# taz.de -- Saale-Unstrut-Region: Erstaunliche ostdeutsche Provinz | |
> Eine Reise in die Saale-Unstrut-Region: Zwischen Sektkellereien und alten | |
> Wahrzeichen ist Ostdeutschland allmählich für den Tourismus gerüstet. | |
Bild: Schmucke Weinberge umschließen in Freyburg das Ehrenmal von Turnvater Ja… | |
"Ich möchte noch heute den Totenkopf des Mannes streicheln, der die Ferien | |
erfunden hat." Jean Paul | |
Ferien. Reisezeit. Urlaub im eigenen Land, Urlaub in Deutschland ist in | |
diesen Zeiten sehr angesagt. Auf Rügen sieht es aus wie damals in Benidorm. | |
Westdeutsche entdecken die Provinz, Hauptstädter das östliche Umland, die | |
ehemalige DDR sich selbst. Eine Gruppe Stadtneurotiker, Mittdreißiger | |
aufwärts auf dem Weg zum aufgeklärten Kegelclub, bricht in den Süden auf, | |
an die Saale. Landschaft soll ja toll sein. Tierwelt interessant. | |
Weinproben gut. Und so. | |
Aber eine Reise in die Provinz ist immer auch eine Reise in die eigene | |
Vergangenheit. Besonders, wenn man selbst aus der Provinz kommt. Knapp 20 | |
Jahre "nach der Wende" (so die örtlich verwendete Formulierung für | |
Mauerfall und Anschluss) überrascht das Ergebnis einer Fahrt ins Gebiet | |
Saale-Unstrut aber doch: Provinz Ost unterscheidet sich nicht mehr groß von | |
Provinz West. Hier wie dort warten Lieblichkeit, totale Aufhübschung, | |
Ordnung, ein Eigensinn der Bewohner, der gern mal ins Muffelige geht, und | |
eine Kultur des kleinbürgerlichen, dörflichen Plüschs und Kitschirrsinns. | |
Das Gästezimmer sieht dank Rundum-Holzvertäfelung aus wie eine Sauna mit | |
Fenstern. Die Betten haben mindestens drei Decken, allesamt mit Überzügen | |
mit Blümchenmustern. Sprüche in Schönschrift, in der Hofterrasse ein | |
Plastikpilz mit Gesicht oder eine Mülltonne in Baumstumpfgestalt, ebenfalls | |
Plastik. Es gibt keinen Sitzplatz ohne Sitzkissen, kein Weinglas ohne | |
Korkdeckel, kein Fenster ohne Gardine, kein Tischchen ohne Häkeldecke. | |
Damit unbedingt einhergehend: Vorschriften, die nett gemeint sind. Also | |
Frühstück spätestens um 9 Uhr, bitte ab 20 Uhr nicht mehr im Hof sitzen, | |
Nachtruhe ab 22 Uhr. Die Kirchenuhr klingt wie eine Totenglocke. Essen zu | |
Krankenhauszeiten. Bitte nicht auf die hintere Terrasse setzen. Im | |
zünftigen Restaurant üppige Mahlzeiten zu Musik vom Regionalsender. Das | |
Beste der Achtziger. An der Wand Fotos vom Karnevalsverein. Der in Freyburg | |
FKK heißt - Freyburger Karneval Klub. (Der örtliche Fußballverein ist | |
übrigens nicht der "Sportclub" wie im Breisgauer Freiburg, sondern heißt FC | |
RSK. RSK für Rotkäppchensektkellerei. Schönes Logo haben sie.) | |
Vor der Eisdiele stehen die Stühle in Reih und Glied. Dürfen wir mit den | |
Stühlen in die Sonne? "Nein. Wenn das jeder machen würde! Wo kommen wir | |
denn da hin!" Und: "Es ist ja nicht persönlich gemeint. Aber so sind nun | |
mal die Vorschriften." Welcher linksstudentisch Sozialisierte muss da nicht | |
an die eigene Großmutter denken, oder schlimmer noch, an Deutschtümelei? | |
Gartenzwerge, Beflaggungspflicht nicht nur auf Schiffen und Bötchen, | |
sondern auch im Kleingartenverein. Erstaunlicherweise fehlen die Nazis - | |
weder in Freyburg noch im größeren Naumburg haben wir welche gesichtet, | |
auch geschmierte Hakenkreuze gab es nicht. Eine nazifreie Gegend in | |
Ostdeutschland, toll. Stattdessen gibt es vier Dorfpunks, die sich am | |
Samstagabend beim Vietnamesen treffen, ihren prolligen Kleinwagen mit | |
Gartenstuhl und Bier bepacken und zum Zelten fahren. | |
Das Ambiente passt hier natürlich. Nicht zum Dorfpunk und auch nicht zu den | |
jungen Männern mit Testosteronüberschuss, die im Sportwagen durch den Ort | |
heizen, einmal rauf, einmal runter, und auch nicht zu der älteren | |
Schülergruppe, die sich mit Bier in eine stille Dorfecke setzt. Musik aus | |
dem Laptop. Aber zum überwiegenden Rest der Bevölkerung, den Gastwirten, | |
Tourismusangestellten, den Arbeitnehmern der örtlichen Sektkellerei, was | |
immerhin 150 Menschen sind. Freyburg/Unstrut ist nämlich ein | |
mittelalterliches Städtchen, 5 bis 10 Kilometer nördlich von Naumburg | |
gelegen. Ein Städtchen, das seine Stadtrechte schon recht früh durchgesetzt | |
hat und trotz seiner nur 5.000 Einwohner so schnell nicht abgeben wird. Da | |
sei besagte Kellerei vor. Und die Tradition. Was aber sofort auffällt: Es | |
ist nichts los. Der Tourismus hat dieses Fleckchen noch nicht in ganzer | |
Wucht erreicht. Zum Glück für uns. | |
Die Unstrut ist ein Flüsschen, das sich durch die Hügel des südlichen Teils | |
von Sachsen-Anhalt schlängelt, bis es bei Naumburg in die an der Stelle | |
auch nicht wesentlich breitere Saale mündet. Das ganze Gebiet, das sich | |
folglich Saale-Unstrut nennt, bietet reichlich Anlass für Wanderung und ist | |
außerdem ein bekanntes Weinanbaugebiet, nicht umsonst wird es vom Volksmund | |
gern "die Toskana des Nordens" gerufen. Auch die "Romantische Straße" führt | |
hier durch. Das Gebiet ist durchaus eine Reise wert. | |
In der Umgebung gibt es Örtchen wie Schieben, Krakau, Burgscheidungen und | |
Kirchscheidungen, wir haben uns für Freyburg entschieden, wo wir natürlich | |
das Ehrenmal des hier endgültig ausgeturnt habenden Turnvater Jahns | |
besichtigen, die Weinberge drum herum mit dem Schloss Neuenburg | |
(Schwesterburg zur Wartburg) und dem phallisch aussehenden Rundturm, der | |
"Dicker Wilhelm" genannt wird. Namen fallen wie Ludwig der Springer | |
(benannt nach einem legendären Kopfsprung in die Saale) oder die hlg. | |
Elisabeth von Thüringen. Sichtbar werden Brautpaare, für die Burg und Turm | |
mit Hotelrestaurant beliebte Ausflugziele darstellen. Ein Brautpaar lässt | |
sich vor dem dicken Wilhelm fotografieren. Sie kniet vor dem Bräutigam, es | |
sieht fast aus wie eine Fellatio-Darstellung, die Gegendarstellung findet | |
nicht statt. | |
Natürlich schauen wir uns auch die Sektkellerei an. Wir trinken uns durch | |
fünf verschiedene Sektsorten, lernen etwas über die "zweite alkoholische | |
Gärung", über die Versektung von Weißweinen, über die Aufstellung eines | |
modernen Unternehmens; lernen, dass Rotkäppchensekt nichts mit dem Märchen | |
zu tun hat, sondern von der roten Kappe über der Agraffe (ja, ja!) | |
herrührt. Frau Kaiser, die uns durch die historischen Anlagen führt, ist so | |
begeistert, mal nicht tumbe Ausflügler und Geschäftsleute betreuen zu | |
müssen, dass sie sich gleich mit uns einen antrinkt. Auch hier fällt die | |
Formulierung "nach der Wende", gepaart mit "Neuaufstellung" und "alles | |
nicht so einfach", recht oft. | |
Reden wir also übers Geschäft. Die Sektkellerei ist mittlerweile gut | |
aufgestellt, hat ordentlich zugekauft, hat unter anderem die Konkurrenz von | |
Mumm geschluckt und ist auf dem Weg zur großen Nummer, und das, obwohl | |
Rotkäppchensekt nach wie vor eine nationale Angelegenheit bleibt. Kein | |
Export. | |
Rettet das Schwimmbad | |
Aber es ist nicht alles Sekt, was glänzt. Die Touristenattraktionen der | |
Region liegen meist in privater Hand. Das Schwimmbad Freyburg macht im | |
ganzen Ort Eigenwerbung. "Rettet das Schwimmbad" steht auf den Plakaten - | |
die Wassertemperatur beträgt 19 Grad, unsere Gruppe verdoppelt die | |
Besucherzahlen des Tages. Die Stadt Freyburg, vermutlich eh klamm, kann das | |
Bad nicht tragen, der eigens gegründete Unterstützerverein auch nicht mehr | |
lange. | |
Gleiches gilt für die Fähre in Naumburg, den Kanuverleih, das | |
Ausflugsschiff. Auf dem Ausflugsschiff, das uns über die Unstrut an die | |
Saalemündung bringt, kommen wir der Bevölkerung nahe wie sonst kaum. Der | |
weibliche Maat kassiert mürrisch das Fährengeld, den Namen ihres Lovers hat | |
sie sich sicherheitshalber auf den Unterarm tätowiert. Gegen das Vergessen. | |
Drei ältere Schwestern schnattern über ihr Leben und werfen ihre | |
Zigarettenkippen über Bord ins Wasser. Am Ufer turnen Minks herum, die | |
kleinen Nager wurden einst, genau wie die Reblaus, aus Amerika | |
eingeschleppt, warum auch immer, und gelten als Plage, da die natürlichen | |
Feinde fehlen. Die Schwestern schnattern sächsisch. Erstaunlich, wie schon | |
die Kleinsten, kaum Zähne im Mund, diesen verstörenden Zungenschlag | |
draufhaben. Sächsisch ist nicht schön, und trotz anderslautender Gerüchte | |
sind auch die Menschen nicht schön. Aber darauf kommt es nicht an. | |
Irgendwann erreichen wir Naumburg, unsere letzte Station. Inmitten dieser | |
mittelalterlichen Kulisse gibt es, apropos Privatisierung, eine privat | |
betriebene Straßenbahn und den Dom, der ebenfalls privat geführt wird. Man | |
stelle sich vor: eine privatisierte Kathedrale! Eintritt 4 Euro. | |
Journalisten haben freien Zutritt. Die Kirche ist in protestantischem | |
Besitz. Ursprünglich war der Dom katholisch. Spätromanik. Dann ein bisschen | |
Frühgotik und Barock. Alles da. In einer Seitenkapelle hat Neo Rauch die | |
Fenster gestaltet - man denkt erst, die Fenster sind bestimmt ein Scheiß | |
gegen das Richter-Fenster im Kölner Dom, ist dann aber positiv überrascht. | |
Schön rote Darstellungen von Szenen rund um die Lokalheilige. Im mittleren | |
Fenster spendet besagte Elisabeth von Thüringen einem Mann einen Mantel | |
"als Teil ihrer Entsagung irdischer Reichtümer", was allerdings aussieht, | |
als ob die adelige Dame den Mantel lüftet, um ihr Intimstes zu zeigen. Die | |
Gegendarstellung fehlt auch hier. | |
Danach geht es wieder zurück in die Hauptstadt. Es ist ganz schön, mal | |
rauszukommen. Man muss nur bedenken, dass man gleichzeitig wo hineingerät. | |
5 Aug 2009 | |
## AUTOREN | |
René Hamann | |
## TAGS | |
Thüringen | |
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