# taz.de -- Debatte Krisenwahrnehmung: Zwischen Lethargie und Staunen | |
> Das Warten darauf, dass sich die Bilder von Krisen in der Geschichte | |
> wiederholen, führt in die Irre. Geschichte wiederholt sich nicht, sie ist | |
> offen. | |
Bild: Warum bist du in Berlin gelandet? Darauf weiß der Erzähler keine Antwor… | |
Von außen lässt sich die Krise nicht greifen, noch immer nicht. Oder ist | |
sie schon wieder vorbei, bevor sie richtig angefangen hat? | |
So steht dieser Tage im Guardian, dass die Hypothekennachfrage in | |
Großbritannien im letzten Jahr zwar um 60 Prozent gesunken sei, Vertreter | |
der Immobilienbranche aber bereits von einer leichten Erholung sprechen. | |
Gleiches lässt sich überall beobachten, ob man nun in Deutschland in die | |
Zeitungen schaut oder in der New York Times liest, dass sich trotz der | |
absehbaren Pleite von General Motors am Horizont des Desasters | |
Hoffnungsstreifen einer wirtschaftlichen Erholung abzeichnen. | |
Zweckoptimismus von Interessenvertretern, die um die Reste ihrer Reputation | |
fürchten? Beschwichtigungsversuche von Politikern, die glauben, ein | |
schwerwiegendes Problem kleinzureden würde es zum Verschwinden bringen? | |
Oder stimmt etwas an der Haltung nicht, die ich als bisher Unbeteiligter zu | |
den Schreckensmeldungen einnehme? | |
Zum Beispiel damit, Reaktionen zu erwarten, die unter den gegebenen | |
Umständen nicht mehr ohne Weiteres zu erwarten sind oder nur noch als | |
Travestie altbekannter, in den westlichen Industrienationen vermeintlich | |
überflüssig oder inadäquat gewordener Protestformen. Wie im Fall | |
Schaeffler. Käme es angesichts der katastrophalen Geschäftspraktiken der | |
Firmenleitung hier zu einer Betriebsbesetzung durch die Belegschaft, würde | |
mich das nicht wundern. Viel eher wundert mich, dass eine solche Aktion | |
offenbar noch nicht einmal entfernt in Betracht gezogen wird. Sondern dass | |
man wie anderswo, wie bei Opel, darauf setzt, durch Staatsbürgschaften vor | |
dem Schlimmsten bewahrt zu bleiben. Sofern man sich halbwegs ruhig verhält | |
und mit dem gerechtfertigten Widerstand gegen eine gescheiterte | |
Unternehmenspolitik die symbolische Ebene nicht verlässt. Oder ist das bloß | |
eine Frage der Zeit, sind das alles Unterstellungen eines prekären | |
Mittelschichtlers, dessen Einfühlungsvermögen durch den überreichlichen | |
Konsum der falschen Medien getrübt ist? | |
Mir jedenfalls scheint es so, als würden viele Mitbürger (und nicht nur aus | |
der eigenen Klasse) die Zahlen zu Export- und Absatzeinbrüchen, zu | |
prognostizierter Arbeitslosigkeit und auf längere Zeit stagnierender | |
Wirtschaft nicht wirklich ernst nehmen, als handele es sich um abstrakte | |
Drohungen, die erst einmal Realität werden müssen; und dass, solange sie | |
nicht ganz Realität sind, alles als unangemessener Alarmismus zu bewerten | |
ist. Selbst wenn man auf die Lage in Ländern wie Irland und Island | |
verweist, wo eine bunte Koalition von Kreditopfern nach einer | |
Dauerbelagerung des Parlaments Neuwahlen erzwungen hat, selbst dann gilt | |
dieser Hinweis als unangemessener Alarmismus. | |
Wegen ein paar besorgniserregender ökonomischer Basisdaten nicht in | |
Panikstimmung zu verfallen mag von staatsbürgerlicher Reife oder von großer | |
Gelassenheit zeugen, man könnte genauso gut aber auch von Lethargie | |
sprechen. Vielleicht bin ich der Einzige, dem die Reden der DGB-Spitze am | |
1. Mai völlig wirklichkeitsfern, wenn nicht somnambul vorkamen. Als | |
Vertreter irgendeines Arbeitgeberverbandes würde ich mir jetzt jedenfalls | |
keine Sorgen mehr machen, von dieser Seite mit Ansprüchen belästigt zu | |
werden, die man nicht genauso gut selber formulieren könnte. | |
Woran liegt das? An der von praktisch allen Akteuren unterstellten | |
Alternativlosigkeit einer Wirtschaftsordnung mit quasi unveränderlichen | |
Eigentumsverhältnissen und regelmäßig wiederkehrenden, mal mehr, mal | |
weniger großen Zumutungen für die da unten und in der Mitte? Daran, dass | |
wir es plötzlich mit Vorgängen zu tun haben, für es noch keinen rechten | |
Vergleich gibt? Oder fehlen uns einfach nur die Bilder, die der Krise | |
emblematischen Ausdruck verleihen würden? Wie die aus den Dreißigerjahren, | |
von Schlangen von Erwerbslosen, die Schilder um den Hals tragen, auf denen | |
"Nehme jede Arbeit an" steht. Familien in Suppenküchen. Bilder von Streiks | |
und Massenaufmärschen, wie wir sie als Illustrationsmaterial aus | |
Schulgeschichtsbüchern kennen. | |
Möglicherweise verbirgt sich an dieser Stelle mein Problem. Denn dass die | |
Wahrnehmung der politischen Gegenwart sich an Vorlagen aus der | |
Vergangenheit orientiert, ist zwar verständlich, führt aber oft in die | |
Irre. Führt dazu, auf Muster zurückzugreifen, die eine Theorie bestätigen | |
oder entkräften sollen, statt sich der Offenheit eines Prozesses | |
auszusetzen. So legitim es ist, Parallelen zu suchen und Gesetzmäßigkeiten | |
nachzuspüren, so kontraproduktiv in jeder Beziehung kann es sein, genau | |
darauf zu warten, auf eine Art von Wiedererkennbarkeit, die bestätigen | |
würde, was man sowieso schon gewusst oder geahnt hat. An Kausalitäten zu | |
glauben, die Ereignisse gleichsam erzwingen müssten, um sich dann | |
ernüchtert oder desillusioniert zu zeigen, wenn sie nicht eintreten. | |
Das sollte keinesfalls mit einem Plädoyer für Passivität verwechselt | |
werden. Also dafür, den Begriff der Offenheit so zu verstehen, dass man | |
sich zu gedulden hätte, welche Wendung die Dinge von allein nehmen. Oder es | |
dem DGB-Vorsitzenden durchgehen zu lassen, bei jeder sich bietenden | |
Gelegenheit die weltwirtschaftlichen Verwerfungen mit dem Ressentiment von | |
der Gier der Manager erklären zu wollen. Offenheit, und das ist durchaus an | |
mich selbst gerichtet, müsste vielmehr bedeuten, dem Hang zur Prophetie und | |
zu Determinismen nicht nachzugeben, ohne sich in den Strudeln einer | |
Position zu verlieren, deren Unvoreingenommenheit nur eine behauptete sein | |
kann. Sich nichts zu erhoffen und nichts zu beschwören ist vielleicht in | |
der momentanen Situation nicht das schlechteste Programm. Woran man sich im | |
Rückblick auf diese Zeit erinnern wird, hängt wie stets von der Praxis ab, | |
und die darf nicht nach halb verblichenen Karten aus anderen Epochen | |
reinszeniert werden. Wenn die Gefahr im Augenblick auch nicht groß ist, den | |
Mummenschanz der Siebzigerjahre noch einmal zu erleben, wäre das etwas, was | |
ich mir dringend wünschen würde. Die Flucht nach vorn anzutreten heißt eben | |
nicht, die Geschichte vergessen oder keine Lehren aus ihr gezogen zu haben. | |
27 May 2009 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Peltzer | |
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Literatur | |
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