# taz.de -- Debatte China und Europa: Freunde, nicht diese Töne | |
> Die Geschichte des modernen Chinas ist eine Geschichte der | |
> Verwestlichung. Dennoch müssen sich Chinesen in Europa Bezeichnungen wie | |
> "gelbe Spione" gefallen lassen. | |
Bild: Er? Schlaflos in Seattle? Nein | |
Es ist für mich keine leichte Aufgabe, über das Europabild der Chinesen zu | |
sprechen. Denn wie wäre es, wenn das Europabild der Chinesen gar nicht | |
exisitierte, wenn es in Wirklichkeit nur Europabilder gäbe? | |
Wir Chinesen haben ein grosses Interesse für Europa und wissen im Schnitt | |
mehr über Europa als Europäer über China. Kein Wunder. Zunächst leben wir | |
immer noch in einer eurozentrischen Welt - Japan und Amerika sind nichts | |
als Emanationen der europäischen Kultur. Zum anderen sind es die Europäer, | |
die seit Mitte des 19. Jahrhunderts das Schicksal der Chinesen immer wieder | |
mitbestimmt haben. Zuerst haben sie mittels Kugeln und Kanonen das Reich | |
der Mitte zur Öffnung gegenüber dem Westen gezwungen und dadurch in einen | |
halbkolonialen Zustand gestürzt; dann haben sie nicht nur als unsere | |
Maschinenlieferanten, sondern auch als unsere geistigen Lehrer und Führer | |
fungiert. Marx und Engels haben sogar weltverändernde Einflüsse auf unser | |
Land genommen. Die Geschichte des modernen Chinas ist in hohem Grade eine | |
Geschichte der Verwestlichung bzw. Europäisierung. | |
Die Europa-Orientierung der Chinesen, die im Zeichen der nationalen | |
Erniedrigung durch die europäischen Mächte und des Willens zum nationalen | |
Wiederaufstieg beginnt, ist gekennzeichnet durch Pragmatismus und | |
Selektivität. Zwar ist es uns bekannt, dass Europa eine Ansammlung von sehr | |
unterschiedlichen Einzelstaaten ist und das europäische Ideengut | |
Heterogenes enthält; doch sind es stets Deutschland, England, Frankreich, | |
Italien und Russland (dass nicht jeder Europäer den Russen als Volleuropäer | |
sieht, war und ist in China unbekannt), die uns beschäftigen, und dem | |
geistigen Arsenal Europas entnehmen wir lauter Dinge, die jener von vielen | |
Europäern als naiv bis problematisch empfundenen Traditionslinie der | |
europäischen Aufklärung zugeordnet werden wie Religionskritik, | |
Fortschritts- und Wissenschaftsoptismismus. So wird in der | |
institutionalisierten Rezeption der europäischen Kultur das Mittelalter | |
verworfen wegen seiner Dunkelheit und die Religion wegen ihrer Verführung | |
zum geistigen Opium; gelobt werden hingegen die Renaissance und die | |
Aufklärung. | |
Hauptsache: In der Schule lernt man die Geschichte Europas. Wer eine | |
richtige Schule besucht hat, wird schon ein paar europäische Namen im Kopf | |
behalten: Sokrates und Plato, Kolumbus und Kopernikus, Dante und Leonardo, | |
Luther und Müntzer, Cromwell und Napoleon, Goethe und Shakespeare, Bismarck | |
und Hitler usw. Der Personenkult mit Mister Science führt dazu, dass viele | |
Schulkinder die Anekdoten von den großen Naturwissenschaftlern wie Galileo, | |
G. Bruno, Newton, Darwin und Einstein kennen. Da Marx und Engels zu den | |
geistigen Stützpfeilern der Volksrepublik China gehören, erfreut sich auch | |
das, was die beiden inspiriert hat oder was den beiden gefällt, gewisser | |
Popularität: Von den griechischen Mythen über die Kultur der Renaissance | |
bis zur deutschen klassischen Philosophie. | |
Im Zeitalter der Globalsierung hat das Europabild der Chinesen natürlich | |
eine Bereicherung und Differenzierung erfahren; es bleibt aber positiv. | |
Einfache Leute lassen sich von den Fernsehbildern und den Verbrauchartikeln | |
aus Europa beeindrucken, die neu entstandene middle class ist sowieso | |
europa- und amerikaorientiert, und die Intellektuellen sind sich dessen | |
bewußt, dass die moderne Gesellschaft und Kultur ihren Ursprung in Europa | |
hat. Europa bleibt ein Weltteil, an den wir mit Respekt und mit Sehnsucht | |
denken. Was uns bei unserer Europaverehrung einzig irritiert, sind die | |
Chinakritiken aus Europa, die sich in den letzten Jahren merkwürdigerweise | |
vermehrt und verschärft haben, und bei denen wir manchmal das europäische | |
Niveau vermissen. | |
China hat viele Menschen und viel Raum, es hat in den letzten drei | |
Jahrzehnten Veränderungen erlebt, die in Europa im Laufe von Jahrhunderten | |
vollzogen wurden. Die Komplexität der vielen Probleme, mit denen das | |
gegenwärtige China konfrontiert ist, bereitet uns viel Kopfzerbrechen. | |
Wieviel Geduld müssen wir haben, um Leuten zuzuhören, die China nur vom | |
Hörensagen kennen, die trotzdem im Lehrmeisterton zu uns sprechen? Wenn ein | |
Europäer in einer China-Frage wirklich besser Bescheid weiß als wir, dann | |
könnte er seine Meinung so formulieren, dass man Lust bekommt, ihm Gehör zu | |
schenken. Zu vermeiden sind politisierte und ideologisierte Vokabeln, | |
klischeehafte Phrasen, Schwarz-weiß-Malerei und das Denken des Kalten | |
Krieges. So etwas erinnern uns an Zeiten, die wir Gott sei dank bereits | |
hinter uns haben. Spricht man über Chinesen, sollte man auch das | |
aufklärerische Gebot der Gleichheit und der Hochachtung vor der | |
Menschenwürde befolgen - über die Brüderlichkeit mit den heutigen Europäern | |
machen wir uns gar keine Illusionen. | |
Es ist nicht zu fassen, wie man sich im heutigen Europa erkühnen kann, | |
Chinesen als "gelbe Spione" und China als "People's Republic of cheats" zu | |
bezeichnen und darüber hinaus laut zu fragen: Warum trinken die Chinesen | |
uns die Milch weg? O Freunde. Nicht diese Töne! Ist man ein konsequenter | |
Demokrat, dann sollte man bei den China-Fragen auch am Prinzip der großen | |
Zahl festhalten. Es liegt doch in der Natur der Dinge, wenn 1,3 Milliarden | |
Menschen manchmal mehr schaffen als 13 Millionen Menschen. Will man fair | |
play spieln, dann sollte man sich enthalten, nicht vom demokratischen, | |
sondern nur vom demographischen Sieg zu sprechen, wenn ein Land, in dem 1,3 | |
Milliarden Menschen leben, bei einer Internet-Umfrage mehr Stimmen | |
abgegeben haben. Wenn man derartige demographische Siege unbedingt | |
vermeiden wollte, dann könnte man ruhig vor der Abstimmung erklären: | |
chinesenfrei! | |
5 Jun 2009 | |
## AUTOREN | |
Huang Liaoyu | |
## TAGS | |
China | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Filmvorlieben von Chinas Staatschef: House of Xi Jinping | |
Chinas Staats- und Parteichef outet sich als Kenner US-amerikanischer | |
Populärkultur. Er widerspricht damit der politischen Linie seines Landes. |