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# taz.de -- die wahrheit: Aah, das Kleine ist da!
> Auf Nachwuchsbesichtigungstour im Jahr eins der Krise.
Bild: Sind die süß und zum Knuddeln niedlich und auch beinahe so echt wie die…
In diesem Jahr bekomme ich so viel Privatpost wie lange nicht mehr: Briefe
von Freunden, die auch anrufen oder eine Mail schicken könnten oder die ich
sowieso regelmäßig sehe - in den Briefen aber finde ich Fotos mit
Großaufnahmen neugeborener Kinder, versehen mit Namen, Daten, Gewichts- und
Größenangaben. Fehlt nur noch, dass eine CD mit einer Hörprobe oder eine
Stuhlprobe beiliegt.
Ich weiß auch nicht, was dieses Jahr los ist: Ich könnte mir ein T-Shirt
mit den Stationen meiner Baby-Besichtigungstour drucken lassen. Meine
Freunde Nikolai und Ole haben jeweils ihr erstes bekommen, Rolf und
Patricia die zweiten, dazu die Kolleginnen Inga und Mandy, Jan wird in
Kürze folgen. Dazu noch die Kinder, die in den vergangenen Jahren so
angefallen sind. Ich musste mir in meinem Kalender bereits eine Liste mit
Kindernamen anlegen, damit ich sie nicht durcheinander bringe. Teilweise
weiß ich nicht mal mehr, ob die Freunde nun einen Jungen oder ein Mädchen
haben, und nichts ist unangenehmer, als am Telefon zu stammeln: "Und, wie
geht es dem … äh, Kind?"
Aber mittlerweile habe ich mich zum regelrechten Babybesichtigungsprofi
entwickelt: Statt Blumen schenke ich alkoholfreien Sekt, was nicht nur
preiswerter ist, sondern mir auch anerkennende Blicke der Mutter einbringt:
Ah, da denkt jemand mit … Je nach Musikgeschmack der Eltern bringe ich eine
CD "Elvis für Babys" oder "Beatles für Babys" mit, gespielt vom
Spieluhrenorchester mit integrierten Geräuschen aus dem Mutterleib. Für die
musikalische Früherziehung.
Ich weiß Ah und Oh zu sagen und wie süß das Kind ist; ich weiß, welche
Fragen zu stellen sind: Wie viel Stunden schläft es am Stück? Hat es
Koliken? Wie kommt die große Schwester mit alldem zurecht? Ich weiß, dass
so ein Neugeborenes total anstrengend und die Selbstaufgabe unglaublich
ist, aber dass das alles natürlich wahnsinnig schön ist und sowieso das
Allerbeste, was einem im Leben passieren kann - eine echte Achterbahnfahrt
der Gefühle.
Ich kenne mich mit Krankheiten und Komplikationen aus: mit um den Hals
gelegten Nabelschnüren, plötzlichem Fieber, mit geplantem und
Notkaiserschnitt. Ich kenne die Vor- und Nachteile von Geburtshaus,
Krankenhaus, Hausgeburt, ich könnte die Intensivstation für Neugeborene
beschreiben, als hätte ich selbst dort gesessen. Ich tröste mit den ähnlich
schlimmen Geschichten anderer Eltern.
Ich zucke nicht mehr zusammen, wenn ein Freund die Brüste seiner Freundin
vor mir als "Milchtank" bezeichnet, oder wenn die Freundin sie unvermittelt
auspackt, um das Kind zu säugen. Ich bleibe höflich, wenn mir die jungen
Eltern wegen Übermüdung Dinge doppelt und dreifach erzählen. Allzu viele
Themen haben sie sowieso nicht: Sie gehen nicht mehr arbeiten, nicht ins
Kino, lesen nur noch Romane, denen man auch nach zwei Stunden Schlaf
intellektuell folgen kann. Oder Erziehungsratgeber mit Titeln wie "Die
besten Breie für Ihr Baby".
Die Gespräche führen wir in Fünf-Minuten-Häppchen - dazwischen wird
gestillt, gewickelt oder über Maßnahmen gegen die Blähungen des Kinds
diskutiert. Ich ahne bereits die Gesprächsthemen der nächsten zwanzig Jahre
voraus: Trotzphase, Unfälle, Kindergarten- und Schulwahl, irgendwann dann
Klauen, Kiffen und Komasaufen. Da kann ich dann auch wieder etwas zum
Gespräch beitragen.
Fragt sich nur, warum sich diese ganzen Geburten gerade in diesem Jahr
häufen. Sind das die Folgen des Elterngeldes? Ein neuer Konservativismus?
Der Von-der-Leyen-Effekt? Ein Freundin behauptete kürzlich, das sei die
Krise. Was ich nicht so ganz verstehe. Können sich meine Freunde keine
Kondome mehr leisten? Wollen sie vom Kindergeld leben? Ihre Rente retten?
Nein, einleuchtend ist das nicht, aber als These in Ordnung. Schließlich
bringen sich auch mehr Leute um, wenn die wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen gut sind - warum also nicht in Krisenzeiten Kinder
zeugen? Wahrscheinlich hat es aber mehr mit dem Alter zu tun: Mit Ende 30,
Anfang 40 ist es wohl an der Zeit.
Dumm nur, dass sich die Begleiterscheinungen auch auf mein Leben auswirken
- und sich nicht mit dem Besichtigen der Babys erschöpfen. Wenn ich am
Wochenende ausgehen will, muss ich das jetzt mit fünfzehn Jahre jüngeren
Kollegen tun und mit ihnen auf irgendwelche WG-Partys im ach so hippen
Berliner Bezirk Friedrichshain gehen. Aber vielleicht lerne ich dort ja
eine Studentin kennen, mit der ich auch in zehn Jahren kein Kind bekommen
kann. Mit diesem Planungshorizont kann ich leben.
28 Oct 2009
## AUTOREN
Philip Meinhold
## TAGS
Kolumne Kinderspiel
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