# taz.de -- Wenn die Kids zu gut sind: Bitte nicht für Schüler engagieren | |
> Eine bayerische Lehrerin fördert ihre Kinder so gut, dass sie exzellente | |
> Noten haben. Grund genug für Schulämter und -leiter, zu fragen, was da | |
> falsch läuft. | |
Bild: Wenn gutes Abschneiden der Schüler als Problem dargestellt wird, liegt d… | |
MÜNCHEN taz Kurz vor Ende des bayerischen Schuljahres fasste Sabine Czerny | |
einen Entschluss. Die Lehrerin entschloss sich, ihren Lehrerkollegen zu | |
erklären, dass nicht sie es ist, die falsch tickt, wenn 91 Prozent der | |
Kinder ihrer Klasse sich für eine weiterführende Schule qualifizieren. | |
Sondern dass es das Schulsystem ist, das nicht ganz richtig sein kann, wenn | |
es ein derart gutes Abschneiden als Problem darstellt. | |
Also verfasste die Lehrerin Sabine Czerny einen offenen Brief ans | |
Kollegium. Darin legte sie dar, warum sie alle darunter zu leiden hätten, | |
wenn das System mittelmäßige Notenschnitte erzwinge. Nur zu dem Zweck, | |
damit Realschule und Gymnasium, aber auch die ungeliebte Hauptschule mit | |
ausreichend Kindern im Alter von zehn Jahren bestückt werden können. | |
Die Geschichte von Sabine Czerny ist nicht nur deswegen ungewöhnlich, weil | |
sie per offenem Brief mit ihren Kollegen in so wichtigen Fragen | |
kommuniziert. Die Geschichte der 36-jährigen Lehrerin ist es vor allem | |
deshalb, weil sie schief dafür angeschaut wird, dass sie ihren Job | |
offensichtlich gut macht. Seit einem halben Jahr ist die Pädagogin | |
Anfeindungen ihrer Rektorin ausgesetzt, weil 25 SchülerInnen ihrer vierten | |
Klasse in einer klassenübergreifenden Vergleichsarbeit in Mathematik einen | |
Schnitt von 1,8 erreicht hatten. In einer Heimat- und Sachkunde-Probe | |
schafften sie kurz darauf sogar einen Schnitt von 1,6. Beinahe erleichtert | |
notierte Czerny nach einer Prüfung in Deutsch eine 2 vor dem Komma - und | |
ertappte sich dabei, zu bedauern, dass einer ihrer wenigen Fünferschüler | |
wegen Umzugs die Klasse verlassen würde. | |
Aus dem Rektorat waren wegen der ungewöhnlich guten Notenschnitte Vorwürfe | |
laut geworden. Entweder sage sie Ergebnisse vor - oder sie korrigiere | |
falsch. Die Leiterin des zuständigen Schulamtes dementiert auf Nachfrage | |
vehement, dass man von Amts wegen Notenschnitte vorgebe. Aber sie vergisst | |
nicht, gleich im nächsten Satz zu ergänzen, dass eine Schulleiterin die | |
"verdammte Pflicht" habe, einem so ungewöhnlich guten Schnitt | |
nachzuforschen. Es gebe halt viele Möglichkeiten zu beeinflussen, direkt | |
oder indirekt. | |
Solche mehr oder weniger offenen Unterstellungen kränkten Sabine Czerny | |
zutiefst. Die Grundschullehrerin hatte innerhalb der vergangenen zehn Jahre | |
an mehreren Schulen unterrichtet, überall mit großem Erfolg. Dafür hat sie | |
hart gearbeitet. Hat neben dem Schulalltag jahrelange Fortbildungen in | |
unterschiedlichen pädagogischen, medizinischen und psychologischen | |
Richtungen absolviert. Sie wollte besser verstehen, wie man Kinder fürs | |
Lernen begeistern kann. | |
Sabine Czerny weiß zahlreiche Eltern hinter sich, die sie als pädagogisch | |
und fachlich herausragend loben. Einmal sogar fuhr ein Vater ins Schulamt, | |
um das Wort für die von den Kindern heiß geliebte Pädagogin zu ergreifen. | |
"Mit welchem Recht kommen Sie überhaupt hierher?", herrschte man ihn dort | |
an. Als sie selbst versuchte, ihre Pädagogik zu erklären, wies man sie an, | |
sie solle nicht so "anmaßend" auftreten. | |
Czernys Erfolge machen offenbar nervös. Schon an der Vorgängerschule hatten | |
die auffälligen Lernzuwächse mit einer zweiten Klasse zur Konfrontation mit | |
dem zuständigen Schulrat geführt. "Sie haben sich an das Niveau der | |
Parallelkollegen anzupassen!", wies der Mann seine Lehrerin an. Für die | |
brach in diesem Moment eine Welt zusammen: Sich anzupassen - das hätte ja | |
bedeutet, absichtlich schlechtere Resultate zu produzieren, nicht bessere. | |
Den Vorgesetzten aus dem Schulamt störte, dass sich die Eltern der | |
Parallelklassen beschwert hatten. Was lag da für den braven, bayerischen | |
Schulbeamten näher, als mal eben für Ruhe zu sorgen? Czerny verwies einmal | |
mehr auf ihre innovativen Methoden, ihre Hinwendung zu jedem einzelnen | |
Kind, doch das nützte ihr nichts. Im Gegenteil. Fortan eilte ihr | |
zuverlässig der Ruf voraus, aufsässig zu sein. | |
So sah sie sich zum Ende dieses Schuljahres gezwungen, einmal darzustellen, | |
wofür sich bislang kaum jemand wirklich interessiert hatte: Warum ihre | |
Kinder so gut gelernt hatten - und wie kontraproduktiv die gängige | |
Benotungspraxis sei, die schon bei der Vermittlung einfacher | |
Grundlagenstoffe notwendigerweise Verlierer produziere. Es sei widersinnig, | |
schrieb sie, wenn es "Sitzplätze gibt, die eine bestimmte Zahl tragen". | |
Nämlich maximal drei Stühle mit der Ziffer 1, höchstens sechs Stühle mit | |
der Ziffer 2, jeweils bis zu neun mit den Ziffern 3 und 4 und auch bis zu | |
fünf Stühle mit den Ziffern 5 und 6. | |
Denn sie, die LehrerInnen, seien dadurch gezwungen, die Kinder auf diese | |
Stühle zu platzieren. So aber breche man das Engagement jedes schwächeren | |
Schülers, der könne lernen wie verrückt und bekomme doch wieder nur eine | |
schlechte Note - weil eben der Schnitt stimmen müsse. "Ein Fünferschüler | |
bleibt ein Fünferschüler, einfach weil es Fünferschüler geben muss." | |
In ihrem Plädoyer für eine andere Lern- und Bewertungskultur appellierte | |
sie: "Bitte, machen wir uns bewusst, dass es hier keinen objektiven Maßstab | |
gibt, der die tatsächliche Leistung misst! Wir erstellen Proben mehr oder | |
weniger bewusst von vornherein unter dem Gesichtspunkt, dass der Schnitt | |
stimmen soll, bzw. passen den Notenschlüssel im Nachhinein entsprechend an, | |
das heißt, wir produzieren schlechte Kinder." | |
Kinder im Grundschulalter aber identifizierten sich mit den Noten, viele, | |
so schrieb sie, stellten irgendwann ihre Bemühungen ein, resignierten oder | |
würden verhaltensauffällig. Das gehe vor allem Kindern aus sozial schwachen | |
oder problematischen Familien so. Die bräuchten eher ihre Hilfe als | |
Lehrerin und Aussicht auf sichtbare Erfolge statt ständiger | |
demoralisierender Rückmeldungen wie von einer Richterin. Auch das | |
Vertrauensverhältnis zu den Eltern leide, wenn man denen einerseits | |
erzähle, wie wichtig Förderung sei, andererseits aber genötigt werde, | |
schlechte Noten zu vergeben. | |
Was Sabine Czerny da beschrieb, hat viel mit dem Namen Gauß zu tun - und | |
mit einem System, das die nach dem Mathematiker benannte | |
,,Normalverteilung" zur Norm erhebt. Gauß hatte beobachtet, dass in der | |
Natur Extreme selten sind, die breite Mitte dafür umso öfter auftritt. Er | |
hätte seine Beobachtung allerdings nicht unbedingt in einer Lerngruppe | |
machen können. | |
Wie falsch es ist, Notengebung am Maßstab eines vermeintlich | |
naturgesetzhaft sich ergebenden Mittelwerts auszurichten, dämmerte | |
irgendwann auch der Kultusministerkonferenz (KMK). Die schrieb | |
dementsprechend 1968 eine sogenannte kriterienbezogene Benotung vor statt | |
der bis dahin gültigen Orientierung am Leistungsdurchschnitt der Klasse. | |
Benotet werden darf in allen deutschen Bundesländern seitdem nur, in | |
welchem Maße ein Schüler die ,,Anforderungen" erfülle. In jüngster Zeit | |
propagiert man sogenannte kriteriale Leistungsmessung, der | |
Bewertungsmaßstab bleibt jedoch ebenso unklar. Die individuelle | |
Leistungsnorm, die den persönlichen Lernfortschritt zugrunde legt, wird gar | |
nicht erst erwähnt. | |
Wer da dächte, dass der KMK-Beschluss von 68 immerhin ein gewisser | |
Fortschritt sei, dem hält der Erziehungswissenschaftler Hans Brügelmann von | |
der Universität Siegen entgegen: "Die soziale Norm ist nicht zulässig - sie | |
wird aber um der Selektion willen erzwungen." Horst Bartnitzky, | |
Vorsitzender des Grundschulverbandes, hat seinerseits beobachtet, dass | |
Lehrer zwar selten so massiv attackiert werden wie die Pädagogin Sabine | |
Czerny, erklärt dies aber auch mit vorauseilendem Gehorsam. "Die Lehrer | |
spüren den Druck", sagt der Diplompädagoge und einstige Grundschulrektor, | |
"und handeln ihm gemäß." | |
Bartnitzky hat Brügelmann und einige weitere Forscher eine Expertise | |
erarbeiten lassen, die unter dem Titel "Sind Noten nützlich - und nötig?" | |
erschienen ist ([1][www.Grundschulverband.de]). Darin weisen die | |
Wissenschaftler nach, warum die scheinbar präzisen Schulnoten keineswegs | |
objektiv seien. Sie zitieren dazu unter anderem das Experiment des | |
österreichischen Pädagogen Rudolf Weiss, der 153 Lehrer eine | |
Mathematikaufgabe beurteilen ließ. 41 Prozent von ihnen gaben eine Zwei, 42 | |
Prozent eine Drei, die Eins wurde von sieben Prozent vergeben, die Vier von | |
neun Prozent und ein Prozent der Probanden sahen in der Arbeit sogar eine | |
Fünf. | |
Es hänge eben stets davon ab, welchen Maßstab man anlege, um eine | |
Anforderung etwa als ausreichend zu bewerten, sagt der Grundschulforscher | |
Brügelmann. Dieser Maßstab aber sei nicht klar definiert. Nach den Regeln | |
der Statistik sei es überdies eigentlich nicht zulässig, aus Noten, die nur | |
Rangfolgen angäben, Mittelwerte zu errechnen. Und doch werden etwa in | |
Bayern und Baden-Württemberg in den Übertrittszeugnissen Gesamtnoten | |
gemittelt, bis aufs Hundertstel genau. | |
Auch Sabine Czerny fühlt sich inzwischen genötigt, so zu unterrichten und | |
Testaufgaben derart zu konstruieren, dass mit Sicherheit ausreichend | |
Vierer, Fünfer und Sechser herauskommen und ihre Rektorin sie nicht | |
weiterhin behandelt wie einen störrischen Esel. Ihr ist schmerzlich | |
bewusst, dass sie Versager produziert, wenn sie sich an die Anweisung ihrer | |
Vorgesetzten hält. Umso wütender macht sie der Satz, den sie schon so oft | |
in Kollegien gehört hat: "Es gibt halt nun mal dumme Kinder." Wie leicht | |
diese Grundannahme zu beweisen ist, erlebte sie bereits in ihrer Zeit als | |
mobil eingesetzte Lehrerin in einer klassenübergreifenden Probearbeit zum | |
Thema "Der natürliche Kreislauf des Wassers". Da wurde zu ihrer | |
Überraschung der Wolkenname "Cirrocumulus" abgefragt. Sabine Czerny | |
protestierte: Das habe man doch im Unterricht gar nicht vermittelt, da | |
müssten die Kinder ja mehr wissen, als sie wissen können. Die KollegInnen | |
erwiderten, man brauche doch Fragen, die kaum einer beantworten kann, und | |
beruhigten sie: Der Begriff sei ja in einem Film gefallen, den man | |
gemeinsam angeschaut habe. Da sei man ,,rechtlich abgesichert". | |
Der Brief, in dem Sabine Czerny solche Zusammenhänge erklärte, hatte | |
übrigens keine Konsequenz: Vor der Konferenz des kommenden Tages hatte sich | |
die Rektorin krank gemeldet, und man hatte andere Dinge zu besprechen. So | |
behielt Sabine Czerny das Papier bei sich. Und geht nun am 1. August mit | |
dem deutlichen Gefühl in die sechswöchige Ferienzeit, dass ihre fachlichen | |
Fähigkeiten und ihr Engagement nicht wirklich erwünscht sind. | |
30 Jul 2008 | |
## LINKS | |
[1] http://www.Grundschulverband.de | |
## AUTOREN | |
Christian Bleher | |
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