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# taz.de -- Shir Hever über soziale Ungleichheit: "Israel exportiert die Besat…
> Israel profitiert von der Besatzung der palästinensischen Gebiete und den
> internationalen Hilfen für die Palästinenser. Shir Hever über die
> Ursachen der sozialen Ungleichheit und die Rolle der Besatzung dabei.
Bild: Palästinensische Arbeiter warten im Juli 2003 am Grenzübergang Erez dar…
taz: Herr Hever, Sie behaupten in Ihren Publikationen, dass die israelische
Besatzung der palästinensischen Gebiete die Ungleichheit in der
israelischen Gesellschaft verstärkt habe. Wie kommen Sie dazu?
Shir Hever: 1965 war Israel eine Art Wohlfahrtsstaat, der zwischen Finnland
und den Niederlanden rangierte. Heutzutage gilt Israel neben den USA als
das westliche Land mit der größten Ungleichheit. Es unterscheidet sich
nicht sehr von Mexiko.
Was hat das mit der Besatzung zu tun?
Dass palästinensischen Arbeitern in Israel die grundlegenden Rechte
verwehrt wurden, hat die israelische Arbeiterklasse entrechtet und
entmachtet. Als Israel die Praxis der Abriegelungen begann, war die
heimische Industrie bereits dermaßen auf billige, ungelernte Arbeitskraft
angewiesen, dass man Gastarbeiter aus Ostasien, Afrika, Osteuropa,
Lateinamerika herbringen musste, um die palästinensischen Arbeiter zu
ersetzen. Andernfalls wären das gesamte Baugewerbe und die Landwirtschaft
zusammengebrochen.
Was meinen Sie damit, wenn Sie von der Vorenthaltung grundlegender Rechte
sprechen?
Israel behielt von palästinensischen Arbeitern Beiträge zur Sozial- und
Rentenversicherung ein sowie Steuern und gab ihnen nichts dafür. Das ist
eine andere Form der Ausbeutung. Wurden sie entlassen, erhielten sie keine
Abfindung, wurden sie arbeitslos, krank oder berufsunfähig, wurde ihnen
nichts gezahlt.
Die israelische Besatzung hat sich von Anfang an negativ ausgewirkt?
Anfangs waren die Grenzübergänge offen, sodass die Palästinenser weiterhin
Handel mit Jordanien und Ägypten betreiben konnten. Israel erlaubte es
palästinensischen Arbeitern, nach Israel zu kommen und zu arbeiten.
Israelischen Touristen wurde es gestattet, ins Westjordanland und nach Gaza
zum Einkaufen zu fahren. Im ersten Jahr nach der Besatzung verbesserte sich
deshalb die wirtschaftliche Lage in den besetzten Gebieten. Es gab sogar
Programme, palästinensischen Bauern zu helfen, ihre Bewässerung zu
verbessern.
Das klingt nicht feindlich.
Ja, aber zugleich gab es ein ungeschriebenes Gesetz, die Palästinenser an
der Entwicklung ihrer eigenen Wirtschaft derart zu hindern, dass sie nicht
mit der israelischen Industrie konkurrieren konnte. Von Anfang an wurde es
den Palästinensern nicht erlaubt, ein eigenes Finanzsystem zu schaffen oder
Schwerindustrie aufzubauen.
Welche anderen Formen der Benachteiligung durch Israel gab es?
1991 war der erste Golfkrieg. Da hofften viele Palästinenser auf einen Sieg
von Saddam Hussein. Als sie diese Meinung äußerten, erzürnte das die
israelische Regierung. Diese entschied, das palästinensische Volk als
Ganzes zu strafen, indem sie die ersten Abriegelungen verhängte.
Was hatte das für Folgen?
Wegen der Abriegelungen waren die Palästinenser willens, das
Paris-Protokoll zu unterzeichnen, der wirtschaftliche Anhang zum
Oslo-Abkommen. Das legte eine Art Zollunion unter Israels Kontrolle fest.
Das heißt, dass Israel alle Zollgebühren und die Mehrwertsteuer für die
palästinensische Wirtschaft erhebt, um dann dieses Geld an die
Palästinensische Autonomiebehörde weiterzuleiten. Israel tut das manchmal,
manchmal aber auch nicht. In diesem Vertrag gibt es auch eine Klausel, die
besagt, palästinensische Arbeiter dürften jederzeit nach Israel reisen und
dort arbeiten. Israel setzte diese Klausel nie in die Tat um.
Wie ist derzeit, 15 Jahre nach Oslo, die wirtschaftliche Lage in den
besetzten Gebieten?
Die Arbeitslosigkeit ist im Steigen begriffen. Es gibt immer noch keine
industrielle und finanzielle Infrastruktur. Seit den Oslo-Abkommen gibt es
eine neue Einkommensquelle, die die Menschen am Leben erhält, und das ist
internationale Unterstützung: die Hilfen aus dem Ausland. Sie tragen seit
1994/95 vielleicht am meisten zur palästinensischen Wirtschaftsleistung
bei. Im Jahr 2003 stellte sie die Hälfte des Bruttovolkseinkommens der
palästinensischen Wirtschaft dar.
Können denn die ausländischen Gelder und Hilfslieferungen den
Lebensstandard der Palästinenser sichern?
Eine sehr traurige Seite dieser Hilfeleistungen ist: Sie verbessern die
Lage der palästinensischen Wirtschaft überhaupt nicht, sodass heute, 2009,
der Lebensstandard der Palästinenser niedriger ist als vor zehn Jahren.
Diese Unterstützung ist nicht imstande, die Lage der Palästinenser zu
verbessern, da der größte Teil in die israelische Wirtschaft fließt.
Wieso denn das?
Zuerst müssen alle Hilfslieferungen in israelischen Häfen oder am Flughafen
abgefertigt werden. Zollgebühren und Lagerkosten werden an die israelische
Regierung gezahlt. Dann müssen die Waren auf israelischen Lastwagen
transportiert werden, bevor sie an die Palästinenser übergeben werden.
Wegen des Paris-Protokolls ist es in der Tat günstiger für die
Hilfsorganisationen, die Lebensmittel von israelischen Firmen direkt zu
kaufen, obwohl sie in Jordanien und Ägypten billiger sind. Aber dann
müssten sie Zölle bezahlen.
Israel profitiert also von der Besatzung?
Seit 1996 hat Israel sein früheres Außenhandelsdefizit in einen Überschuss
verwandelt. Denn all die Hilfsgelder für die Palästinenser müssen von Euro
und Dollar in israelisches Geld umgetauscht werden. Daher bekommt die
Zentralbank von Israel eine Menge ausländische Währungen und verkauft den
ausländischen Spendern dafür israelische Schekel. Die Folge davon ist, dass
Israel gewissermaßen einen Weg gefunden hat, die Besatzung zu exportieren.
Man kann sagen, dass die Besatzung der palästinensischen Gebiete Israels
zweitgrößter Exportartikel nach der Waffenindustrie geworden ist.
Können Sie uns Zahlen nennen über den wirtschaftlichen Verlust für die
Palästinenser durch die Besatzung?
Das ist ein sehr heikles Thema, den Einkommensverlust wegen der Zollunion
zu ermitteln, die Ausbeutung palästinensischer Arbeiter, die Enteignung von
Land, den Verlust der Flüchtlinge von 1948 und von 1967, den Verlust durch
Hauszerstörungen. Und wie will man eigentlich den Verlust von Leben oder
den Verlust an Gesundheit für die Palästinenser berechnen?
Verursacht die Besatzung nicht auch Kosten?
Bis zur ersten Intifada 1987 hat die israelische Wirtschaft ganz klar von
der Besatzung profitiert. Seither haben die Palästinenser Israel in der Tat
gezwungen, mehr Geld in die Sicherheit zu investieren. Seit den
1980er-Jahren ist die Besatzung für die israelische Wirtschaft eine immer
größer werdende Last geworden, da Israel mehr Soldaten einsetzen muss, mehr
Ausrüstung, Kameras, Zäune.
Und was kostet die Aufrechterhaltung der Besatzung den Staat Israel?
Das ist schwer zu beziffern, aber meiner Schätzung zufolge kostet die
Besatzung Israel pro Jahr etwa neun Milliarden US-Dollar. Davon entfallen
etwa drei Milliarden auf staatliche Beihilfen an Siedler, da Israel die
Siedlungen subventioniert. Siedler erhalten bessere Bildung, gratis Land
und bezahlen weniger Steuern. Es gibt eine Liste an Subventionen, mit denen
Israel es Israelis schmackhaft macht, in die besetzten Gebiete zu ziehen
und Siedler zu werden.
Was wäre Ihr Wunsch an die ausländische Politik, an Deutschland, an die
Europäische Union?
Die EU muss viel strenger mit Israel sein. Die Europäer müssen aufhören, so
viel Angst zu haben. Ich meine, sie sind in der Lage, die Besatzung sofort
zu beenden, dazu gehört gar nicht viel.
Was schlagen Sie vor?
Zuerst sollten Israelis ein Visum benötigen, um in die Europäische Union
einzureisen. Israelische Kriegsverbrecher sollten vor Gericht gestellt
werden, wenn sie auf europäischem Boden landen. Israels Handelsvorteile
sollten aufgehoben werden, bis es die Mindestanforderungen des
internationalen Rechts erfüllt.
Ein Boykott?
Wir sprechen nicht über einen vollen Boykott, den ich im Übrigen
unterstütze. Was ich gesagt habe, ist bereits ausreichend, um Israels
Politik zu ändern. Denn Israel ist sehr von Europa abhängig. Wenn die Elite
in Israel - die Reichen, die am meisten zu verlieren haben und die am
meisten Einfluss auf die Regierung haben - der israelischen Regierung sagt:
Wegen eurer Taten können wir keine Geschäfte mehr in Europa machen, deshalb
verlegen wir unsere Firmenzentrale in ein anderes Land, dann wird die
israelische Regierung ihre Politik augenblicklich ändern.
31 Aug 2009
## AUTOREN
Johannes Zang
## TAGS
Israel
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