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# taz.de -- John Axelrod über Musik: "Was ich höre, schmecke ich auch"
> John Axelrod, klassischer Dirigent, Jazzmusiker, ehemaliger
> Popmusik-Scout, Weinhändler und Bernstein-Schüler über Wagner, "Twist and
> Shout" - und seine Vision von einer Musik, die die Welt verändert.
Bild: John Axelrod über seine früheren Jobs: "Ich war bloß ein Konsument, ke…
taz: Herr Axelrod, was macht Sie einen Abend lang zuverlässiger glücklich:
eine Flasche Wein oder ein Abend voll Musik?
John Axelrod: Es ist wie beim Wein: Je älter die Musik ist, desto besser
wird sie. Beides, Wein und Musik, haben viel Qualität. Ich habe eine sehr
subtile Empfindung beim Schmecken und beim Hören. Was ich höre, schmecke
ich auch. Und umgekehrt.
Wirklich! Das heißt, wenn Sie Musik hören, haben Sie einen bestimmten
Geschmack im Mund?
Genau! Aber ich kann nicht zu meinem Orchester sagen: Ein bisschen mehr
Salz bitte. Für mich ist eine gute Musik und ein guter Wein das Gleiche.
Welcher Wein passt zu welcher Musik?
Rotwein passt zu symphonischer Musik oder Oper. Aber ich liebe auch
populäre Musik, Rockmusik. In diesem Feld habe ich auch gearbeitet.
Wenn Sie ein Glas Rotwein trinken, welche Musik, welchen Ton hören Sie
dann?
Es ist nur ein Ton, es ist keine Melodie. Meine Lieblingssymphonie von
Beethoven ist die "Pastorale", von Wagner ist es "Tristan und Isolde". Beim
Klavier mag ich die Stücke von Chopin am liebsten. "Tristan und Isolde" war
die Brücke von meinem Leben für Popmusik und Wein zurück zur klassischen
Musik.
Sie waren eine Art Bandscout, "A & R" genannt, für das große Label BMG und
Weinhändler sowie Restaurantbesitzer, was sich ziemlich toll anhört - haben
diese Zeit aber "verlorene Zeit" genannt. Warum?
Ich bin erst sehr spät, mit 28 Jahren, Dirigent geworden. Ich bin wohl der
einzige Dirigent, der mal "A & R" und Direktor eines Weinzentrums war. Aber
ich habe schon mit 16 Jahren bei Leonard Bernstein gelernt.
Der hat Ihnen gesagt, Sie sollten Dirigent werden.
Ja, das hat er zu meiner Mutter gesagt. Warum? Weil ich die Menschen zu
sehr liebe. Aber wenn ein Held, bei mir war es Lenny, der Dirigent, so
etwas sagt, dann ist das viel zu tragen.
Warum sind Sie ihm nicht gefolgt?
Das Problem war: Die Erwartung war zu hoch. Ich sagte mir, nein, es kann
nur den einen Dirigenten geben, Leonard Bernstein. Ich dachte, ich bin doch
Klavierspieler und liebe Popmusik. Ich fragte Bernstein: Ich liebe Popmusik
und klassische Musik - muss ich mich entscheiden? Nein, sagte er, es gibt
drei Arten von Musik: schlechte, gute und hervorragende Musik. Wenn du nur
die hervorragende Musik spielst, ist das Leben schön.
Hatte er recht?
Ja. Ich habe Blues vor Bach gespielt. Mit 16 hat Bernstein nach einem
Vorspiel zu mir gesagt: Komm nach der Schule zu mir und wir lernen
zusammen.
Das ist eine große Ehre.
Puh! Mit 16 wusste ich das noch nicht, aber heute. Ich habe von Bernstein
viel gelernt. Meine Philosophie ist Liebe, Respekt, Toleranz und
Versöhnung. Die Musik, die ich heute mache, dreht sich immer um diese
Dinge.
Wenn Sie diese Förderung durch Bernstein hatten, warum gingen Sie trotzdem
nach Harvard, um da zu studieren?
Das hatte mit meinen Eltern zu tun - obwohl Bernstein auch ein
Harvard-Student war, ebenso wie mein Vater und Großvater. Es war eine Art
Familienerbe. Mein Vater sagte zu mir, ich sei doch kein Musiker. Er ist
ein Geschäftsmann.
Er hatte nicht genug Vertrauen, dass Sie Dirigent werden könnten.
Ja, vielleicht. Ich meine, ein Kind aus Texas - was ist das schon? Aber in
der Komischen Oper in Berlin haben wir auch einen Texaner, wir haben einen
Dirigenten aus Venezuela und einen Pianisten aus China. Mein Vater war
praktisch veranlagt. Für ihn kommt Freiheit aus Sicherheit. Für mich
entsteht Sicherheit aus Freiheit. Ich bin ein Musiker, kein Geschäftsmann.
Aber mit meiner Erfahrung im Pop-Business habe ich viel Gespür für das
Geschäft.
Das ist ja auch nicht unwichtig heute.
Ja, nach meiner Ausbildung am Petersburger Konservatorium, wo ich unter
anderem bei Ilja Mussin gelernt habe, habe ich in Houston das OrchestraX
gegründet, das ein neues Publikum für klassische Musik gewinnen will,
innovativ im Programm und der Präsentation. Wir zielten auf die "Generation
X", von 18 bis 38.
Ist ein junges Publikum kritischer als ein älteres?
Es ist weniger kritisch, es ist ganz offen für alles, für neue Musik und
eine neue Präsentation. Wir leben im 21. Jahrhundert. Es gibt heute mehr
Komponisten und Orchester als je in der Geschichte der Musik. Und es gibt
mehr Mittel, diese Musik zu übertragen, übers Internet, über die neuen
Techniken. Ich bin Optimist. Okay, ich bin ein Amerikaner - oder vielleicht
ein Ameropäer. Es ist eine gute Zeit für klassische Musik. Diese Zeit ist
wie ein Labor, in dem wir Experimente machen. Wohin wir gehen werden, weiß
ich nicht. Viele sind pessimistisch.
Es gehe bergab mit der Musik.
Ja. Es sei vorbei mit der klassischen Musik. Wir hätten kein Publikum und
keine Talente. Blablaba. Andere sind optimistisch. Ich bin auf der
optimistischen Seite.
Sie haben als A & R bei BMG unter anderen Marc Cohn und die Smashing
Pumpkins entdeckt, Tori Amos gefördert. Für viele Ihrer Generation wäre das
ein Traumjob gewesen, Sie haben es aber als Tiefpunkt bezeichnet. Warum?
Mit 22 Jahren A & R zu sein ist fantastisch - und mit 26 Jahren Direktor
eines Weinzentrums ebenso. Es sind Traumjobs. Aber ich war bloß ein
Konsument, kein Schöpfer. Ich machte Verträge mit Musikern. Aber ich selbst
habe nichts geschaffen. Das war das Problem.
Wie kam es dann zur Wende in Ihrem Leben?
Eines Nachts im Napa Valley habe ich eine Entscheidung getroffen. Ich hielt
mich an den Ratschlag: Follow your bliss - folge deinem Glück. Ich hatte
dort eine Epiphanie. Ich machte mir die ganze Zeit Gedanken: Hat Lenny
recht, soll ich ein Dirigent sein? In meinem Kopf hörte ich die ganze Zeit
das Vorspiel von "Tristan und Isolde". Dann stoppte ich das Auto. Ich
schaute auf die Landschaft, das Napa Valley. Es war eine ruhige Nacht, ohne
Wind, ohne Vögel, ohne Frösche. Es war heilig in diesem Moment. Ich habe
eine sehr spirituelle Kraft gespürt - vielleicht Gott, ich weiß es nicht.
In diesem Moment habe ich nicht die Musik gewählt, die Musik hat mich
gewählt. Ich machte das Auto wieder an. Und hörte im Radio das Vorspiel von
"Tristan und Isolde".
Das haben Sie als Zeichen gesehen.
Ja. Am nächsten Tag habe ich einen Brief geschrieben, dass ich meine Arbeit
aufgebe und meinem Glück folge.
Da Sie auch ein Kenner der Popmusik sind: Kann Popmusik so wertvoll sein
wie die klassische Musik?
Es ist einfach unterschiedlich. Ich brauche klassische Musik. Sie ist
tiefer, sie hat mehr Nuancen, sie hat mehr Subtilität. Sie ist eine große
Herausforderung für das Leben und für mich - und ich brauche für mein Leben
eine Herausforderung. Aber Popmusik ist auch fantastisch. Zum Beispiel
"Twist and Shout", das nur drei Harmonien hat, C, F und G. Das ist alles!
Ich liebe die Artrock Progressive Bands wie Genesis, Yes, Led Zeppelin, The
Who, Emerson, Lake and Palmer. Und Pink Floyd, das sind für mich die
Besten. Vielleicht habe ich eines beim Rock n Roll gelernt: was gut ist für
ein neues Publikum. Deshalb ist das OrchestraX auch ein großer Erfolg.
Und was haben Sie noch gelernt?
Dass klassische Musik, Musik generell ganz subjektiv und abstrakt ist. Ich
liebe Messiaen und Strawinsky - vielleicht lieben Sie sie nicht. Rock n
Roll ist konkreter. Schauspieler in Hollywood arbeiten für einen
humanitären Zweck. Ich glaube, das ist der neue Weg für klassische Musik im
21. Jahrhundert. Es gibt nicht nur einen künstlerischen, sondern auch einen
humanitären Grund. Es gibt das West-Eastern Divan Orchestra, das Orchestra
for World Peace, das Simón-Bolívar-Orchester aus Venezuela, es gibt
Projekte der United Nations und der Unesco. Musik könnte der Grund für
unsere Zukunft sein.
Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?
Wir wissen heute mehr als in jeder anderen Epoche unserer Geschichte. Warum
ist Beethovens Neunte die Hymne für die Europäische Union? "Alle Menschen
werden Brüder" heißt es da. Das ist heute nicht nur Poesie und Musik. Die
Musiker, die Dirigenten und das Publikum sind nicht mehr die gleichen wie
früher. Deshalb muss die klassische Musik der Gesellschaft etwas geben,
nicht nur Musik. Warum ist Bono in Afrika? Warum kann das nicht auch
klassische Musik? Ich glaube, dass Musik das Leben verändern kann.
Klassische Musik für die ganze Welt.
Und sie wird auch von allen verstanden?
Das kommt. Vielleicht schauen wir in 10 oder 20 Jahren zurück und können
alle losen Punkte von heute zu einer Linie verbinden. Heute wissen wir
nicht, wohin wir gehen. Es ist nicht mehr so wie früher. Man kann Musik
nicht mehr nur für die Musik spielen, glaube ich.
14 Jul 2009
## AUTOREN
Philipp Gessler
Philipp Gessler
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Pop
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