# taz.de -- Lehrerin Czerny über ihre Arbeit: "Noten behindern das Lernen" | |
> Die bayerische Grundschullehrerin Sabine Czerny hält Noten für ein Übel. | |
> Denn sie verführen Eltern und Lehrer dazu, Druck auszuüben. Ein Gespräch | |
> mit der Frau, die einen Preis für Zivilcourage erhält. | |
Bild: "Jeder Schüler braucht die Überzeugung: "Ich kann das!"", meint Czerny. | |
taz: Frau Czerny, vor knapp einem Jahr haben die bayerischen Schulbehörden | |
Sie strafversetzt - wegen guten Unterrichts und der exzellenten Noten, die | |
Ihre Schüler haben. Was machen Sie heute? | |
Sabine Czerny: Ich arbeite wieder an einer Grundschule. Mit 24 Kindern, die | |
mir anvertraut sind. Das macht mir viel Spaß. Sie sind das Wichtigste. | |
Wie haben die Lehrer Sie aufgenommen? Immerhin lautete der Versetzungsgrund | |
für die Lehrerin Czerny: "Störung des Schulfriedens". | |
Das Kollegium hat mich sehr herzlich empfangen. Ich habe auch einen | |
aufgeschlossenen Schulleiter. Er hat sich angeschaut, wie ich arbeite und | |
was ich anders mache. | |
Was machen Sie anders? | |
Ich mache nicht so viel anders. | |
Sie hatten einen Notendurchschnitt von 1,8 in Ihren Klassen. Manche Eltern | |
sagten: "Wegen Sabine Czerny geht mein Kind wieder gern in die Schule!" | |
Alles, was ich tue, ist, Kindern Sicherheit zu geben. Das ist das | |
Allerwichtigste. Sie trauen sich dann schnell selbst etwas zu, wollen mehr | |
wissen und lernen viel leichter. Erfolgserlebnisse motivieren Kinder - und | |
sie strengen sich weiter an. In der Schule kommen aber bald viele Prüfungen | |
und Tests auf sie zu. Dafür brauchen sie Sicherheit. | |
Frau Czerny, kein Lehrer sagt: "Ich verunsichere die Kinder." | |
Nein, die Lehrer tun das auch nicht. Aber die Bewertungen und Noten, die | |
sie erteilen müssen, schaffen viel Unsicherheit bei den Kindern. Eine | |
schlechte Note trifft ein Kind ins Mark. Es verletzt sein | |
Selbstbewusstsein. Wissen sie, für Kinder ist es nicht so schlimm, wenn sie | |
etwas nicht verstehen. Kinder sind von einer Welt umgeben, die sie noch | |
kaum durchschauen. Aber das schaffen sie Schritt für Schritt, durch Neugier | |
- und Sicherheit. Nur was Kinder gar nicht wollen, ist, etwas falsch zu | |
machen. Das verunsichert sie zutiefst. Das Bewerten und Fehlersuchen, das | |
Bloßstellen und Herabwürdigen macht sie schwach. | |
Das Prinzip ist klar. Wie sieht das im Unterricht aus? | |
Für kleine Kinder muss Schule im Prinzip erst einmal nur schön sein. Ich | |
will mit den Kindern eine Gemeinschaft leben. Ich will genug Zeit haben, um | |
eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Jedes Kind soll seinen Platz bekommen. | |
Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es mit Sechsjährigen zu tun, die | |
teilweise ihren Hosenstall nicht allein aufbekommen. Wenn ein Kind aus | |
welchem Grund auch immer weint, würde ich die Atmosphäre völlig vergiften, | |
wenn ich einfach weiter Unterricht machen würde. Wenn etwas nicht stimmt, | |
muss ich mich darum kümmern. Lernen geht eher nebenbei. | |
Aber Lernen ist doch wichtig. | |
Ja, aber es kommt wie von alleine, wenn die Kinder sicher sind. Jeder | |
Schüler, jeder Mensch braucht die Überzeugung: "Ich kann das!" Also werde | |
ich jedem Kind sein Selbstwertgefühl geben. Und wenn ich weiß, dass ein | |
Kind etwas nicht kann, dann werde ich einen Teufel tun, ihm die Frage | |
danach zu stellen. Dann nehme ich eben ein anderes Kind dran. Kinder lernen | |
durch das Nachahmen und das Beobachten. Wenn ein Kind etwas nicht | |
verstanden hat, hat es das noch nicht oft genug gesehen. Daher mache ich | |
viel vor. | |
Was halten Sie vom individuellen Lernen? Das gilt doch heute als die | |
maßgebende Methode. | |
Ich behaupte, dass ich individuell arbeite. Ich mache viel Stationenlernen | |
und Werkstätten. Dennoch sieht mein Unterricht generell nicht viel anders | |
aus als der an Regelschulen. Ich finde, dass sich das Lernen schrittweise | |
öffnen muss - je älter das Kind wird. In alternativen Schulen, die keine so | |
strenge Leistungsbeurteilung betreiben müssen, ist das einfacher. Aber wenn | |
wir - wie es in Bayern der Fall ist - so früh Leistung bewerten, hat für | |
mich Sicherheit den Vorrang. | |
Soll das heißen, dass Noten in Ihren Augen das zentrale Problem der Schule | |
darstellen? | |
Ja, sie sind ein Übel. Jeder, der sich einmal mit Noten beschäftigt hat, | |
weiß, dass Noten fast nichts über ein Kind aussagen. Sie haben nichts mit | |
seinen Kompetenzen zu tun, sie stehen mit seinen Leistungen in keinem | |
Zusammenhang. Sie sagen lediglich etwas über ein bestimmtes Kriterium, das | |
wir relativ willkürlich wählen. Im Grunde behindern Noten das Lernen. | |
Weil sie langsamere Kinder entmutigen? | |
Ja, das ist das eine Problem. Noten stellen für bestimmte Kinder eine | |
unüberwindliche Hürde dar. Jedes Kind soll zum gleichen Zeitpunkt die | |
gleiche Leistung zeigen - unabhängig von seinem Entwicklungsstand. Das | |
bedeutet, wir trainieren vielen Kindern an: Ich kann nichts! Ich bin dumm! | |
Das ist aber das Schlimmste, was wir beim Lernen tun können. Es ist so | |
schwer, ein Kind wieder aufzurichten, das das Zutrauen zu sich selbst | |
verloren hat. Der Unterschied zwischen einer Eins und einer Vier sind oft | |
nur wenige Minuten. Wir geben Kindern also schlechte Noten - obwohl sie es | |
könnten. Das System zwingt uns, Schüler zu demotivieren. | |
Immerhin profitieren die Schüler mit guten Noten. | |
Finden Sie? | |
Sie sind erfolgreich. | |
Weil sie ein bestimmtes Kriterium erfüllen, ja. Aber was hat dieses Lernen | |
denn mit ihnen selbst zu tun? Noten sind selbst für 1er- und 2er-Schüler | |
nicht gut. Sie zeigen doch nicht, was diese Schüler wirklich können. Die | |
werden vielmehr dazu erzogen, Kriterien zu erfüllen, die andere setzen - | |
aber eben nicht, sich selber zu entwickeln. | |
Sie sind eine Utopistin! | |
Ist es etwa eine Utopie, jedem etwas zuzutrauen? Jedes Kind hat das volle | |
Potenzial, wir sollten ihm die Chance geben, es auszuschöpfen. Das sollte | |
nicht unsere Utopie, sondern tägliche Praxis unserer Schule sein. Ich hatte | |
einen Jungen, dem man seit der Geburt weismachte: Der Merlin ist zu spät | |
dran, der kann es nicht! Ich finde das schlimm. Dieser Junge machte sich | |
wunderbar, er lernte gut - nur eben ein bisschen langsamer als die anderen. | |
Er ist ein wunderbares Kind - er braucht halt länger. Aber unser | |
Schulsystem wird ihn in die Hauptschule stecken. Irgendwann schrieb er | |
seiner Mutter: "Liebe Mama, ich bin halt so." Da war er sieben Jahre alt | |
und besuchte die erste Klasse. | |
Warum ist es Ihnen so wichtig, dass sich das schnell ändert? | |
Weil ich sehe, dass so viele Kinder darunter leiden. Dieses Schulsystem | |
zerstört aber auch die Familien. Wie viel Streit, wie viel Verzweiflung | |
alleine wegen Schule! Welchem Lehrer geht es denn heute wirklich gut? Das | |
bedeutet, wir haben ein Schulsystem, in dem sich niemand richtig wohl | |
fühlt. Was soll das? Haben wir nicht genug Probleme auf der Welt, dass wir | |
uns noch neue schaffen müssten? | |
Was würden Sie tun, um es anders zu machen? Sie haben drei Wünsche frei. | |
Ich würde erstens das Beurteilen abschaffen. Was nicht heißt, das es keine | |
Rückmeldungen für die Kinder geben soll. Aber Noten sind Betrug, sie nützen | |
keinem. Sie sind nur für eines wichtig - zur Auslese. | |
Und zweitens? | |
Ich würde die Kinder gemeinsam lernen lassen. Weil Vielfalt etwas | |
Wertvolles ist und ein Gewinn für alle. Ich würde bis zur zehnten Klasse | |
überhaupt nicht sortieren. Danach kann es eine freiwillige gymnasiale | |
Oberstufe geben. | |
Sind die Talente für so etwas nicht zu unterschiedlich? | |
Nein, ich glaube das Problem an der Schule ist nicht die Heterogenität der | |
Kinder, sondern die Homogenität der Leistungsbeurteilung. Alle Kinder | |
müssen über dieselben Hürden springen, das wird keinem gerecht. In Wahrheit | |
sind die Kinder nicht so weit auseinander, wir erzeugen diese Differenzen | |
künstlich. | |
Und das Dritte? | |
Die zwei Dinge reichen. | |
Haben Sie keinen Tipp für die Eltern? Sie sind es doch, die am meisten auf | |
Noten drängen. | |
Das ist doch kein Wunder. Seit 150 Jahren kennen Eltern nur dieses eine | |
Schulsystem mit Noten. Nun steigt der Druck in der Pisa-Krise. Also | |
benutzen Eltern die Noten, um herauszufinden, was zu retten ist für ihr | |
Kind. Und merken gar nicht, dass sie den Druck nur weiter erhöhen. | |
Wieso passiert so etwas? | |
Eltern glauben, dass es für ihr Kind immer nur gute Noten geben wird. Sie | |
klammern sich an Noten - und merken dann plötzlich, dass auch ihr Kind zu | |
den Verlierern gehört. | |
Es ist ein Teufelskreis. | |
Bei Eltern herrscht die Denke vor, dass sie, wenn sie nur früh genug | |
anfangen, gute Noten erzwingen können. Das Problem daran ist, dass Kinder | |
unter Druck nicht lernen können und auch nicht wollen. Es macht ihnen | |
keinen Spaß, stundenlang mit den Eltern zu pauken - nur für gute Noten. Das | |
ist ein völlig falscher Lernbegriff. | |
Und wie geht es Ihnen, Frau Czerny? | |
Im Prinzip geht es mir gut. Ich habe auch viel Arbeit. Aber es schmerzt, | |
für gutes Lernen nicht belohnt, sondern an den Pranger gestellt worden zu | |
sein. Meine Kinder waren glücklich und sie waren gut. | |
27 May 2009 | |
## AUTOREN | |
Christian Füller | |
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