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# taz.de -- Montagsinterview Baupolitiker Matthias Klipp: "Ich wundere mich, da…
> Bei der DDR-Kommunalwahl im Mai 1989 wurde Matthias Klipp als Kandidat
> der Opposition gewählt. Später war er Baustadtrat, bald wird er
> Baudezernent in Potsdam sein. Und er staunt darüber, dass es nicht mehr
> Protest gegen Luxus-Bauprojekte gibt.
Bild: Als die Mauer fiel, ging Klipp nur nach West-Berlin und war schon um 2 Uh…
taz: Herr Klipp, so etwas wie Sie hätte es gar nicht geben dürfen …
Matthias Klipp: Wer sagt das?
Die SED wollte bei der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 sicherlich keine
Kandidaten, die weder bei ihr noch bei den Blockparteien Mitglied waren.
Dann hätte die SED ein anderes Wahlgesetz machen müssen. Ich war damals
unter anderem im Friedenskreis der Gethsemane-Gemeinde tätig und habe die
Arbeitsgruppe Strafrecht geleitet. Wir haben die Gesetze der DDR analysiert
und festgestellt, dass die Wohnbezirksausschüsse eigene Kandidaten
aufstellen können. Das hatte nur keiner vorher gemacht.
Die Wohnbezirksausschüsse der Nationalen Front, kurz WBA, waren eigentlich
kein Oppositionsinstrument.
Eigentlich nicht. Andererseits war der Wohnbezirksausschuss so etwas wie
heute eine Betroffenenvertretung im Sanierungsgebiet. Es war relativ
demokratisch, da reinzugehen, relativ demokratisch dort einen neuen
WBA-Vorsitzenden zu wählen - und das haben wir gemacht. Letztendlich waren
die aktiven oppositionellen Leute aus der Oderberger Straße in diesem WBA.
Warum haben die Sie als Kandidaten für die Wahl aufgestellt?
Weil ich damals auf solche Sachen totale Lust hatte. Und weil sich außer
mir niemand anderes bereit erklärt hat.
Sie hatten Lust darauf?
Es war eine Zeit, wo viele Leute versucht haben, an den Fesseln zu rütteln
und zu gucken, was überhaupt noch machbar ist. Das war eine Form der
politischen Auseinandersetzung - auch der politischen Provokation des
Systems. Wir waren anfangs gar nicht sicher, ob das wirklich funktioniert.
Aber wenn, dann haben wir jemanden in den Gremien. Wir wollten dort Anträge
stellen, Diskussionen anzetteln und Informationen bekommen. Andererseits
wussten wir, wenn die schaffen, das zu verhindern, obwohl es im Wahlgesetz
der DDR drinsteht, dann wird es dazu führen, dass unsere Position gestärkt
wird und die sich zunehmend bloßstellen müssen. Insofern war der Ausgang
offen. Aber dass es geklappt hat, war natürlich ein dolles Ding.
Erinnern Sie sich noch an das Wahlergebnis?
Ich war bei der Auszählung in der Oderberger Straße. Hier haben 15 Prozent
der Leute gar nicht gewählt und noch mal 15 bis 20 Prozent mit Nein
gestimmt. In unserem Wahllokal gab es ungefähr 150 Gegenstimmen bei 700
Jastimmen. Also eine enorm hohe Zahl an Gegenstimmen.
Haben Sie sich selbst gewählt?
Das war auch so schizophren: Wir hatten den Leuten erklärt, wie man eine
gültige Neinstimme produziert, nämlich indem man alle Kandidaten
durchstreicht. Ich habe in der Wahlkabine auch meinen eigenen Namen
durchgestrichen.
Warum?
Auf der einen Seite war es mir wichtig, ein Zeichen gegen dieses Wahlsystem
zu setzen. Auf der anderen Seite habe ich die Hoffnung gehabt, dass
trotzdem 51 Prozent gültige Stimmen zusammen kommen. Ich hatte eine
Zustimmung von 70 Prozent - ich brauche nicht 98 Prozent.
Was passierte nach der Wahl?
Es gab einen Aufruf der kirchlichen Gruppen, die an alle Gewählten
appelliert haben, ihr Mandat nicht anzutreten - wegen des Wahlbetrugs. Das
wurde hier in der Oderberger Straße sehr kontrovers diskutiert. Soll ich
mein Mandat antreten oder öffentlichkeitswirksam niederlegen? Wir haben uns
dann für einen Zwischenweg entschieden: Ich bin beauftragt worden, in der
konstituierenden Sitzung der Stadtbezirksversammlung einen Antrag auf
wahlkreisweise Veröffentlichung der Wahlergebnisse zu stellen. Damit, so
unsere offizielle Begründung, wollen wir gegen die Gerüchte, es habe
Wahlfälschung gegeben, offensiv vorgehen. Wir sind damit aber nicht
durchgekommen. Der Antrag ist nicht zugelassen worden.
Welche Bedeutung hatten Ihrer Meinung nach der 7. Mai und die Aufdeckung
des Wahlbetruges?
Ich glaube, da hat sich die SED einen bösen Bärendienst erwiesen. Das hat
sehr stark dazu beigetragen, das System zu delegitimieren und der
Opposition frische Kräfte zuzutragen, die davor noch zurückhaltend waren.
Dass wir es mit senilen Greisen und kulturlosen Banausen zu tun haben, das
wussten wir. Aber dass es reine Kriminelle sind, die gegen ihre eigenen
Gesetze, die sie selber so hingemogelt haben, wie es für sie richtig ist,
auf so krasse Weise verstoßen, das war eine völlig neue Dimension.
Was hat Sie zum WBA geführt?
Das waren hauptsächlich die Pläne, die Oderberger Straße abreißen zu
wollen. Dagegen wollte ich etwas unternehmen und vor allem gegen den
Zustand der Bausubstanz - da gab es zu DDR-Zeiten nicht allzu viele
Alternativen. Wenn man gutgestellt war, hätte man nach Hellersdorf oder
Marzahn ziehen können, in eine Plattenbauwohnung, oder man konnte in
verfallenen Altbauten wohnen bleiben. Wir hatten die Idee, dass es
dazwischen einen dritten Weg geben könnte.
Gab es Ideen, wie Prenzlauer Berg in 20 Jahren aussieht?
Wir wollten die Häuser mit einfachen Mitteln sanieren. Wir hatten eine
sogenannte Selbsthilfebrigade und haben leer stehende Wohnungen ausgebaut.
Ich habe hier das Lokal "Entweder Oder" mit Freunden zusammen ausgebaut,
die Elektroinstallationen verlegt. Die Steckdosen da oben hab ich
installiert.
Mit Material, das es so gut wie nicht gab …
… das man sich auf sehr anstrengende Art beschaffen musste. Man musste in
den Elektroläden Berlins gut bekannt sein. Dann wurde man angerufen, und es
wurde einem gesagt, ja wir haben ein paar Rollen Kabel bekommen, die können
Sie kriegen. Unsere Vorstellung war, so die ganze Straße zu sanieren.
Dann kam der 9. November. Wie haben Sie den erlebt?
Ich bin mit Freunden aus dem WBA runtergefahren zur Chausseestraße. Dort
sind wir als eine der Ersten über diesen Grenzübergang, haben ein Bier
getrunken und sind gegen 2 Uhr zurück.
Warum so schnell?
Ich hatte Angst, dass sie die Mauer hinter mir wieder zumachen. Ich wollte
auf jeden Fall zurück nach Hause, in die Oderberger Straße. Ich wollte
nicht im Wedding wohnen.
Warum nicht?
Das hier war meine Heimat, das waren meine Freunde, ich hab hier meine
sozialen Wurzeln. Wenn ich das Ziel gehabt hätte, in den Westen zu gehen,
dann hätte ich das vorher gemacht.
Ist die Oderberger Straße für Sie immer noch Heimat?
Das ist immer noch mein Kiez. Ich bin bis heute Prenzlauer Berger. Es fällt
mir verdammt schwer, im Juni nach Potsdam umzuziehen.
Nach der Wende waren Sie Baustadtrat in Prenzlauer Berg. Der WBA wurde als
Initiative "Wir bleiben alle" wiedergegründet. Trotzdem gilt der Bezirk
heute als Musterbeispiel für Verdrängung und Gentrification. Sind Sie und
die WBA-Initiative gescheitert?
Nein, das würde ich so nicht sehen. Zu meiner Ehrenrettung muss man sagen,
ich war ja nicht 20 Jahre Baustadtrat, sondern die ersten sechs. In dieser
Zeit haben wir soziale Sanierungsziele definiert, Mietobergrenzen
beschlossen, Sanierungsgebiete ausgeweitet, Leerstand und Zweckentfremdung
von Wohnraum bekämpft. Damit und mit der kritischen Bürgerbeteiligung, auch
mit der Tatsache, dass in Prenzlauer Berg sehr viele öffentliche
Fördermittel eingesetzt worden sind, haben wir verschiedene Entwicklungen
abgeschwächt, die sonst mit voller Wucht Einzug gehalten hätten.
Sie haben die Gentrifizierung lediglich verzögern können?
Eine gewisse Verzögerung, aber es gibt immer noch auch genossenschaftliche
Projekte, die von mir unterstützt worden sind. Wir haben die besetzten
Häuser eins nach dem anderen legalisiert. Die sind bis heute ganz wichtige
Projekte innerhalb der Kieze. Man muss auch räumlich differenzieren: Am
Kollwitzplatz hat es ganz sicher Verdrängung und Vertreibung gegeben, in
anderen Gebieten verläuft die Entwicklung eher normal bis behutsam.
Könnten Sie sich mit Ihrer Familie an der Oderberger Straße noch eine
Wohnung leisten?
Hier vielleicht, am Kollwitzplatz nicht mehr, weil es da überhaupt keine
Mietwohnungen mehr gibt, sondern nur noch Eigentumswohnungen.
Es gibt inzwischen wieder linke Gruppen, die mit dem Slogan "WBA - Wir
bleiben alle" gegen Gentrification kämpfen, teils sehr radikal. Wundert Sie
das?
Ich staune eher, wie wenig gegen Projekte wie das Palais Kolle Belle oder
Marthashof protestiert wird. Ich krieg schon das Kotzen, wenn ich die
Werbesprüche sehe. Dass es nicht mal mehr jemanden gibt, der einen
Farbbeutel wirft, das finde ich erstaunlich.
Es werden in letzter Zeit viele Autos angezündet …
Ich krieg auch einen dicken Hals, wenn ich am Arnimplatz die ersten Audi Q7
oder Mercedes R-Klasse stehen sehe, die gleich zwei Parkplätze besetzen.
Aber ob mit dem Anzünden von Autos ein organisierter Prozess zustande
kommt, der sich wirklich mit den Akteuren der Verdrängung auseinandersetzt,
bezweifle ich. Die Autos sind versichert, das führt also eher dazu, dass
der Ausstoß dieser Marken noch künstlich erhöht wird.
Nach 13 Jahren gehen Sie jetzt wieder in die Politik und werden
Beigeordneter für Stadtentwicklung und Bauen in Potsdam. Warum?
Der Job eines Beigeordneten ist weniger politisch, sondern eher eine
Verwaltungs- und Managementaufgabe. In den letzten fünf Jahren habe ich mir
ganz bewusst angeschaut, wie das in der Privatwirtschaft läuft. Aber es ist
sicherlich auch ein Coming-home. Ich kehre zu meinen Wurzeln zurück.
Auch zur Bürgerbeteiligung? Am Potsdamer Griebnitzsee gibt es gerade eine
sehr aktive Bürgerschaft, die in alter subversiver Manier das zuvor
öffentliche Ufer mit Pflanzen und Zäunen für sich gekapert hat.
Das würde ich nicht als Bürgerbeteiligung sehen. Das sind Eigentümer, die
ihre Rechte wahrnehmen, ohne an die soziale Verantwortung des Eigentums,
die auch im Grundgesetz verankert ist, zu denken. Bürgerbeteiligung ist der
Verein "Griebnitzsee für alle", der eine breite Bewegung mobilisieren will,
um diesen Weg offen zu halten.
Welche Erfahrungen von 89 können Sie denn in Potsdam mit einbringen?
Man wird penetrant und beharrlich sein müssen. Man wird auch unorthodox
sein müssen, es wird ja sehr viel im Verwaltungs- und Paragrafendschungel
erstickt. Und ich werde schauen, was sind eigentlich die wichtigen
langfristigen Ziele. Darauf muss man sich konzentrieren.
Was wäre so ein Ziel?
Ich setze mich für eine tolerante Stadt ein, und die muss meiner
Überzeugung nach auch immer eine soziale Stadt sein. Man muss aufpassen,
dass Potsdam nicht dem Kuss des Geldes erliegt und sozial auseinanderfällt.
Die Hälfte der Potsdamer wohnt nicht in irgendwelchen Villen, sondern in
der Platte. Die dürfen nicht abgehängt und vernachlässigt werden, weder
sozial, noch infrastrukturell, noch städtebaulich.
Was wäre aus Ihnen geworden, wenn die Mauer nicht gefallen wäre?
Dann hätten, wenn ich meiner Stasiakte glaube, Ende 1989, Anfang 1990 die
Ansammlungen meiner Verfehlungen dazu geführt, mich nach den Paragraphen
106 und 107 des DDR-Strafgesetzbuches zu verhaften und zu verurteilen. Ich
wär sicherlich im Zuchthaus gelandet, gegen meinen Willen freigekauft
worden und heute in der Bundesrepublik.
Im Westen sind Sie so oder so.
Nein, ich bin nicht im Westen. Die Grenzen verlaufen nicht zwischen Ost und
West, sondern zwischen denjenigen, die verstehen, dass Eigentum auch
Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit ist und denjenigen, die das nicht
begreifen wollen. Da ist meiner Meinung nach der Ansatzpunkt für die
politischen Auseinandersetzungen der nächsten Jahre.
11 May 2009
## AUTOREN
Gereon Asmuth
Grit Weirauch
## TAGS
Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin
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Roman über Gentrification: Als der Kiez kippte
In seinem Roman „Sanierungsgebiete“ beschreibt Enno Stahl den Umschlagpunkt
von Aufwertung und Verdrängung am Beispiel des Prenzlauer Bergs.
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