# taz.de -- Die Mauer bebt nach: "Das ist deutsche Geschichte!" | |
> Mit dem Rad auf dem Todesstreifen. Erinnerungen, Begegnungen und Events - | |
> vor 20 Jahren fiel der "antifaschistische Schutzwall" | |
Bild: Radfahrer auf der Glienicker Brücke, der einstigen Grenzbrücke zwischen… | |
"Es war zwischen 23.15 und 23.30 Uhr. Da ging die Schranke hoch. 5.000 | |
Leute stürmten los, ich natürlich mit." Zeitzeuge Andreas Falge, 52, | |
erinnert sich noch an jede Einzelheit jener schneidend kalten Nacht des 9. | |
November 1989, als die Mauer fiel. An einem sonnigen Morgen im Mai stehen | |
wir mit unseren Leihrädern am ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße, | |
der heute die Bezirke Wedding und Pankow verbindet. Falge zeigt uns seinen | |
DDR-Ausweis, den er in einer Ringmappe aufbewahrt. "Der wurde damals von | |
den Grenzern mitten übers Passbild gestempelt." Wir lesen "Ungültig"! Damit | |
wurde Falge aus der DDR faktisch ausgebürgert. Als er in jener Nacht am | |
Ende der Bösebrücke einen Polizisten sieht, weiß er: Ich bin im Wedding, im | |
Westen! Wahnsinn! Heute arbeitet Falge, zur Wendezeit Kinotechniker, als | |
Stadtführer für den Veranstalter "Berlin on Bike". | |
Während der "Mauertour" auf dem ehemaligen Todesstreifen erzählt er mit | |
viel Lokalkolorit "Geschichten von früher". Von seiner Stasiakte, in der er | |
als "renitent, aber ungefährlich" eingestuft wurde; von Stasi-Mannen, die | |
observierten, wenn er Brigitte, seine Exfreundin, die im Mauerschatten | |
wohnte, besuchte; vom Prenzlauer Berg mit der Gethsemane- und der | |
Zionskirche, zur Vorwendezeit ein Hort der oppositionellen Umwelt- und | |
Bürgerrechtsbewegung, heute Schickimickiviertel der Bionade-Bohème. "In | |
diesem Bezirk leben nur noch 19 Prozent der Bevölkerung von vor 1989", sagt | |
der Stadtführer. | |
"Wo stand eigentlich die Mauer?", fragen heutzutage nicht nur | |
Berlintouristen. Denn von dem einst 155 Kilometern langen | |
"antifaschistischen Schutzwall" (DDR-Jargon) um West-Berlin, davon 43,1 | |
Kilometer zwischen Ost- und West-Berlin, ist nicht mehr viel zu sehen. Ein | |
paar Narben sind geblieben: die denkmalgeschützte East-Side-Gallery | |
zwischen Kreuzberg und Friedrichshain, mit 1,3 Kilometern das längste | |
zusammenhängende Mauerrelikt; das 200 Meter lange, von "Mauerspechten" | |
ramponierte Reststück an der Niederkirchnerstraße zwischen Berliner | |
Abgeordnetenhaus und dem Ausstellungsgelände "Topographie des Terrors"; das | |
Mauerareal in der Bernauer Straße, der einzige Abschnitt in Berlin, wo die | |
komplette martialische Infrastruktur der Grenzanlagen - Grenzmauer, | |
Todesstreifen, Postenweg, Peitschenlampen und Hinterlandmauer - erhalten | |
blieb. Hier entstand 1999 die "Gedenkstätte Berliner Mauer" mit einem | |
Dokumentationszentrum zur deutsch-deutschen Teilung. Und die | |
"Geschichtsmeile Berliner Mauer" erhellt mit 29 Infotafeln die Exgrenze und | |
markiert mit einer Doppelreihe Pflastersteine den damaligen | |
innerstädtischen Mauerverlauf. | |
In diesem Jubel- und Gedenkjahr "20 Jahre Mauerfall" bieten Berlin und | |
Potsdam touristische Mauer-Programme. Zum Beispiel die Videobustour der | |
Veranstaltungsagentur Zeit-Reisen mit Film-, Bild- und Tondokumenten. Wir | |
Teilnehmer können an den Originalschauplätzen 28 Jahre Mauergeschichte im | |
Zeitraffer nacherleben. Wir hören Ulbricht sächseln und lügen "Niemand hat | |
die Absicht, eine Mauer zu errichten!", sehen kurz darauf eine Filmsequenz | |
mit dem O-Ton "Seit ein Uhr nachts bohren die Presslufthämmer auf der | |
Ebertstraße am Brandenburger Tor", machen vor dem Reichstag den optischen | |
Gestern-Heute-Vergleich: Während auf dem Busmonitor Bilder einer | |
Brachfläche mit der einsamen ehemaligen Schweizer Botschaft flimmern, sehen | |
wir durch die Fensterscheibe auf das belebte Regierungsviertel mit dem | |
Kanzleramt-Koloss. | |
Am Ende der Tour hören wir den "Maueröffner" Günter Schabowski vor der | |
Weltpresse stammeln: "Das [die neue Reiseregelung, die Red.] tritt … nach | |
meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich". Wir schauen dabei auf eine | |
nichtssagende Glasfront in der Mohrenstraße, hinter der damals diese | |
Pressekonferenz stattfand. | |
136 Menschen starben zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer. Günter | |
Litfin war der erste Mauertote. Am 24. August 1961, elf Tage nach Mauerbau, | |
wurde er auf der Flucht im Humboldthafen erschossen. Mit Jürgen Litfin, | |
seinem Bruder, steigen wir auf den heute von Hochhäusern umrahmten | |
ehemaligen DDR-Wachturm an der Kieler Straße. Mit Spendengeldern hat der | |
69-Jährige den verwahrlosten Wachturm gerettet, von Grund auf restauriert | |
und zur "Gedenkstätte Günter Litfin" umgebaut, einer Dauerausstellung, die | |
"an alle Opfer der SED-Diktatur" erinnern soll. | |
Jürgen Litfin zeigt auf den Mannschaftsraum mit den Schießscharten, "auf | |
jeder Seite doppelt". Er berlinert sich in Rage, geißelt die "Apfelbacke | |
Egon Krenz" ("Es gab keinen Schießbefehl!"), zeigt auf einen vergilbten | |
Artikel aus dem Neuen Deutschland, in dem sein Bruder als "Verbrecher" | |
tituliert wird und schimpft auf die "Dumpfbacken von Politikern", die auch | |
diesen Wachturm noch abreißen lassen wollten. Dabei verdiene Berlin doch | |
"Milliarden mit dem Mauertourismus". | |
"Stasi raus, Stasi raus!" skandiert es gespenstisch über den unwirtlichen | |
Alexanderplatz. Minuten später hören wir: "Freiheit, Freiheit!" | |
Tonschleifen der Open-Air-Ausstellung "Friedliche Revolution 1989/90", die | |
24 Stunden lang geöffnet ist. "Wir wollen Geschichten vom | |
gesellschaftlichen Umsturz 1989/90 erzählen", stellt Projektleiter Tom | |
Sello von der Robert-Havemann-Gesellschaft klar. Dazu gehöre die | |
Vorgeschichte der Wende, die Umweltbewegung und die Jugendkulturen, die | |
kirchliche Opposition, aber auch die wichtige Rolle des Westfernsehen. 700 | |
Bilder, von sparsamen Texten begleitet, illustrieren den | |
Geschichtsparcours. | |
Wir radeln mit Robert Freimark vom Veranstalter "Potsdam per Pedales" zum | |
Griebnitzsee. Am Südufer stehen sechs Mauersegmente, davor ein Kreuz und | |
eine Gedenktafel mit den Namen von 17 Maueropfern, die das "Forum zur | |
kritischen Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte im Land Brandenburg" für | |
diesem Grenzbereich zusammengetragen hat. Einer der Opfer ist Günter | |
Wiedenhöft, der in der Nacht des 6. Dezember 1962 beim Fluchtversuch starb. | |
Der 20-Jährige muss auf dem zugefrorenen See eingebrochen und ertrunken | |
sein, nachweislich wurde er zwar von DDR-Grenzern beschossen, aber seine | |
Leiche im folgenden Frühjahr ohne Schussverletzung geborgen. In der | |
Umgebung des Griebnitzsees zeigt sich der Irrsinn des Grenzverlaufs, das | |
Zickzack der Mauerführung. Wo war der "Osten", wo der Westen? Steinstücken | |
war eine westliche Exklave im Osten. "Steinstücken war im Kalten Krieg | |
eingemauert wie West-Berlin", erklärt uns Freimark, "eine Insel vor der | |
Insel West-Berlin" mit US-Militärposten. | |
Wo heute ein Hubschrauber den Kindern als Klettergerüst dient, landeten | |
damals Hubschrauber mit US-Soldaten. Die 70 Bewohner von Steinstücken | |
mussten aus der Luft versorgt werden. Erst nach dem Viermächteabkommen 1971 | |
und einem Gebietsaustausch wurde Steinstücken mit einer asphaltierten, | |
beidseitig ummauerten Korridorstraße an West-Berlin gekoppelt. Danach wurde | |
das kleine Steinstücken zum exotischen Touristenziel. "Mit | |
Eintrittsgeldern, Souvenirhandel und Currywürsten hätten wir problemlos | |
unser Leben finanzieren können", zitiert Robert Freimark den | |
SPD-Bundestagsabgeordneten Klaus Uwe Benneter, der noch heute Mitglied im | |
"Bürgerverein Kleintierzucht & Naturfreunde Steinstücken 80" ist. | |
Wir radeln zurück zum Griebnitzsee, durch den 44 Jahre lang die | |
deutsch-deutsche Grenze verlief. In der Kolonie Potsdam-Babelsberg zieren | |
restaurierte Villen das Seeufer. "Seit dem 18. April ist hier wieder | |
Sperrgebiet", sagt Robert Freimark mit Blick auf die gründerzeitliche | |
Truman-Villa, in der jetzt die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung ("Für | |
die Freiheit") residiert. Wie bitte? Ja, sagt Freimark, ein heißer Krieg | |
sei um den öffentlichen Zugang zum See entbrannt. Der Uferweg war zu | |
Mauerzeiten Postenweg der Grenzer, seit der Wende öffentlicher Durchgang. | |
Jetzt ließen ihn etwa zehn Anrainer, deren Privatgrundstücke bis ans Wasser | |
reichen, mit Zäunen absperren. Kurz zuvor hatte das Oberverwaltungsgericht | |
Berlin-Brandenburg (OVG) den Bebauungsplan der Stadt Potsdam für Uferweg | |
und Uferpark wegen formaler und inhaltlicher Fehler verworfen. Trotz des | |
Urteils stellte das OVG den öffentlichen Uferweg keineswegs grundsätzlich | |
infrage. "Das öffentliche Interesse ist hochwertig", sagte OVG-Präsident | |
Jürgen Kipp. "Dort stand einmal die Mauer, das ist deutsche Geschichte." | |
Die Mauer bebt nach. | |
11 Jun 2009 | |
## AUTOREN | |
Günter Ermlich | |
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