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# taz.de -- Porträt "Hitlerjunge Salomon": Tödliches Misstrauen
> Der Jude Salomon Perel überlebte die Schoa als "Josef Perjell" in der
> Hitlerjugend. Heute ist seine Geschichte sehr gefragt. Deshalb zieht er
> durch die Schulen und schafft neue Zeitzeugen.
Bild: Ausgerechnet eine krasse Unwahrheit, eine spontane Notlüge, rettete Pere…
Duschen war lebensgefährlich. Jupp wählte - er hatte Glück, denn es gab
keine Gemeinschaftsdusche - möglichst die Duschkabine in der Ecke, mit
einem Kleiderhaken an der Wand. Dort zog er sich schnell aus, seinen
Kameraden den Rücken zukehrend, und hüpfte in seine Kabine.
Ordentlich Schaum musste er machen, was schwer war mit dieser Seife. War
die letzte Duschkabine schon besetzt, zog Jupp seine Unterhose erst unter
der Dusche aus. Aber auch das war gefährlich, weil es Misstrauen säte.
Tödliches Misstrauen. Hätten seine 17- oder 18-jährigen Kameraden gesehen,
dass ihr Kumpel beschnitten ist, wäre das sein Todesurteil gewesen.
Es sollte in diesen Jahren des Krieges keinen Juden mehr in Deutschland
geben, keinen in ganz Europa. Und erst recht nicht hier: in der Akademie
für Jugendführung der Hitlerjugend in Braunschweig.
Ein absurdes Heldenepos
Das Schicksal des jungen Juden Salomon ("Sally") Perel, der getarnt als
Hitlerjunge Josef oder Jupp Perjell den Holocaust überlebte, gehört wohl zu
den verrücktesten Geschichten, die das 20. Jahrhundert zu erzählen hat. Es
ist ein Heldenepos voller Tragik und Brutalität, Absurdität und
Menschlichkeit, vergleichbar am ehesten dem Simplicissimus des Hans Jacob
Christoph von Grimmelshausen aus dem Dreißigjährigen Krieg.
Seit fast 20 Jahren erzählt Sally Perel diese, seine unglaubliche
Geschichte. Zuerst erschien seine Autobiografie 1990 auf Französisch, dann
auf Hebräisch, schließlich auf Deutsch und Englisch. Unter dem Titel
"Hitlerjunge Salomon" wurde sie 1990 von Agnieszka Holland verfilmt. Etwa
zweimal jährlich, und gerade jetzt wieder, ist Perel auf Lesereise, meist
in Schulen.
"Die Nachfrage nach mir", sagt er mit leichter Ironie, "ist kolossal. Ich
könnte eigentlich zwölf Monate 24 Stunden hier in Deutschland sein." Das
überrascht ihn. Ursprünglich dachte er, das Interesse an seiner Geschichte
würde im Laufe der Zeit abnehmen - doch das Gegenteil ist der Fall: "Das
Interesse nimmt immer mehr zu." Warum? "Vielleicht weil in der Geschichte
so viel drin ist. Ich war auf beiden Seiten, ich war Opfer und Täter -
zumindest für die Opfer. Und ich erzähle die Wahrheit."
Die Wahrheit - das hat bei Perel eine besondere Note, denn ausgerechnet die
krasse Unwahrheit, eine spontane Notlüge, rettete sein Leben. Geboren 1925
im niedersächsischen Peine, wanderte er mit seiner Familie 1935 nach Polen
aus, um der Judenverfolgung der Nazis zu entkommen.
Als 1939 Deutschland den westlichen Teil Polens eroberte, floh Perel mit
seinem Bruder ins östliche Polen, das im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes von
den Sowjets besetzt worden war. "Den Eltern war klar: Es ist ein Abschied
für immer", erzählt Perel. Die letzten Worte seiner Mutter an ihn waren:
"Du sollst leben!" Er habe dies als einen "Befehl" gesehen, der ihm stets
Kraft gegeben, ja das Leben gerettet habe, sagt er.
Als die Nazis 1941 auch den östlichen Teil Polens und damit die Sowjetunion
angriffen, wurde Perel gefangen genommen - und er durchlebte die
"entscheidende Minute meines Lebens". Gefragt, ob er Jude sei, antwortete
Perel: "Ich bin kein Jude, ich bin Volksdeutscher." Alles, was danach
folgte, ergab sich aus dieser Lüge, aus der Verleugnung seiner Identität.
Manche Holocaust-Überlebende schildern ihr Gefühl von Schuld, weil sie
überlebt haben. Perel ist dies fern: "Ich habe keine Schuldgefühle. Ich
habe keinen Grund, mich bei irgendjemandem dafür zu entschuldigen, dass ich
überlebt habe." Denn: "Ich habe mein Leben nicht auf Kosten anderer Leben
gerettet - und es gab solche Fälle. Ich wusste, ich musste so handeln, um
zu überleben. Und das Schicksal hat mir diesen Überlebensweg einfach
vorgegeben. Die Initiative lang ja nicht bei mir. Ich war eher Statist.
Jeder würde so handeln."
Ein provisorisches Leben
Zwei Mal flog Perels Lüge auf. Zunächst an der Front in seiner Zeit als
Dolmetscher bei der 12. (Pommerschen) Panzerdivision der Wehrmacht.
Russisch hatte er in seiner Zeit im sowjetisch besetzten Teil Polens
gelernt. Heinz Kelzenberg, ein schwuler Sanitätsoffizier, den er mochte,
näherte sich eines Tages Perel, während der sich in einem Bauernhaus wusch.
Überrascht über diese Annäherung, die eher dem Versuch einer Vergewaltigung
glich, so erinnert sich Perel, sprang er zur Seite, so dass Kelzenberg ihn
auch von vorne nackt sehen konnte - seine Tarnung war dahin. Doch
Kelzenberg reagierte auf den wechselseitigen Schock unerwartet: "Ich tue
dir nichts und verrate auch dein Geheimnis den andern nicht", sagte er.
"Weißt du, es gibt noch ein anderes Deutschland." Dies war, so erinnert
sich Perel, "ein Moment der wahrsten Menschlichkeit". Wenig später fiel
Kelzenberg vor Leningrad - er starb in den Armen Perels. "Ich fühlte mich
als doppelte Waise", sagt er.
Ein zweites Mal wurde Perel während seiner Zeit in der HJ enttarnt. Er war
auf die HJ-Schule empfohlen worden und konnte die Aufnahme in diese
Kaderschmiede ohne triftigen Grund nicht ablehnen. Perel verliebte sich zu
dieser Zeit in Leni Latsch, ein BDM-Mädel - und Leni erwiderte seine Liebe.
Sehr viel mehr als heftiges Küssen konnte er sich mit Leni nicht erlauben.
Ausgerechnet die Mutter Lenis leitete Perel mit einer gezielten Frage unter
vier Augen dorthin, sich als Jude zu outen. Ein Moment der Schwäche. Und
auch hier hatte Perel Glück. Lenis Mutter, eine gläubige Katholikin, küsste
ihm nach seinem Geständnis auf die Stirn, versicherte, die Sache für sich
zu behalten - und ermahnte Perel sogar, ihrer Tochter Leni, seiner
Freundin, nichts zu erzählen. "Die Kinder sind heutzutage so ganz anders",
sagte sie nur.
Es sind diese Momente der Menschlichkeit, die die Ohren und Herzen für die
Geschichte Perels gerade bei jungen Menschen öffnen - wenn er in Schulen
liest, hören ihm hunderte Jugendliche gespannt zu, eine Erfahrung vieler
Zeitzeugen. Und Perel bleibt meist keinerlei Erklärung schuldig. So erzählt
er völlig entspannt, wie er in der HJ-Schule vergeblich versuchte, seine
Vorhaut mit Wollfäden zu verlängern. Bis er den Versuch abbrach, weil sich
alles entzündete.
Perels Geschichten bewegen sich häufig auf dem schmalen Grat zwischen
Horror und Komik. Eines Tages rief ihn der Lehrer im Rassekunde-Unterricht
an der HJ-Schule nach vorne an die Tafel. Perel glaubte schon, als Jude
enttarnt zu werden. Doch der Rasse-Experte verkündete: "Schaut euch alle
Josef an! Er ist ein typischer Abkömmling der ostbaltischen Rasse." So viel
zur NS-Rassekunde.
Perel erzählt von dem "Gift" der NS-Ideologie, dem er als junger Mann in
der HJ-Schule ausgesetzt war - und wie es selbst bei ihm zu wirken begann.
"Ich war sogar etwas traurig, dass Deutschland den Krieg verloren hat",
erinnert er sich an die ersten Nachkriegstage. Perel geht sogar noch etwas
weiter, bekennt sich heute zu einer gewissen Schizophrenie: "Solange ich
den Hitlerjungen in mir trage, liebe ich ihn auch."
Diese Erfahrung, dass es den Nazis fast gelang, ihn als jungen Mann von
ihrer hasserfüllten Ideologie zu überzeugen - diese Erfahrung treibt Perel
heute an. Immer wieder sagt er, man müsse die jungen Menschen zu kritischem
Denken erziehen, auch deshalb tourt er mit seiner Geschichte so oft durch
Schulen. Er sagt den Schülern: "Ich komme nicht, um Schuldgefühle zu
wecken. Ich komme nicht, um euer Gedächtnis mit der vollen Wahrheit zu
beschweren, sondern um den Verstand zu erleuchten."
Das ist mächtig pathetisch, aber die jungen Menschen verstehen es recht. Es
ist, als verbinde den 84-Jährigen ein unsichtbares Band mit den jungen
Leuten, die sieben Jahrzehnte jünger sind als er. "Sehr oft kommen nach
meiner Lesung Schülerinnen - meist Schülerinnen - mit Tränen in den Augen
zu mir und bitten: ,Herr Perel, verzeihen Sie uns.' Erst einmal weine ich
da mit. Und ich sage noch: ,Ich verzeihe nicht, weil ich euch nichts zu
verzeihen habe.'" Das ist Perel wichtig: "Schuld ist nicht erblich."
Gleichwohl hat das Geschehen Folgen noch heute - und die sieht Perel
zuallererst für sich: "Ich verbinde meine Überlebensgeschichte mit den
nötigen Konsequenzen für heute: für den Frieden. Für Völkerverständigung.
Das ist für mich eine logische Folge des Holocaust", betont er. Konkret
heißt das: "Ich bin in der israelischen Friedensbewegung", sagt Perel. "Ich
bin dafür, dass die Palästinenser einen eigenen Staat bekommen."
Nicht wenige Holocaust-Überlebende finden gerade am Ende ihres Lebens zu
einer natürlichen Radikalität und grenzenüberschreitenden Humanität, die
atemberaubend ist. Und vielleicht bedingt sich alles drei ja auch: eine
radikale Menschlichkeit kurz vor dem Ende. Auch Perel weicht der Erkenntnis
nicht aus, dass bald die mündliche Überlieferung durch die Überlebenden des
Holocaust enden wird. Aber: "Das motiviert mich auch. Ich sage immer den
Schülern, wenn ich gehe: ,Ich hoffe, ich habe neue Zeitzeugen gewonnen. Ihr
sollt sie sein. Damit beauftrage ich euch. Überliefert es weiter!'"
Salomon, Josef, Sally, Jupp, erzähl deine Geschichte noch einmal! Und immer
wieder! Immer wieder!
6 Oct 2009
## AUTOREN
Philipp Gessler
Philipp Gessler
## TAGS
Holocaustüberlebende
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Zum Tod von Sally Perel: Er ging, um zu leben
Sally Perel trat als Jude in die Hitlerjugend ein, um unter Nazis zu
überleben. Seine Geschichte behielt er jahrelang für sich. Danach machte er
Aufklärung zu seiner Mission.
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