# taz.de -- Montagsinterview Prostituiertenbetreuerin Wiltrud Schenk: "Neuerdin… | |
> Im Rotlichtmilieu war in Berlin nie so viel zu verdienen wie in anderen | |
> Bundesländern. Daran hat sich nichts geändert. Trotzdem steigt die Zahl | |
> der Frauen, die anschaffen gehen. Wiltrud Schenk begleitet Prostituierte | |
> seit 20 Jahren als Sozialarbeiterin. | |
Bild: Die Sozialarbeiterin Wiltrud Schenk vor dem Bordell Golden Gate am Stuttg… | |
taz: Frau Schenk, ist die Wirtschaftskrise schon in den Bordellen | |
angekommen? | |
Wiltrud Schenk: Prostituierte klagen grundsätzlich immer. Aber mein | |
Eindruck ist schon, dass die Anzahl der Freier zurückgeht und das Feilschen | |
um die Preise zunimmt - die gehobenen Clubs mal ausgenommen. Auch die | |
Schnäppchenangebote werden mehr. | |
Wie bitte? | |
Immer mehr Bordelle werben mit Flatrates: "Sex, sooft Sie können". Oder: | |
"Eine Frau bezahlen, zwei bekommen." Neben dem Arbeitsamt in Spandau wird | |
eine Happy Hour angeboten: mit Arbeitslosenbescheid die Hälfte. Es gibt | |
Rentnerrabatt. Es gibt die irrsten Dinge. Das alles geht natürlich auf | |
Kosten der Frauen. | |
Sie sind Sozialarbeiterin und im Gesundheitsamt Charlottenburg-Wilmersdorf | |
für die Beratung von Prostituierten zuständig. Woher beziehen Sie Ihre | |
Informationen? | |
Vieles erfahre ich von den Prostituierten selbst. Ich besuche sie in den | |
Bordellen, oder die Frauen kommen zur Sprechstunde ins Amt. Um Adressen von | |
neuen Bordellen ausfindig zu machen, durchstöbere ich auch die Zeitungen | |
nach Inseraten. In den 20 Jahren, die ich diese Arbeit jetzt mache, hat die | |
Konkurrenz ganz schön zugenommen. | |
Früher ging es den Prostituierten besser? | |
In Berlin war auf diesem Sektor nie so viel zu verdienen. Hier gehen mehr | |
Frauen anschaffen als in anderen Bundesländern. Obwohl immer weniger Männer | |
bereit sind, dafür Geld auszugeben, nimmt die Zahl der Prostituierten | |
weiter zu. Mehr und mehr Frauen machen das für ein paar Stunden nebenher. | |
Manche fahren zum Arbeiten auch nach auswärts, zum Bespiel drei Wochen auf | |
Schicht nach Bayern. | |
Was wissen Sie über die Preise? | |
Es gibt Bordelle, da wird eine halbe Stunde Sex für 30 Euro angeboten. Oder | |
Französisch zusätzlich für 5 Euro. Früher musste man dafür 10 Euro | |
bezahlen. Neuerdings wird sogar geküsst. Früher war das bei den Huren | |
absolut tabu. | |
Liegt das nur am Konkurrenzdruck? | |
Nein. Zu unserem Zuständigkeitsbereich gehören rund 120 | |
Prostitutionsbetriebe, in denen rund 500 Frauen beschäftigt sind. Darunter | |
befinden sich diverse Wohnungsbordelle, ein Großbordell, Bars und Sexkinos. | |
Ich würde sagen, 90 Prozent der Frauen gehen freiwillig anschaffen, viele | |
davon in Wohnungsbordellen. Mit diesen Frauen, die zum Teil sehr gebildet | |
sind, gibt es kaum Probleme. Sorge bereiten uns eher die Rumäninnen und | |
Bulgarinnen, die seit der EU-Erweiterung verstärkt als Prostituierte nach | |
Berlin kommen. Ihre Bildung ist sehr gering. | |
Woran merken Sie das? | |
Unser Eindruck ist, dass viele der Frauen von Zuhältern gezwungen werden, | |
auf den Strich zu gehen. Viele Frauen sind Analphabetinnen und haben auch | |
kein Verständnis für ihren Körper. Bei Kontaktgesprächen versuchen wir sie | |
erst mal über grundsätzliche Dinge aufzuklären: Warum kriegt man seine | |
Tage? Warum wird man schwanger? Das ist wie bei einer Schulklasse. | |
Wie oft gehen Sie in Bordelle? | |
Einmal im Monat, manchmal auch öfter. | |
Was genau tun Sie dort? | |
Ich gucke, wo die Frauen Hilfe brauchen, auch außerhalb der Prostitution. | |
Ich möchte sie unterstützen, gesund zu bleiben. Gesund im wirklich | |
umfassenden Sinne auch an der Seele. Hygiene interessiert mich nur | |
insofern, als die Handtücher sauber und Kleenex und Kondome vorhanden sind. | |
Ob das Betttuch gewechselt ist, überprüfe ich nicht. | |
Lassen Sie sich die Kondome zeigen? | |
Nein. Aber ich bringe welche mit und biete sie an. | |
Über die Wohnungsbordelle in Charlottenburg-Wilmersdorf ist ein heftiger | |
Streit entbrannt, der zurzeit vor dem Verwaltungsgericht ausgetragen wird. | |
Der CDU-Baustadtrat Klaus-Dieter Gröhler will sie schließen, die grüne | |
Gesundheitsstadträtin offen lassen. Was sagen Sie als Expertin dazu? | |
Ich bin eine Verfechterin von Wohnungsbordellen. Es gibt überhaupt keinen | |
Grund, die Genehmigung zu entziehen. Wohnungsbordelle sind meist nur | |
tagsüber geöffnet. Die Frauen haben sich bewusst für diesen Beruf | |
entschieden. Sie achten gegenseitig auf ihre Sicherheit. Der Betrieb wird | |
in der Regel unauffällig und diskret abgewickelt. Anders als bei Bars gibt | |
es keine Leuchtreklame oder Lärm durch Musik oder betrunkene Gäste. | |
Wohnungsbordelle sind für die Nachbarschaft gut verträglich. Das zeigt sich | |
auch daran, dass es kaum Beschwerden von Anwohnern gibt. | |
Trotzdem ist der CDU-Baustadtrat für die Schließung. Hat das moralische | |
Gründe? | |
Er behauptet, nein, Bordelle hätten laut Baurecht in Wohngebieten nichts zu | |
suchen. Fertig. | |
Seit 2002 gibt es das Prostitutionsgesetz, das Prostitution anderen Berufen | |
gleichstellt. Was hat sich dadurch verändert? | |
Immer mehr Frauen, die im Rotlichtgewerbe nicht mehr genug verdienen, | |
melden sich als Prostituierte beim Finanzamt an. Mit der Bescheinigung | |
gehen sie dann zum Jobcenter und beantragen zusätzlich Hartz IV. Das wäre | |
früher unmöglich gewesen. Prostituierte melden sich jetzt auch bei der | |
Krankenkasse an. Früher geschah das unter Angabe anderer | |
Berufsbezeichnungen. Wenn der Schwindel aufflog, verloren sie ihren | |
Versicherungsschutz. | |
Wie dicht kommen Sie an die Frauen heran? | |
Bei neuen Bordellen ist es Schwerstarbeit - ich komme ja als Behörde. Das | |
Misstrauen ist groß. Im Lauf der Zeit fassen die Frauen aber in der Regel | |
Vertrauen. Unsere Beratung geht ja weit darüber hinaus, wie man sich vor | |
Tripper und Aids schützt. | |
Suchen die Frauen auch persönlichen Rat? | |
Neulich kam eine Frau zu mir, die sagte: "Meine Tochter ist neun Jahre alt. | |
Soll ich ihr erzählen, was ich arbeite?" Die Frau fährt immer ein paar Tage | |
zum Arbeiten weg. Sie möchte nicht riskieren, dass jemand was mitbekommt. | |
Die Tochter sagt seit längerer Zeit: "Mama, ich will mal mitkommen. Was | |
machst du da?" Die Mutter leidet ganz doll darunter, dass sie immer lügt. | |
Was haben Sie der Frau geraten? | |
Dem Kind ganz schnell die Wahrheit sagen. Wenn die Tochter so viel fragt, | |
ahnt sie etwas. Es ist besser, wenn sie die Wahrheit von der Mutter hört. | |
Wie könnte man das einem Kind erklären? | |
Eine Fünfjährige kann das vielleicht noch nicht verstehen, aber eine | |
Neunjährige schon. Die Mutter muss nicht so tun, als sei es der tollste Job | |
auf der Welt. Auf jeden Fall muss sie sagen, dass sie es freiwillig tut und | |
dazu steht. | |
Was haben Sie der Frau in dem konkreten Fall empfohlen? | |
Die Frau kommt nicht aus Deutschland. Ich habe geraten, mit der | |
Vorgeschichte anzufangen: "Weißt du noch, wo wir früher gelebt haben? Wir | |
hatten kein Geld. In Deutschland habe ich auch keine Arbeit gefunden. Ich | |
wusste nicht, wie ich die Miete und die Schulreise bezahlen sollte. Dann | |
habe ich das Angebot bekommen, mit Männern Sex zu machen. Sie bezahlen mich | |
dafür, dass ich mich für sie ausziehe und zu ihnen zärtlich bin. Das ist | |
nicht schlimm. Es gibt auch andere Frauen, die so was tun. Manche Leute | |
finden das abscheulich und sagen deshalb Schimpfworte. Darum musst du dir | |
überlegen, ob du es anderen erzählst. Es kann sein, dass sie auch dich | |
beschimpfen. Das möchte ich dir ersparen." | |
Was wissen Sie von den Reaktionen der Kinder? | |
Kinder haben ein gutes Gespür für Familiengeheimnisse. Sie zu belügen | |
zerstört mehr. Natürlich muss die Mutter auch aushalten, wenn das Kind | |
sagt: "So einen Scheißjob machst du?" - "Ja. Lass uns drüber reden, warum | |
ich das mache." | |
Wie kommt man als Sozialarbeiterin dazu, mit Prostituierten zu arbeiten? | |
Ich habe 1989 bei der Geschlechtskrankenfürsorge angefangen - so hießen die | |
Beratungsstellen für Prostituierte bei den Bezirksämtern damals noch. Ich | |
war 39 und zuvor beim Jugendamt tätig. Zuerst habe ich gedacht: "Nein. Das | |
kannst du nicht." Aber dann hat es mich doch gereizt. Ich wollte nicht mehr | |
die Verantwortung für Kinder haben. Ich fand es spannend, dass es | |
erwachsene Frauen sind. Aber ich hatte mir Wunder was darunter vorgestellt. | |
Was denn genau? | |
Junge, schlanke, attraktive Frauen. Knisternde Atmosphäre. Alles rot. Das | |
erste Bordell, das ich in der Wilmersdorfer Straße besucht habe, war so was | |
von bieder: Schrankwand, Sessel mit Deckchen auf den Lehnen. Was war ich | |
enttäuscht! Da ist mir erst klargeworden, was ich für ein Bild von der | |
Prostitution hatte. | |
Was bekommen Sie von den Vorgängen hinter den Kulissen mit? | |
Einiges. Es gibt Frauen die geschlagen werden. Frauen, die veranlasst | |
werden, ohne Kondom zu arbeiten. Das betrifft vor allem Frauen, die sich | |
nicht gut wehren können. Wenn man das erste Mal in eine Bar kommt, wo der | |
Porno ununterbrochen läuft mit den entsprechenden Geräuschen und die Frauen | |
ungerührt vor dem Bildschirm sitzen und ihre Pizza essen - da kann man | |
nicht einfach abschalten. Ich bin mir sicher, dass das auch mit den Frauen | |
was macht. | |
Worauf wollen Sie hinaus? | |
Frauen, die lange in der Prostitution arbeiten, verändern sich im Habitus. | |
Sie bekommen eine sexualisierte Sprache. Sie kennen kaum noch Leute, die | |
nicht zum Milieu gehören. Das grenzt aus und macht einsam. Dazu kommt, dass | |
sie sich ständig verstellen müssen. | |
Wie meinen Sie das? | |
Wenn ein Mann in die Bar kommt, fangen alle Frauen sofort an, ihn zu | |
unterhalten. Sie investieren Zeit, Freundlichkeit, Schauspiel, Dauerlächeln | |
- in der Hoffnung: Vielleicht geht er mit mir aufs Zimmer. Dazu kommt die | |
Nachtarbeit und die Gefahr, Alkoholikerin zu werden. Wir warnen die Frauen | |
immer: Trinken Sie alkoholfreien Sekt. Denn nichts trinken geht nicht. | |
Frauen, die in Bars arbeiten, raten wir, mehr auf sich zu achten. Und wenn | |
es nur ist, die Sonne mal wieder auf die Haut scheinen zu lassen. Auch | |
deshalb bin ich eine Verfechterin von Wohnungsbordellen. | |
Haben Sie auch mit alten Prostituierten zu tun? | |
Eine Frau, die ich regelmäßig betreue, ist 60. Vor zwei Jahren hat sie sich | |
entschieden, zum Jobcenter zu gehen. Sie hat gesagt: "Ich schaffe das nicht | |
mehr." Jetzt geht sie noch zwei Nächte arbeiten. Sie braucht es, begehrt zu | |
werden. Es gibt Bordelle, wo ganz viele Frauen über 50 arbeiten. Es gibt ja | |
auch Männer, die eine reifere Frau wollen, die Stress haben, dass sie bei | |
einer ganz jungen nicht genug leisten. | |
Sie leben mit ihrer Lebenspartnerin zusammen. Hat die Arbeit Ihr Männerbild | |
beeinflusst? | |
Es könnte sein. Bei meinen Kontaktbesuchen in den Bordellen sehe ich | |
manchmal, wie die Freier die Frauen angrabschen. Ich würde Ihnen auf die | |
Finger hauen. | |
Wie stehen Sie zu den Prostituierten? | |
Ich mag die Frauen sehr. Ich mag es, wenn sie selbstbewusst erzählen, wie | |
sie die Männer anbaggern. Der offensive Umgang mit Sexualität gefällt mir. | |
Das ist etwas, was meine Generation nicht gelernt hat. | |
Hat sich Ihr Verhältnis zur Sexualität dadurch verändert? | |
Ich habe gelernt, offen über Sexualität zu sprechen. Privat und beruflich. | |
Es ist wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen, wenn die Frauen bei den | |
Beratungsgesprächen wissen wollen, wie sie sich besser schützen können; | |
Analverkehr, Französisch pur oder Anpinkeln zu sagen und nicht mit Worten | |
wie "da unten rum" rumeiern. | |
Französisch pur bedeutet Oralverkehr ohne Kondom. Wie kann man sich da vor | |
Ansteckung schützen? | |
Geschickte Frauen nehmen das Kondom heimlich in den Mund und stülpen es | |
kurz vor dem Samenerguss über den Penis, ohne dass der Freier es | |
merkt.Wirklich sicher ist Oralverkehr natürlich nur mit Kondom. | |
29 Jun 2009 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
Plutonia Plarre | |
## TAGS | |
Prostitutionsschutzgesetz | |
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