Zuvor darf er noch ein Schlusswort sagen: "Ich weiß nicht, wie es | |
dazu kam", sagt Peter S. "Ich hatte die Frau doch zur Pflege." | |
"Die Basisversorgung Schwerstkranker ist ja eigentlich per se jeden Tag | |
eine Grenzüberschreitung", sagt Andreas Lemli, Ansprechpartner für | |
Heimbewohner. Selbstbehauptung fange schon lange vor der sexuellen | |
Eigenverantwortlichkeit an | |
8 May 2009 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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