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# taz.de -- Angst im Orchester: Musiker auf Beta-Blocker
> Für junge Musiker ist das Probespielen für eine Orchesterstelle extremer
> Stress. Viele greifen zu Betablockern, um ihre Aufregung in den Griff zu
> bekommen.
Bild: Musiker müssen ruhig sein, auch wenn alles in ihnen zur Flucht ruft.
Am schlimmsten ist der Moment, wenn alles still ist. Wenn 60 Profimusiker
im Publikum sitzen und warten. Wenn Thomas vor dem Notenpult steht, sein
Horn anhebt und anfängt zu spielen. Irgendwann wollte er sie nicht mehr
aushalten, diese Aufregung, die den Körper beständig Adrenalin ausschütten
und nichts anderes spüren lässt als den Reflex, wegzurennen. Da hat er eben
zu Betablockern gegriffen. Ein Freund von ihm hat sie besorgt. "Ich habe
gedacht, ich brauche das", sagt Thomas, der seinen richtigen Namen nicht in
der Zeitung lesen will. Zweimal schluckt er die rosa Pille vor den
Probespielen. Einmal spürt er gar nichts, das nächste Mal fühlt er sich gut
und sicher - bekommt aber die Stelle nicht.
Mit Lampenfieber müssen sich junge Musiker regelmäßig auseinandersetzen:
Bewirbt man sich in einem Orchester, und sei es nur für ein befristetes
Praktikum, darf die versammelte Mannschaft zuhören und ihr Votum abgeben.
Entschieden wird nicht nur nach Qualität, sondern auch danach, ob es
menschlich passt. Manchmal bestimmt schon das "Hallo" den Ausgang der
Bewerbung. Einige Orchester lassen deshalb in der ersten Runde hinter dem
Vorhang spielen, der sogenannten Spanischen Wand. Nichts anderes soll die
Entscheidung beeinflussen als das Können des Bewerbers. Dass man das
Publikum nicht sieht, hilft aber auch nicht viel gegen das Lampenfieber.
Spielen und überzeugen muss man ja trotzdem. Einen Betablocker zu
schlucken, scheint da eine einfache Lösung.
Der Arzneistoff, der eigentlich gegen Bluthochdruck eingesetzt wird, dämpft
das Stresshormon Adrenalin und unterbindet so die körperlichen Auswirkungen
der Angst. Drei bis vier Stunden hält die Wirkung an, also ziemlich genau
die Dauer eines Orchesterdienstes. Körperlich können Betablocker nicht
abhängig machen, psychisch sehr wohl. Jeder Musiker, der ein Probespiel mit
der rosa Pille bestanden hat, muss sich langfristig fragen: Schaffe ich das
auch ohne Tabletten?
Die Angst vor der Angst meldet sich bei Thomas schon Tage vor dem wichtigen
Moment. Die Angst davor, die körperliche Kontrolle zu verlieren, die Angst,
nicht alles geben zu können, wenn es darauf ankommt. Und das sind fünf,
höchstens sieben Minuten, wenn man nicht gleich in der ersten Runde
rausfliegen will. "Man schläft meistens die Nacht davor schlecht, kann kaum
etwas essen", sagt Thomas. Er ist 32 und spielt seit drei Jahren in einem
Orchester, bewirbt sich aber nebenbei noch für andere Stellen. Manchmal
geht der Stress ein bisschen runter. Aber selbst während des Spielens
verschwindet nicht automatisch das Gedankenkarussell, das einen in den
Wahnsinn treiben kann: Was, wenn jetzt was passiert? Wenn mitten im Mozart
die Luft ausgeht? Wenn die Finger zittern, nicht schnell genug greifen?
Schwäche ist unerwünscht
"Man braucht sich nicht einzureden, dass das toll ist - es ist eine
schreckliche Situation", sagt Andreas Moritz, Orchestermanager an der
Komischen Oper Berlin, "man zieht sich ja innerlich nackt aus, wenn man auf
der Bühne steht." Er war selbst viele Jahre als Trompeter tätig, zuletzt
bei den Berliner Philharmonikern. Heute, auf der anderen Seite des
Vorhangs, kann Moritz offen darüber sprechen, dass er mit Mitte zwanzig
selbst einmal Betablocker genommen hat. Das Thema sei kein unwesentliches
Phänomen in Musikerkreisen, zugleich aber ein absolutes Tabu.
Vor allem unter Kollegen spricht man nicht darüber. Warum eigentlich, wenn
doch sich doch jeder mit Lampenfieber auseinandersetzen muss? "Weil das in
der Wahrnehmung der Person schwächt", sagt Moritz, "man glaubt, man wird
als waidwundes Wild angesehen, und möchte doch eigentlich überzeugen."
Gerade nach dem Studium, wenn Persönlichkeit und Vertrauen in das eigene
Können noch nicht so gefestigt sei, sind Musiker gefährdet, zu Betablockern
zu greifen. Gewonnen hat Moritz Probespiele nur ohne Medikamente und ist im
Nachhinein sehr froh darum. Auf diese Weise ein Vorspiel zu überwinden, sei
nicht gefährlich: "Viel schlimmer ist die Frage: Was dann?" Was passiert in
der nächsten Stresssituation, die unweigerlich mit dem ersten Konzert im
Orchester kommen wird? Wenn man seine Leistung, seinen Erfolg an
Medikamente bindet?
Sportler können sich von ihrer Nervosität in der Bewegung befreien. Musiker
müssen von der Grundhaltung ruhig sein, auch wenn alles in ihnen zur Flucht
ruft. Die Angst spielt sich nicht nur im Kopf ab, sondern auch im Körper:
Bläser klagen über einen trockenen Mund, Streicher über kalte, feuchte
Finger oder ein Zittern der rechten Hand, Pianisten über schwitzige Finger,
die sie auf den Tasten abgleiten lassen. Im besten Fall wandeln Musiker das
Adrenalin in positive Energie um, spielen sich frei von der Angst. Will das
auch nach wiederholtem Probespiel nicht klappen, ist oft der Schritt zum
Betablocker nicht mehr weit.
Medizinisch, nicht moralisch solle die Debatte um Betablocker bewertet
werden, findet Professor Eckart Altenmüller, Direktor des Instituts für
Musikphysiologie Hannover. In seine Praxis kommen ausschließlich
Berufsmusiker. Betablocker zu verschreiben gehört zu seinem Alltag: Rund 60
Prozent der Solospieler im Orchester, so Altenmüller, greifen sporadisch zu
diesem Arzneimittel. Gerade bei jungen Musikern, bei denen ein Probespiel
über die weitere Karriere entscheiden könne, hält er eine kurzfristige
Einnahme für vertretbar. "Man muss unterscheiden zwischen positivem
Lampenfieber und negativer Auftrittsangst", sagt er. Wenn der Leidensdruck
der Musiker zu groß werde, müsse man den Teufelskreis von Angst, negativer
Erwartungshaltung und misslingendem Probespiel unterbrechen. Betablocker
seien in solchen Fällen ein verträgliches Mittel ohne Nebenwirkungen.
Körperlich zumindest. Eine andere Frage ist, wie die Psyche auf Dauer damit
klarkommt, wenn Erfolg an den Konsum von Medikamenten gekoppelt wird.
Deshalb betont Altenmüller, Betablocker nur als kurzfristige Lösung, als
"Feuerwehr" zu empfehlen. Wenn jemand auch nach jahrelanger Routine mit
Aufführungssituationen nicht klarkommt, sollte er sich überlegen, ob
Musiker wirklich der richtige Beruf ist.
In der Kantine der Staatsoper Berlin ist um die Mittagszeit von Stress
wenig zu merken, man grüßt sich fröhlich, die Kollegen scherzen
untereinander. Beim Thema Betablocker kommt man schnell auf Bassam Mussad,
einen 24-jährigen Musiker aus Amerika, der als Solotrompeter schon viele
Konzerte hinter sich hat. "Bassam, du nimmst doch Betablocker", sagt ein
Mitglied des Orchestervorstands, "setz dich mal her und erzähl was
darüber." Bassam setzt sich dazu und berichtet. Ein bisschen erstaunt ist
er darüber, dass Betablocker in Deutschland so ein Tabuthema sind. Er nimmt
sie zwar nicht oft, die rosa Pillen, doch einmal im Vierteljahr kommt das
schon vor. Angefangen hat er damit nach einem Konzert in Georgia, USA, bei
dem ihm plötzlich schwindlig wurde. Das mulmige Gefühl verschwand nicht,
auch nicht beim nächsten Konzert. Seine Eltern, Apotheker, haben ihn
schließlich zu seinem Onkel, einem Arzt, geschickt, der ihm bis heute die
Tabletten verschreibt. "Mit Betablockern fühle ich mich nicht anders", sagt
Bassam, aber schwindlig sei ihm nicht mehr gewesen. So ganz ohne Zweifel
ist er aber dann doch nicht: "Die Frage ist, ob das ein medizinisches oder
ein psychisches Problem bei mir ist."
Amerika ist ein gutes Beispiel dafür, wie emotional aufgeladen die Debatte
über Betablocker ist und welche Paradoxien sie nach sich zieht. Einerseits
spricht man in den USA öffentlich und ohne Schamgefühle über den Konsum von
Tabletten. Andererseits erinnert sich jeder Musiker noch gut an den Fall,
der 2007 weltweit durch die Presse ging: Ruth Anne McClaine, Dozentin für
Flöte, wurde am Rhodes College in Memphis fristlos gekündigt, weil sie
ihren Studenten zur Einnahme von Betablockern geraten hatte. An deutschen
Hochschulen kommt man bei diesem Thema auch auf keinen gemeinsamen Nenner.
Einige Professoren raten zu Betablockern, weil sie selbst damit positive
Erfahrungen gemacht haben. Andere wiegeln ab: "Da musst du doch keine Angst
haben", heißt es dann.
Es gibt kleine Fortschritte
Öffentlich gesprochen wird über Lampenfieber und Strategien dagegen noch
viel zu wenig. Erst allmählich steht nicht nur die musikalische, sondern
auch die mentale Vorbereitung für Probespiele auf dem Stundenplan. An
einigen Universitäten geben bekannte Auftrittscoaches Seminare, und auch
aus anderen Disziplinen holt man sich Hilfe: Sportpsychologin Ulrike Klees
gibt beispielsweise an der Musikhochschule Würzburg Kurse. Betreute sie
früher die Frauen des deutschen Schwimmnationalteams, hilft sie heute
Musikstudenten, mit ihren Ängsten umzugehen.
Thomas war bei seinem ersten Probespiel komplett überfordert: "Ich habe
mich überhaupt nicht vorbereitet gefühlt." Ein Fortschritt zu seiner
Hochschulzeit ist es zumindest einmal, dass Lampenfieber langsam öffentlich
diskutiert wird. Mit seiner Angst fühlt man sich immer ein bisschen allein.
"Man denkt, man ist ein Sonderfall", sagt Thomas, "aber im Grunde geht es
fast allen so, die auf der Bühne stehen und nur das Instrument als Mittel
zum Zeigen haben."
3 Nov 2009
## AUTOREN
Franziska Langhammer
## TAGS
Lübeck
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