| # taz.de -- Pro und Contra: Würdigen wir die Wegbereiter des Mauerfalls genüg… | |
| > Müssen wir der Oppositionellen, Demonstranten und Flüchtlinge, die den | |
| > Mauerfall erzwangen, intensiver gedenken? Oder ist es höchste Zeit, um | |
| > den Erhalt der Freiheit heute zu kämpfen? | |
| Bild: Als Teile der Mauer plötzlich weg waren: der Potsdamer Platz am 12.Novem… | |
| Schon die Frage ist entlarvend. Sie hat etwas Herablassendes. Subjekt denkt | |
| über Objekt nach, das offenbar nicht mehr so ganz lebendig ist und also | |
| reif für ein Denkmal. Und wer ist "wir"? Offenbar gehören die Wegbereiter | |
| des Mauerfalls nicht dazu. Sie sind die anderen. Damit hat sich die Frage | |
| eigentlich erledigt. | |
| Und auch bei den Wegbereitern muss man sich fragen, wer da überhaupt | |
| gemeint ist. Die Leipziger Demonstranten, die auf die Straße gingen, als es | |
| noch gefährlich war, und die zu diesem Zeitpunkt an alles andere als an | |
| eine Wiedervereinigung dachten? Sind es die Leute, die ab Sommer 1989 den | |
| Weg über Ungarn in den Westen wählten und von denen viele eher | |
| Wirtschaftsflüchtlinge als glühende Demokraten waren? Oder ist es gar das | |
| Politbüro, das über sein Sprachrohr Schabowski am Abend des 9. November | |
| 1989 die neuen Reisefreiheiten verkündete? | |
| Was spätestens mit den Kommunalwahlen im Mai 1989 begann und heute unter | |
| dem unscharfen Begriff "Bürgerbewegung" subsumiert wird, hatte nicht den | |
| Mauerfall als Ziel vor Augen. Es ging darum, in einem emanzipatorischen | |
| Sinne die Gesellschaft zu verändern und die Regierung zu stürzen. Es ist | |
| auch die Geschichte einer Niederlage. | |
| Klaus Wolfram hat es in seiner "Geschichte des guten Willens" vor 15 Jahren | |
| beschrieben. Die Macht lag auf der Straße, wir hätten sie nehmen können, | |
| aber sie hat uns nicht interessiert. Es war die Anarchie, die uns | |
| beglückte. Den Einigungsvertrag unterschrieben auf DDR-Seite dann Leute, | |
| die keine Bürgerbewegten waren, sondern handfeste Opportunisten, die den | |
| Willen der Mehrheit vollstreckten - Beitritt zu Wohlstand und Freiheit, was | |
| wiederum dazu führte, dass die alten Teile der Bundesrepublik weiter | |
| stagnieren konnten, sie hatten ja gewonnen. | |
| Anstatt nun ein Denkmal für Einheit und Freiheit in Berlin oder anderswo zu | |
| errichten, sollte man lieber gemeinsam die permanent drohende Einschränkung | |
| der Freiheit verhindern. | |
| ANETT GRÖSCHNER ist Schriftstellerin und lebt in Berlin | |
| ***************************************************** | |
| Nein, wir würdigen sie nicht nur nicht genug, wir würdigen sie gar nicht. | |
| Doch zunächst: Die Mauer fiel nicht. Den Fall hätten jene bewerkstelligen | |
| können, die seit 1990 mit Preisen überhäuft werden: Helmut Kohl oder | |
| Michail Gorbatschow. Erhielt der eine irgendeine Auszeichnung, durfte sich | |
| der andere als Laudator spreizen. Und nicht zu vergessen Günter Schabowski. | |
| Zu Orden reichte es bei ihm nicht ganz, aber zur Begnadigung, zum | |
| CDU-Wahlkämpfer und zu Huldigungen durch so manche Dissidenten. | |
| Große Männer machen Geschichte - glauben viele. Tatsächlich sind diese den | |
| rasanten Entwicklungen genauso hinterhergerannt, wie Hunderttausende aus | |
| der Zone wegrannten und andere Hunderttausende zwar auch Freiheit wollten, | |
| aber dafür auf die Straßen rannten. Der Flüchtlingsstrom, die Demonstranten | |
| und ihre Sprachrohre, die Oppositionellen, erzwangen den Mauerdurchbruch. | |
| Schabowskis Pressekonferenz war kein Versehen, sondern der Versuch, Dampf | |
| aus dem Kessel abzulassen, um ihn wieder schließen und nach der alten | |
| Tagesordnung fortfahren zu können. Gorbatschow war nur der Zauberlehrling, | |
| der die Reformen, die er rief, nicht mehr loswurde. Und Kohl war nur der | |
| geschickteste Profiteur einer Entwicklung, auf die er nicht einmal nach | |
| vier Flaschen Rotwein im Kanzlerbungalow gekommen wäre. Niemand wäre darauf | |
| gekommen. Der große Lümmel war die Gesellschaft. | |
| Begraben wir also den Mythos, dass "große Männer" Geschichte machen. Sie | |
| sind immer Getriebene, in diesem Fall von den Gesellschaften Polens und | |
| Ungarns, dann auch der DDR. Sie wollten Freiheit. Die Einheit - | |
| Deutschlands wie Europas - war das Werk von Politprofis. Dafür können sie | |
| sich preisen, sollen sie doch. Aber nicht für die errungene Freiheit. Die | |
| führt nie ein Altmännerverein am Reißbrett herbei. Der Mauerfall ist ein | |
| zentrales Ergebnis, aber eben nur das Ergebnis des vorausgegangenen | |
| gesellschaftlichen Freiheitsstrebens. Ohne Freiheit keine Einheit. | |
| ILKO-SASCHA KOWALCZUK ist Historiker und freier Autor. | |
| 21 Aug 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| A. Gröschner | |
| I.-S. Kowalczuk | |
| ## TAGS | |
| Günter Schabowski | |
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