# taz.de -- Erdrutsch in Nachterstedt: Einstürzende Altlasten | |
> Während am Unglücksort in Sachsen-Anhalt über Ursachen gerätselt wird, | |
> befeuert der Erdrutsch die saarländische Debatte um den Ausstieg aus dem | |
> Kohleabbau. | |
Bild: Weitere Erdabbrüche in dem einstigen Bergbaugebiet sind möglich. | |
Die Deutschlandflagge hängt auf Halbmast, im Rathaus hat der | |
Katastrophenstab sein Lager aufgeschlagen, statt Anwohnern bevölkern | |
Bundeswehrsoldaten, Feuerwehrleute, Polizisten, DRK und THW den Ort: Drei | |
Tage nach dem verheerenden Erdrutsch ist nichts normal in Nachterstedt. | |
Drei Menschen und zwei Häuser sind verschwunden; verschluckt von einem | |
hunderte Meter breiten Schlammkrater. 39 Menschen sind obdachlos, ihre | |
Häuser stehen inmitten des Katastrophengebietes. | |
Seit in der Nacht zum Montag neue Risse an der Unglücksstelle entdeckt | |
wurden, hofft man in Nachterstedt auf trockenes Wetter - bei starkem Regen | |
sind in dem ehemaligen Bergbaugebiet neue Erdabbrüche möglich. | |
Doch nicht nur am Rande des Tagebausees Concordia brechen ganze Häuser weg. | |
Überall dort, wo Jahrhunderte oder Jahrzehnte hinweg unter Tage gearbeitet | |
wurde, müssen Anwohner mit einstürzenden Neu- und Altbauten rechnen. | |
Zusätzlich gefährden Sprengungen in aktiven Abbaugebieten und tektonische | |
Gesteinsverschiebungen das Leben der Bevölkerung - sie können Erdbeben | |
auslösen. | |
An der Saar bebte alleine im Jahre 2008 die Erde 157 Mal. Ende Februar | |
waren über dem Abbaugebiet Primsmulde nach einem von tektonischen | |
Spannungen mit explosionsartiger Entladung verursachten Erdbeben der Stärke | |
4 auf der Richterskala in mehreren Ortschaften Häuser schwer beschädigt | |
worden und in Saarwellingen der Giebel der alten Wehrkirche eingestürzt. | |
Dass dabei niemand verletzt wurde, gilt im katholischen Saarland bis heute | |
als Wunder. | |
Danach beendete ein Erlass der ohnehin zum Ausstieg bereiten | |
CDU-Landesregierung den Steinkohleabbau. Vorläufig. Denn der | |
Betreibergesellschaft Deutsche Steinkohle AG (DSK) wurde umgehend | |
gestattet, an anderer Stelle "weiterzubuddeln", wie die | |
Interessengemeinschaft zur Abwehr von Bergbauschäden (Igab), Landesverband | |
Saar, verärgert konstatieren musste. | |
Die fest in der Bevölkerung verankerte Protestbewegung gegen den weiteren | |
Steinkohleabbau an der Saar war danach wild entschlossen, sich als | |
"Bürgerpartei" zu organisieren und an den kommenden Landtagswahlen am 30. | |
August teilzunehmen, um ihre Interessen im Saarbrücker Landtag selbst mit | |
durchsetzen zu können; nur knapp votierte eine Vollversammlung der Igab | |
dann im Sommer dagegen. | |
Die Zukunft des Steinkohlebergbaus ist auch so das Wahlkampfthema Nummer | |
eins. Während Christ- und Freie Demokraten und auch die Grünen von einem | |
Auslaufmodell sprechen, wollen SPD und Linke wegen der Arbeitsplätze und | |
der "industriepolitischen Bedeutung des Steinkohlebergbaus für ganz | |
Deutschland" am Abbau in noch besonders attraktiven Kohlefeldern | |
festhalten. Die SPD unter ihrem Landeschef Heiko Maas legt dabei Wert auf | |
die Feststellung, dass das nur dann gelte, "wenn die Gefährdung von | |
Menschenleben ausgeschlossen ist". Dagegen erklärte der Landesvorsitzende | |
der Grünen, Hubert Ulrich, dass seine Partei "mit keiner Partei eine | |
Koalition eingehen wird, die am Steinkohlebergbau, einer | |
Dinosaurierindustrie, festzuhalten gedenkt". Von der Linken wird das als | |
Absage an ein Linksbündnis gegen CDU und FDP nach der Wahl interpretiert. | |
Seitdem bekämpft die Linke die Grünen an der Saar: "Wer grün wählt, wird | |
sich schwarz ärgern!", so Spitzenkandidat Oskar Lafontaine, der den Grünen | |
vorwarf, "mit Ministerpräsident Müller schon Jamaika verabredet" zu haben; | |
die Grünen dementierten das umgehend. | |
So gespalten wie die Parteien ist auch die Bevölkerung. Die Saarländer mit | |
Bergbauschäden an ihren Häusern, die alle beklagen, von der DSK "viel zu | |
wenig Entschädigung" bekommen zu haben, sind für den sofortigen Ausstieg | |
aus dem Steinkohleabbau; und die Beschäftigten bei der DSK und ihre | |
Angehörigen sind dagegen. Rund 10.000 Arbeitsplätze stünden im | |
Steinkohlebergbau an der Saar zur Disposition, rechnete Lafontaine jüngst | |
vor. Und das könne sich das kleine Saarland mit dem ohnehin schon - in | |
Relation zur Bevölkerungszahl - höchsten Schuldenberg der Republik doch | |
überhaupt nicht leisten. Die Grünen argumentieren, dass die Erdbeben eine | |
Gefahr auch für die Schlüsselindustrien an der Saar wie die Autobranche | |
oder die Stahlfabrikation darstellten; und dort stünden sehr viel mehr | |
Arbeitsplätze auf dem Spiel. | |
21 Jul 2009 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Peter Klingelschmitt | |
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