# taz.de -- Günther Oettinger geht nach Brüssel: "Er hat die falschen Freunde" | |
> Pizza-Affäre, Filbinger-Eklat, Teesieb-Brillen-Fotos - und jetzt auch | |
> noch EU-Kommissar? Die Karriere des baden-württembergischen | |
> Ministerpräsidenten. | |
Bild: Günther Oettinger ist viel geselliger und lockerer als es den Anschein h… | |
Unionskollegen, die sich um das Profil des schwäbischen Politikers sorgen, | |
bemerkten die wunderbare Wandlung sofort. Schnitzte sich bisher bei | |
unbequemen Themen in Günther Oettingers Miene stets ein starres Lächeln, | |
das empirische Kulturwissenschaftler von den Holzmasken der | |
schwäbisch-alemannischen Fasnet kennen, war es jetzt plötzlich | |
verschwunden. Wie weggebrüsselt. | |
Wo immer er seit der "Sensation" auftritt, wirkt der EU-Kommissar in spe | |
befreit, gelöst und fast ein bissle entrückt. "Der Günther ist sehr | |
erleichtert", diagnostizieren viele Parteifreunde. Und atmen selbst kräftig | |
durch. Der Günther ist sogar so gut drauf, dass er Witze reißt: "Wenn | |
irgendjemand argwöhnt, dies sei eine Abschiebung, kann ich nur darüber | |
lachen." | |
Oettingers Sinn für Humor ist in Brüssel noch nicht ganz angekommen. Allen | |
Ernstes stellt Nochkommissar Günter Verheugen in der EU-Hauptstadt "blankes | |
Entsetzen" über die Personalentscheidung der Kanzlerin fest. Seine Kollegen | |
würden sie als reine "parteiinterne Entsorgungsaktion" sehen. Und immer | |
mehr hochrangige EU-Parlamentarier äußern gar Zweifel, ob Oettinger | |
überhaupt in Brüssel ankommen wird. Wenn es gravierende Bedenken gegen | |
einen Kandidaten gebe, "ist das Parlament bereit, die Kommission | |
abzulehnen", orakelt selbst die stellvertretende EU-Parlamentspräsidentin | |
Silvana Koch-Mehrin, FDP, in düsterer Divergenz zur neuen schwarz-gelben | |
Herrlichkeit in Berlin. | |
Derartige Unkenrufe schmerzen die CDU-Familie im Musterländle. Ihre | |
schwarzen Granden stehen noch immer staunend vor dem Wunder von Berlin. Die | |
meisten hatten geahnt, dass Oettingers Tage als Ministerpräsident gezählt | |
sein würden, die Signale aus der Bundespartei waren in den vergangenen | |
Wochen immer deutlicher geworden. | |
Absturz auf 34,4 Prozent bei der Bundestagswahl, und das im CDU-Stammland | |
Südwest, Oettingers eigene Umfragewerte unterirdisch schlecht, das | |
Porsche-Desaster, sein Mehrwertsteuervorstoß vor der Wahl, weitere | |
Störfeuer, traumwandlerisch sicher gegen die Merkel-Linie, und - ja, | |
natürlich - der unvergessene und unvergessliche Fehltritt im Frühjahr 2007, | |
als er den ehemaligen NS-Marinerichter Hans Filbinger posthum zum | |
Widerstandskämpfer erklärte: Die Giftliste war lang geworden. Zu lang, | |
eineinhalb Jahre vor der Landtagswahl. | |
Wie aber in aller Welt, rätselten die schwarzen Granden in Stuttgart, | |
sollte das "Problem" Oettinger denn gelöst werden, ohne Brutus-Stoß, ohne | |
bleibenden Schaden fürs Ländle? Dann sprach sie, Dea ex Machina, in Berlin | |
das erlösende Machtwort: Der Günther geht nach Brüssel. Klar, wer sonst? | |
Roland Koch, der hessische Ministerpräsident? Oder gar Ursula von der | |
Leyen, eine bekannte Bundespolitikerin, wie EU-Präsident José Manuel | |
Barroso sie sich gewünscht hat? Nein, ein "politisches Schwergewicht" | |
musste es sein. Und das ist es jetzt ja auch, wie Angela Merkel im Brustton | |
tiefer Überzeugung verkündete. | |
Da wunderte sich die Republik. Denn von Politchronisten überliefert waren | |
bis dahin vorrangig kritische bis abfällige Merkel-Bemerkungen über | |
Oettinger. Oder vergiftete Lobhudeleien. Was keineswegs nur daran liegt, | |
dass er ihr beim Bundesparteitag in Stuttgart Ende 2008 ausgerechnet einen | |
Bausatz von Dübel-Fischer geschenkt hatte. Das Verhältnis galt seit Langem | |
als irreparabel. Doch bei der absoluten Mehrheit der Ländle-CDU brach | |
frenetischer Jubel aus - ob des "genialen Schachzugs" der Kanzlerin. | |
Günther Oettinger büffelt bald Fachenglisch. Bestens gerüstet will er sein | |
für das Brüsseler XL-Ressort Wirtschaft, das er mit dem Selbstbewusstsein | |
und dem neuen Lachen eines "politischen Schwergewichts" anstrebt. | |
Unwahrscheinlich, dass Mitglieder des EU-Parlaments vor seiner Anhörung bei | |
Porsche-Leuten ein Empfehlungsschreiben anfordern werden. Die sind bei der | |
Frage, wie effizient und präsent der Ministerpräsident im Machtpoker mit VW | |
und Christian Wulff gewesen sei, in 4,7 Sekunden von null auf hundert. Und | |
weg. Oettinger hat halt andere Stärken. Zum Beispiel kann er, und nur er, | |
ad hoc und freihändig den Schraubenbestand oder die durchschnittliche | |
Toilettenfehlzeit von Arbeitnehmern beim 12-Mann-Handwerksbetrieb Häberle & | |
Pfleiderer herbeten. Eine Kernkompetenz. Denn Baden-Württemberg ist eine | |
wichtige europäische Provinz. Und Oettinger wird auch in Brüssel | |
"Baden-Württemberger bleiben". Das wird die EU-Parlamentarier entsetzlich | |
freuen. | |
An seiner Sachkenntnis zweifelt kaum einer. Und dennoch, Günther Oettinger | |
ist wahrscheinlich der deutsche Politiker, der am meisten verkannt wird. | |
Dass im wilden Südwesten keiner schneller spricht als er, dürfte nördlich | |
von Heilbronn zwar bekannt sein; weniger aber seine rhetorische Raffinesse. | |
Die semantische Grobschlächtigkeit seiner frühen Phase, als er die | |
Frauen-Union der CDU noch mit der allzu schwulstigen Metapher | |
"Krampfadergeschwader" würdigte, ist längst überwunden. Inzwischen | |
formuliert er weitaus sensibler. Besonders gute Freunde lässt er bei | |
rauschenden Feiern schon mal mit dem schlanken Titel | |
"baden-württembergischer Meister des Seitensprungs" hochleben. Erst vor | |
Kurzem, in einer inspirierenden Abendrunde mit Journalisten in Stuttgarter | |
Halbhöhenlage, brach endgültig der Poet in ihm durch. Auf die | |
Porsche-kritische Berichterstattung angesprochen, hauchte es aus ihm, | |
metrisch gewandt: "Das ist die Erektion der Redaktion." | |
Völlig zu Unrecht wird der Miterfinder der "Schuldenbremse" als Spaßstopper | |
und nüchterner Technokrat gesehen. In Wirklichkeit ist Günther Oettinger | |
ein ungemein geselliger und lockerer Mensch. Manchmal vielleicht zu | |
gesellig. Ein Gespräch in Oettingers Heimat nahe Stuttgart: "Der Günther | |
isch ein großes politisches Talent", schwärmt ein Gerlinger Unternehmer, | |
der mit ihm schon in JU-Zeiten unterwegs war. "Aber er hat die falschen | |
Freunde." | |
Pikant, dass Oettinger noch vor wenigen Jahren zur opulenten US-Farm von | |
Klaus Birkel reiste - jenem schwäbischen Nudelkönig, dem das Land in den | |
90er-Jahren zwölf Millionen Mark Schadenersatz gezahlt hatte, obwohl seine | |
Teigwaren nachweislich mit ekliger Eierpansche versaut waren. Die | |
Ermittlerbeweise dafür hält die Landesregierung bis heute unter Verschluss. | |
Längst Geschichte schien jene "Pizza"-Affäre zu sein, die Oettinger in den | |
90er-Jahren bundesweit eine eher unerwünschte Bekanntheit beschert hatte. | |
Mafia-Fahnder ermittelten damals gegen einen kalabresischen Wirt wegen des | |
Verdachts der Geldwäsche und des Kokainhandels. Ein enger Freund | |
Oettingers, der einige tausend Mark an die CDU gespendet hatte. Obwohl der | |
Wirt 1999 in Italien freigesprochen wurde, steht sein Name in einem ganz | |
und gar unpoetischen Schrifttum: im aktuellen, Ende 2008 verfassten | |
Mafia-Bericht des deutschen Bundeskriminalamts (BKA) - als mutmaßliches | |
Mitglied eines Clans der kalabresischen Mafia-Organisation Ndrangheta. Vor | |
vier Jahren, so geht aus den vertraulichen Akten hervor, schauten Ermittler | |
diskret zu, als der Gastronom sich nahe Stuttgart mit einem sizilianischen | |
Mitglied der ehrenwerten Gesellschaft getroffen haben soll. "Vorbeugende | |
Bekämpfung", nennt dies ein hochrangiger Fahnder aus dem Bereich | |
organisierte Kriminalität. | |
Oettinger betont stets mit Nachdruck, dass er seit langem keinerlei Kontakt | |
mehr zu dem kalabresischen Wirt habe. Fatal nur, dass einige gute Freunde | |
des CDU-Politikers nach wie vor diese Beziehung lustig weiterpflegen, | |
darunter ein EU-Abgeordneter seiner Partei. Auch bei Festen der Tübinger | |
"Ulmia" greift man mitunter gerne auf die kulinarischen Dienste des | |
Kalabresen zurück - ausgerechnet in Oettingers eigener Studentenverbindung, | |
wo er seit Langem seine Geselligkeit so gerne ausgelassen pflegt, schon mal | |
die erste Strophe des Deutschlandliedes mitschmetterte und wo man Jubilaren | |
zuweilen eine Panzerfahrt schenkt. | |
Höhergestellte Vertreter der CDU-Familie wissen um das glückliche Händchen, | |
das Oettinger in seiner Freundschaftspflege hat. Auch in Berlin. Das Wort | |
von der "tickenden Zeitbombe" stammt aus diesen Kreisen. Doch Oettinger | |
direkt darauf anzusprechen verbot wohl der familiäre Sinn fürs Diskrete. | |
Der designierte EU-Kommissar wittert bei diesem Thema gern eine | |
"Rufmordkampagne" gegen sich. Womit er natürlich die Medienhyänen meint. | |
Nicht etwa Ermittler, die zuweilen fassungslos den Kopf schütteln: Fast zur | |
selben Stunde, als am Samstag vergangener Woche Oettingers "Beförderung" | |
bekannt wird, betritt jener kalabresische Gastronom, der im BKA-Papier so | |
unvorteilhaft genannt wird, das Flughafengebäude von Bari. Seine | |
Ferienanlage liegt 260 Kilometer südlich, am Ionischen Meer. Lachend geht | |
er auf einen Mann zu und begrüßt ihn herzlich. Man ist vertraut, man kennt | |
sich - aus Stuttgart. Der Gast ist ein langjähriger Freund von Günther | |
Oettinger. | |
Rufmord? Auf diesem heiklen Terrain hat Oettinger Kernkompetenz. Jedenfalls | |
seine direkte politische Entourage. Mit leichtem Schaudern erinnern sich | |
Journalisten noch heute daran, welche Investigationen ihnen aus seinem | |
Umfeld ans Herz gelegt wurden, als im Herbst 2004 sein "sachlicher und | |
fairer Wettbewerb" mit Annette Schavan um die Teufel-Nachfolge lief: Ob man | |
nicht mal recherchieren wolle, mit wem Frau Schavan im Hotel Tannenhof in | |
Isny saunieren war? Das erwartete Ergebnis wurde gleich mitgeliefert. | |
Politikstil auf höchstem Niveau. | |
Ironie des Schicksals: Ausgerechnet sein "Engagement" in Brüssel hat | |
Oettinger einmal fast ins politische Aus befördert. Die Tage im Spätherbst | |
2007 waren schon trist genug, als es selbst für den fettnapferfahrenen | |
Ministerpräsidenten ganz dick kam. Zunächst hatte er das Ende seiner Ehe | |
mit Inken auf dem Boulevard ausgerufen, worauf die ihm ansonsten freundlich | |
geneigte Landespresse in Baden-Württemberg ihm fast mit Liebesentzug | |
drohte. Und dann veröffentlichte Bild am Sonntag auch noch jenes legendär | |
gewordene Fotodokument von der Brüsseler Spitzen-Präsentation: Oettinger | |
mit Teesiebbrille auf der Nase und offenbar auch sonst in hochprozentiger | |
Verfassung, zur vorgerückten Stunde in der "Schwarzwaldstube" der | |
baden-württembergischen Landesvertretung in Brüssel. | |
Jetzt ist Günther Oettinger unser Mann in Brüssel. | |
31 Oct 2009 | |
## AUTOREN | |
Rainer Nübel | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
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